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Die Rechtsstellung der politischen Parteien und das Wahlrecht in Ungarn

Der Rechtsstellung d e r Parteien, kurz gesagt d em Verhältnis d e r Parteien zu den staatlichen O rganen, kann man sich von zwei Seiten aus n äh ern . Z u m einen kann man die Parteien unter dem A sp ek t des Vereinsrechts, das die G rü n d u n g von Par- teien sowie die staatlichen Eingriffsbefugnisse zum G e g en sta n d h at, betrachten.

Zum anderen ist die Rolle zu u n tersu c h en , die die Parteien im R a h m e n des Funktio- nierens des Staates spielen, was, wenn auch nicht ausschließlich, so doch letzten En- des ihre Teilnahme an der A rbeit d e r V ertretungsorgane und hiermit auch an d e r A rbeit der Regierung betrifft. D iesem zweiten Bereich ist d e r auch imTitel

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chene Überblick über die Rechte d e r Parteien im R a h m e n d e r K reation d e r Vertre- tungsorgane gewidmet.

Z u m ersten Fragenkomplex sei nur soviel gesagt, d aß in U ngarn bei d e r Herausbil- dung der politischen Strukturen eines M ehrparteiensystem s als erstes ein Vereinsge- setz (G esetz Nr. 11/1989) verabschiedet w urde, das sich jedoch nicht auf die Parteien erstreckte. In der Begründung des G esetzes durch den Minister w urde jedoch bereits die Absicht d e r Regierung deutlich, dem Parlam ent einen speziellen G esetzent- wurf über die Rechtsstellung d e r Parteien vorzulegen. Dieses G e se tz , das G esetz Nr. XXXIII/1989 über die Tätigkeit und die W irtschaftsführung d e r P arteien, wurde dann im O k to b e r 1989 verabschiedet.

Damit ist Ungarn in die Reihe je n e r L ä n d e r g etrete n , die sich für eine spezielle Re- gelung der Rechtsstellung der Parteien entschieden h aben. D e r G ru n d dafür ist in Ungarn eindeutig. Im Frühjahr wollte die R egierung den Prozeß d e r U m w andlung verlangsamen, um ihn praktikabler gestalten zu können. D eshalb faßte sie den Ent- schluß, das Partei- vom Vereinsrecht zu tren n en .

Das Parteiengesetz selbst sprengt u n ter dem G esichtspunkt d e r Regelungsart den üblichen R ahm en des Vereinsrechts nicht. Spezifische Regelungen existieren jedoch insofern, als am Arbeitsplatz keine Parteien organisiert w erden dürfen und die akti- ven A ngehörigen d e r Streitkräfte und d e r Polizei keine führenden P arteiäm te r be- kleiden dürfen. Schließlich werden spezifische und relativ detaillierte Vorschriften über das Vermögen der Parteien, ihre W irtschaftsführung und die Publizität aufge- stellt. Das Parteiengesetz behandelt die P arlam entsw ahlen grundsätzlich nicht. Eine A usnahm e besteht nur insoweit, als ein G ericht das A ufhören des B estehens einer Partei feststellen kann, wenn eine Partei bei zwei aufeinanderfolgenden Parlam ents- wählen keinen Kandidaten nominiert hat.

Was die Wahl d e r P arlam en tsab g eo rd n eten anbelangt, basiert das G esetz Nr. XXXIV/1989 eindeutig auf dem M ehrparteiensystem .

Das G esetz benennt drei A rten d e r M andatsvergabe.

1. M a n d ate können in 176 persönlichen (individuellen) Wahlkreisen e rw o rb e n wer- den. Theoretisch können hier von Parteien u n terstü tzte o d e r nicht u n terstü tzte K andidaten antreten. Nominiert ist, wer m indestens 750 sogenannte E m p feh - lungsabschnitte für sich sammeln konnte. Von den B ew erbern erhält derjenige

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das M andat - sofern m eh r als 50% d e r Stim mberechtigten ihre Stimme abgege- ben haben - , der m ehr als die Hälfte d e r abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereint (absolute M ehrheit).

Wenn dies im ersten Wahlgang keinem B ew erb er gelungen ist, wird die Wahl in einem zweiten Wahlgang wiederholt. H ie r reicht eine Wahlbeteiligung von 25%

der Stimmberechtigten aus. Z u m zweiten Wahlgang sind die B e w erb e r zugelas- sen, die im ersten Wahlgang m indestens 15% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnten. M indestens zuzulassen sind indes die drei B e w e rb e r mit den meisten Stimmen. Im zweiten Wahlgang ist gew ählt, wer die meisten Stimmen erhält (relative M ehrheit).

