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Reaktivität und Subjektivität im Forschungsprozess

Eine Forschungssituation muss als interaktive, dynamische Begegnung betrachtet werden, die ohne Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Beteilig-ten nicht verstanden werden kann. Statt diese Teilhabe und Reaktivität der Forsche-rin im Feld als Störung aufzufassen, wird im qualitativen Forschungsansatz die Idee verfolgt,„sie als Quelle gegenstandsbezogener Information nützlich zu machen und aufklären zu können“[341, S. 100]. Ein Gütekriterium qualitativer Forschung ist da-ran anschließend die reflektierte Subjektivität. Gemeint ist die Reflexion der„Rolle des Forschers als Subjekt […] und als Teil der sozialen Welt, die er erforscht“[340, S. 330f]–und auch möglicher reaktiver Effekte.

Meine Rolle als Psychologin, und damit als klinische Akteurin in der sozialen Welt Krankenhaus, verweist auf das Thema des 'going native' oder sogar eines be-reits 'being native' durch die eigene klinische Arbeit–also eines Blindgeworden-seins für neue Phänomene und einer unkritischen Übernahme der im Feld geteilten Sichtweisen über das Forschungsthema [369–370]. In gewisser Weise ist dies eine zentrale Frage, wenn Akteure aus der Praxis Forschungsanliegen formulieren: Inwie-weit ist es möglich, die eigenen praktischen Erfahrungen nicht nur zum Ausgangs-punkt zu machen, sondern im Forschungsprozess fruchtbar zu reflektieren und eine neue Offenheit für ein Thema/Problem herzustellen?

Meine Perspektive auf das Feld Krankenhaus ist nicht nur für den Forschungs-prozess, sondern auch als Ausgangspunkt zu reflektieren. Denn die Fragen, denen ich in der vorliegenden Untersuchung nachgehe, resultieren aus den Erfahrungen, die ich im Rahmen meiner klinischen Arbeit als Psychologin in der Hämatologie und Onkologie einer Universitätsklinik mit dem Auftrag der psychologischen Unterstüt-zung von Patient*innen und Angehörigen auf der Palliativstation dieser Klinik ge-macht habe. Seit 2009, also seit einem Jahrzehnt, beobachte ich die sich verändernde Praxis der Palliativversorgung und bin ein Teil von ihr. Gab es zu Beginn meiner Tä-tigkeit weder einen PKD in der Klinik noch die vorgestellten Finanzierungsmöglich-keiten für die stationäre und ambulante Behandlung, ist die Situation inzwischen deutlich verändert. Wie nahmen andere klinische Akteure diese Veränderung wahr?

Durch die Daten über Sterbeorte (vgl. Kap. 2.1.1.), die zeigen, dass die meisten schwerstkranken und sterbenden Menschen nicht auf einer Palliativstation behan-delt werden, sah ich zudem die klinische Relevanz, nach den Erfahrungen von Ärz-tinnen und Ärzten außerhalb spezialisierter Palliativbereiche zu fragen.

Wichtig ist es, als Forscherin aufmerksam zu sein hinsichtlich meines „ Reiz-Werts“[353, S. 17]. Meine Reaktivität als soziale Akteurin und Person verdeutlichen folgende Zuschreibungen im Forschungsprozess:

Zuschreibung als Kollegin in der Klinik: Mit meinem Feldwissen–quasi Insider-wissen–habe ich gezielt Schlüsselpersonen angesprochen, die ich vorab aufgrund meines Strukturwissens als ebensolche identifiziert habe. Die von ihnen vermittelten

IP waren in fast allen Fällen gesprächsbereit (vgl. Kap. 4.2.2.). Als Grund für diese hohe Beteiligungsbereitschaft wurde von den Teilnehmer*innen ein Vertrauensvor-schuss formuliert aufgrund meiner Teilhabe am und Kenntnis vom Arbeitsfeld Kran-kenhaus. Zudem wurde das Thema der Untersuchung von den Schlüsselpersonen und den Studienteilnehmer*innen als relevant für die klinische Praxis eingeschätzt und meine Frage nach ihren Erfahrungen als kollegiale Wertschätzung erlebt.

Zuschreibung als Psychologin:Der Wunsch nach psychologischer Unterstützung für die Patient*innen, Angehörigen und auch für die Mitarbeiter*innen wurde in vie-len Interviews formuliert. Zum Teil wurden sehr konkrete Interventionswünsche be-nannt, z. B. der„Wunsch nach Supervision“,„Angehörigenunterstützung“,„ psycho-logische Unterstützung für nicht-onkopsycho-logische Patient*innen“. In der Häufung der Thematisierung muss dies auch als Interviewerin-Effekt im Sinne eines erwünschten Antwortverhaltens, also eine Reaktion auf meine Profession, reflektiert werden.

Zuschreibung als Teil des Palliativteams:Bei der Vorstellung von Teilergebnissen zum Paradoxon der Nicht-Nutzung des PKD bei deutlich formuliertem Unterstüt-zungsbedarf (vgl. Kap. 5.3.4.) traf ich in einer Runde von ärztlichen Kollegen und Kolleginnen der Abteilung, in der ich arbeite, auf starke Ablehnung. Sie sahen die Ergebnisse als unreflektierte Bestätigung meines Wunsches nach Einbeziehung der Palliativmedizin, da ich von der Palliativstation käme. Damit unterlägen die Ergeb-nisse (m)einem Wunsch-Bias. Kritisiert wurde zudem die Subjektivität der IP-Erfah-rungen, die daher nicht repräsentativ seien. Ein OA formulierte als Beleg für die feh-lende Repräsentativität einer subjektiven Äußerung:„Wenn Sie mich gefragt hätten, dann hätte ich Ihnen genau das Gleiche gesagt“. Die Kritik des OA erfasste ich viel-mehr als Verschiebung einer inhaltlichen Diskussion auf die methodische Kritik und zudem als neuerliche kommunikative Validierung der vorgestellten Ergebnisse (im Anschluss an das Diskussionsforum).