2. Ein M andat kann ferner über die territorialen Listen (Komitatslisten) errungen werden. Die Zahl d e r hierüber zu vergebenden M an d ate beträgt im ganzen Land 156. Komitatslisten können n u r P arteien einreichen, die m indestens in einem Viertel d e r individuellen Wahlkreise des betreffenden Komitats einen B ew erber nominieren konnten.

Hier geben die Stimmberechtigten ihre Stimme einer Partei; sie stimmen für die von der Partei aufgestellte Liste. Die Liste ist g eb u n d en , das heißt, die auf der Liste stehenden Namen o d e r deren Reihenfolge k ö n n en nicht geändert werden.

M andate entfallen auf die Parteien im Verhältnis zu den erru n g e n e n Stimmen.

Voraussetzung ist aber, daß die Partei im L andesm aßstab m indestens 4% d e r ab- gegebenen Stimmen erhalten hat. Dies ist bei den Parlam entsw ahlen vom Früh- jah r 1990 sechs Parteien gelungen.

3. M andate können schließlich ü b e r die Landeslisten d e r Parteien erw o rb e n wer- den. Auf die Landesliste entfallen 58 M andate. Eine derartige Liste können nur Parteien aufstellen, die in m indestens sieben der 20 G eb iete - 19 K om itate und die H auptstadt Budapest - eine (Komitats-)Liste aufstellen konnten. Diese Vor- aussetzung haben im Frühjahr 1990 zwar 12 Parteien erfüllt, infolge d e r 4-%- Klausel sind letztlich jedoch n u r auf sechs Parteien M a n d ate entfallen. Denn auch hier gilt die Regel, daß nur die Partei über die Landesliste M an d ate erhalten kann, die im Landesm aßstab m indestens 4% d e r ab g eg eb e n en Stimmen erhalten hat. Mit dieser Liste w erden die sogenannten R eststim m en berücksichtigt, d.h.

die Stimmen, die zwar für eine Partei abgegeben worden sind, dieser jedoch zu keinem M andat verholfen h aben. Reststimm en k ö n n en sich sowohl in den indivi- duellen Wahlkreisen als auch hinsichtlich der Komitatslisten ergeben. Die 58 M andate werden auf die Parteien nach dem Verhältnis d e r auf sie entfallenden Reststimmen verteilt.

Das vorstehend beschriebene Wahlsystem verfolgt vier Ziele.

1. Die Parteien und Schöpfer des G esetzes wollten ein Wahlsystem schaffen, das je- d e r Partei ermöglicht, das A u sm aß ihrer gesellschaftlichen U n terstü tzu n g unter Beweis zu stellen. Diesem Ziel sollte die Komitats- bzw. H auptstadtparteiliste dienen.

2. Des weiteren sollte ein Wahlsystem etabliert w erden, das imstande ist, die aus der Direktwahl in den individuellen Wahlkreisen folgende D isproportionalität zu mil- dern. Eine gerechtere Verteilung der M andate nach dem Stim m enverhältnis der Parteien sollte mittels der K om itats־ u nd H auptstadtlisten sowie d e r Aufstellung einer auch die Reststimmen berücksichtigenden Landesliste erreicht werden.

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3. Die Parteien wollten ein Wahlsystem schaffen, das imstande ist, die sehr zerglie- derte P arteienstruktur zu konzentrieren, womit in der Praxis die großen Parteien begünstigt w erden und d e r Einzug kleiner Parteien ins Parlament verhindert wird.

4. Schließlich sollten - wobei die nichtentwickelte politische S truktur der Gesell- schaft bedacht w urde - neben der Vertretung durch die Parteien die Vorzüge der individuellen Wahlkreise beibehalten und damit jedem einzelnen Wahlkreis, unab- hängig von d e r - u.U. nur relativ geringen - Zahl von Wahlberechtigten, ein Ab- geordneter zugesprochen werden.

Eine Existenzberechtigung der parallelen Beibehaltung des individuellen und des Listenwahlsystems besteht n u r dann, wenn diese bei der Kreation derVertretungsor- gane unterschiedliche Funktionen erfüllen. G ru n d dieser Konstruktion war im Herbst 1989 anscheinend die noch mangelnde gesellschaftliche A kzeptanz der Par- teienstruktur. Es sollte also einerseits eine Abstimmung über Parteien erfolgen (Listenwahl), andererseits m ußte es gestattet w erden, daß die gesellschaftlichen Bestrebungen nicht n u r von den Parteien, sondern auch von individuellen Kandida- ten zum Ausdruck gebracht werden können.

Im Gegensatz zu diesen Bestrebungen hat das Gesetz - mit anderen Mitteln - auch die individuellen Wahlkreise sehr ״ verparteilicht“ . So wurden die Parteien in den in- dividuellen Wahlkreisen zur Nom inierung von Kandidaten gedrängt, um die Aufstel- lung von Komitatslisten zu erreichen. D e n n nur eine Partei, die in individuellen Wahlkreisen in e n ts p re c h e n d e r Zahl K andidaten nominieren konnte, kann eine Par- teiliste aufstellen. Diese ״Verparteilichung“ wurde dadurch verstärkt, daß die in den individuellen Wahlkreisen erfolglosen Stimmen als Reststimmen zählen, die dann über die Landesliste den Parteien zugute kommen. Die bereits erw ähnte 4-%-Klau- sei hatte auch die kleinen Parteien dazu veranlaßt, überall Kandidaten aufzustellen, weil sie sich einmal größere Chancen hinsichtlich des Erreichens d e r 4-% -G renze, zum anderen im Hinblick auf den E rw erb von M andaten über die Landeslisten ver- sprachen.

So hat das zweispurige Wahlsystem, die parallele Beibehaltung d e r Parteiliste und der individuellen K an d id aten , größtenteils seinen Sinn verloren. Dies hatte zur Folge, daß in den individuellen Wahlkreisen die Stimmen - ebenso wie im Hinblick auf die Listen - an Parteien vergeben wurden. Die Direktwahl in den individuellen Wahlkreisen führte schließlich allein zu einer Disproportionalität in dem Sinne, daß die großen Parteien begünstigt wurden. Von den sogenannten unabhängigen Kandi- daten haben nur sieben ein M andat errungen.

In der Zukunft wird sich die Frage d e r Abschaffung d e r beiden parallelen Wahlsy- sterne, der w eitergehenden Berücksichtigung von Proportionalitätsgesichtspunkten und gegebenenfalls auch d e r vollständigen Abschaffung der individuellen Wahlkreise stellen.

Das neue Wahlsystem hat in erster Linie infolge der A ufrechterhaltung der indivi- duellen Wahlkreise eine disproportionale Vertretung zustande gebracht. Die größte Partei, das Ungarische Demokratische Forum , hat nach den Komitatslisten nur 24%

der abgegebenen Stimmen erhalten, jedoch 42,5% der M andate erw orben. Die Al- lianz der Freien D e m o k ra te n hat mit einem Stimmenanteil von 21% 24,4% d e r Man- date errungen. Auf die übrigen kleineren im Parlament vertretenen Parteien sind da- gegen im Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen zu wenig M andate entfallen.

Politische Parteien u nd Wahlrecht in Ungarn 67

Die politische G lied e ru n g d e r ungarischen Gesellschaft von heute ist ü b ertrieb en , in vielen B eziehungen fehlt die politische Integration. Solange d e r Mangel an politi- scher Integration nicht mit d en Mitteln d e r politischen Bewegung ersetzt werden kann, scheint auch d e r Einsatz adm inistrativer Mittel b eg rü n d e t zu sein. Eine Zu- n ähm e d e r politischen In teg ratio n , eine Verringerung d e r heutigen Parteienzahl (h eu te existieren noch m e h r als 60 Parteien) und die H erausbildung von G em einsam - keiten k ö n n en auch in bezug auf das Parlam ent eine E inschränkung o d e r A ufhebung d e r administrativen M ittel, die eine K onzentration bewerkstelligen sollen, ermögli- chen. Es ist wahrscheinlich, d aß im Z u sa m m e n h a n g mit einer Vereinfachung des Wahlsystems vor den nächsten Wahlen auch diese Schranken verringert w erden kön- nen. A uch diese Möglichkeit weist in die R ichtung einer S tärkung d e r proportionalen Vertretung.

Das geltende ungarische Wahlgesetz hat parteipolitisch gesehen einen weiteren Schwachpunkt. D a ein M a n d at auf dreierlei Weise erru n g en w erden k ann, garantiert es überm äßig, d aß die führenden Persönlichkeiten d e r P arlam en tsp arteien in das Par- lam ent gelangen k ö n n en . Von den meisten Parteien wurde dies auch ausgenutzt, da sie ihre F u nktionäre sowohl in den individuellen Wahlkreisen als auch a u f den beiden Listen antreten ließen. Dieses Ergebnis ist bei ein er V ertretung durch Parteien ver- ständlich. D ennoch hat es A n sto ß erregt, wenn die K andidaten, die in den individu- ellen Wahlkreisen ein großes Fiasko erlitten h a b e n , anschließend als A b g e o rd n ete in den R eihen des P arlam en ts aufgetaucht sind.

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G e r h a r d H o f f m a n n

Das Parlamentarische Prinzip in Verfassungsrecht