Indem ich mir als Forscherin Übertragungs- bzw. Gegenübertragungsreaktionen bewusstmache, gewinne ich neue Erkenntnisquellen hinzu. Breuer spricht von der

„leibhaftig-personal-sozialen-Forscherperson-in-Interaktion“ [325, Abs. 22]. und schlägt methodische Verfahren wie Dezentrierungs- und Selbstreflexionstechniken vor, um Handlungsmuster und Person der Forscherin im sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess zu thematisieren.„Dezentrierung meint den Vorgang des Zurück-tretens und Distanzgewinnens von eigenen Handlungsmustern, […] die Einnahme ei-nes Beobachter- bzw. Metastandpunktes gegenüber der eigenen Ausgangsperspekti-ve.“[325, Abs. 29]. Den Vorgang des Zurücktretens und Distanzgewinnes habe ich sehr bewusst eingebaut als Teil des Forschungsprozesses. So habe ich während der Datenerhebung und Auswertung immer wieder für kurze Zeiträume und einmal für drei Monate in meiner klinischen Arbeit im Krankenhaus pausiert, um Zeit und Raum zur Distanzierung und für die notwendige Reflektion und Deutung zu haben.

Als zentrale Struktur zur Distanzgewinnung und als Reflexionsraum habe ich ei-ne den Forschungsprozess begleitende Arbeitsgruppe genutzt [371–372]. Selbstrefle-xivität sowie die Körper- und Personengebundenheit von Forschung waren häufig Thema in dieser Gruppe, bestehend aus fünf Teilnehmerinnen mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen: medizinisch, psychologisch und soziologisch und zum Teil mit klinischen Erfahrungen. Im Austausch wurde deutlich, welche Beobachtun-gen und DeutunBeobachtun-gen an meine Person gekoppelt waren, indem weitere DeutunBeobachtun-gen eingebracht wurden. Unsere Diskussionen berücksichtigte ich im weiteren For-schungsprozess. So war ein Ergebnis der reflektierten Reaktivität meiner Person die Entscheidung für eine externe Moderation der Gruppendiskussion, um eine Rollen-konfusion bei mir und für die Beteiligten zu vermeiden (vgl. Kap. 4.2.3.). Im Laufe des Auswertungsprozesses habe ich weitere, fachlich sehr differente interne und ex-terne Austauschforen zur Diskussion der Ergebnisse gesucht: z. B. innerhalb der un-tersuchten Kliniken die ärztliche Frühbesprechung in der Hämatologie und Onkolo-gie sowie der Neurochirurgischen Klinik; im Rahmen einer Posterpräsentation und Diskussion zum„Paradoxon der Nicht-Einbeziehung eines PKD“auf dem 11. Kon-gress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin 2016 in Leipzig [373], auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Onkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft 2015 in Berlin [374] sowie auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis 2015 in Bamberg [374]. Mit den er-weiterten Diskussionsräumen gewann ich einen Metastandpunkt, mit dem eine re-flektierte Betrachtung der Daten möglich wurde.

Die Ergebnisdarstellung setzt sich zusammen aus Analyseergebnissen aller Module der Studie. Zitate aus den Interviews mit in-vivo Kodes (fett) werden als Ankerbei-spiele für die vergebenen Kodes („Kode“) und Kategorien (kursiv) vorgestellt. Die In-terviews sind durchnummeriert. Bei einer Zitierung gebe ich die Interviewerin (Asita Behzadi = AB), die betreffende Interviewnummer sowie die Zeilennummer an, z. B.

wird ein Zitat aus Interview 1, Zeilennummer 100 wie folgt zitiert: AB01/100. In den Zitaten sind BETONUNGEN in Großbuchstaben geschrieben. Zudem gebe ich para-phrasierend Inhalte aus den Interviews und der Gruppendiskussion wieder.

Die ärztlichen Erfahrungen mit der Behandlung schwerstkranker und sterbender Patient*innen im Krankenhaus rekonstruiere ich entlang folgender Fragen:

– Welche Arbeitsbedingungen und ärztlichen Behandlungsperspektiven finden sich im Krankenhaus? (vgl. Kap. 5.1.)

– Was beeinflusst Therapieentscheidungen bei schwerstkranken und sterbenden Patient*innen? (vgl. Kap. 5.2.)

– Wie erfolgt die ärztliche Aufnahme- und Verlegungspraxis von schwerstkranken und sterbenden Patient*innen? (vgl. Kap. 5.3.)

Die vorgestellten Ergebnisse fasse ich zusammen in einer gegenstandsbegründeten Theorie für das Forschungsfeld: In der Behandlung schwerstkranker und sterbender Patient*innen zeigt sich ein ärztliches Postulat vomSterbendürfen im Krankenhaus (vgl. Kap. 5.4.).

5.1 Arbeitsbedingungen und ärztliche Behandlungsperspektiven