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Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft – Folgen für Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik

IV. Reaktion von Recht und Rechtswissenschaft

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Recht und Rechts-wissenschaft auch jenseits der genannten Entscheidungen des Bundesver-fassungsgerichts mit diesen Entwicklungen im Bereich einfacher sozialer Beziehungen umgehen. Im körperlichen Raum, wo es vor allen Dingen um Fragen der Teilhabe und ergänzend auch um die Einhaltung sozialer Regeln geht, sind die Antworten im positiven einfachen Recht bisher überaus schwach ausgeprägt. Maßgeblich für Fragen der Teilhabe ist hier bis heute fast ausschließlich das öffentliche Sachenrecht, das den öffentlichen Raum und dessen Nutzung jedenfalls in seiner höchst dinglichen Dimension regu-liert. Dieses Rechtsgebiet zeichnet sich aber zum einen gerade dadurch aus, dass die Gewährung subjektiver Rechte hier die absolute Ausnahme bildet.52 Schon aus diesem Grund können Fragen der Teilhabe, wenn über-haupt, dann nur äußerst unzulänglich rechtlich verhandelt werden. Zum anderen ist das öffentliche Sachenrecht bis heute jenseits der Kodifizie-rung im Bereich des Straßenrechts nur überaus rudimentär ausgestaltet, so dass von einer geschlossenen Rechtsmaterie, die umfassend entsprechende gesellschaftliche Entwicklungen bearbeiten könnte, von vornherein keine

51 BVerfGE 125, 175 (223); unter Verweis auf BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (319).

52 S. etwa schon grundlegend Klaus Stern Die öffentliche Sache, VVDStRL 21 (1964), 183 (183 ff.); allgemein dazu etwa Hans-Jürgen Papier Recht der öffentlichen Sachen, 3. Aufl. 1998, 110 ff.

Rede sein kann.53 Gleiches gilt für das sogenannte Recht der öffentlichen Einrichtungen, das zwar in jüngerer Zeit immer wieder in Stellung gebracht wird, um Teilhabekonflikte im von der öffentlichen Hand betriebenen vir-tuellen Raum zu beschreiben,54 tatsächlich aber jenseits der expliziten Normierung im Kommunalrecht weder hinreichend unterscheidungsstarke Abgrenzungen des Phänomens noch klare dogmatische Konturen der recht-lichen Behandlung bereitstellt55 und deshalb auch als dogmatische Katego-rie für den physischen Raum im Ergebnis nicht weiterführt.

53 Wie die Praxis zeigt, kann insofern schon die Frage nach der kommunikativen Nut-zung einer öffentlichen Grünanlage in AbgrenNut-zung zur NutNut-zung eines öffentlichen Platzes die Rechtsprechung in Bedrängnis bringen, vgl. OLG Hamm, NVwZ 2010, 1319 (1319 ff.);

dazu Sophie Lenski Der öffentliche Raum als kommunale Einrichtung, JuS 2012, 984.

Auch eine Konstruktion über das Kommunalrecht, genauer: über das Recht der kommuna-len Einrichtungen, ist bisher kaum gelungen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Einzelentscheidung Grenzen der Privatisierung eines Weihnachtsmarkts aufgezeigt, gerade weil es sich bei dessen Veranstaltung um eine Aufgabe besonderer sozialer, kulturel-ler und traditionelkulturel-ler Prägung handelt, BVerwG, NVwZ 2009, 1305 (1307). Grundlage die-ser Entscheidung war allerdings – trotz der revisionsrechtlich notwendigen Verankerung in der bundesrechtlichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG – letztlich die entsprechende Regelung der Gemeindeordnung über die Bereitstellung kom-munaler Einrichtungen. Um unter diesen Begriff zu fallen, bedarf es aber gerade einer bestimmten organisatorischen Verfestigung, so dass gerade die loseren sozialen Beziehun-gen hierunter rechtlich in der Regel gerade nicht gefasst werden. Auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwGE 159, 337, zur freien Nutzung des Nordsee-strands bzw. zu den Grenzen der Kommerzialisierung des Strandbetriebs bietet hier keine dogmatische Orientierung. Das Gericht rekonstruiert hier die Frage der Nutzung des Strands nicht als Teilhabe- bzw. Zugangsrecht, sondern sieht einen grundrechtsunmittelba-ren Anspruch auf Zugang zum Strand in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 59 BNatSchG verankert, dessen Einschränkung im vorliegenden Fall nicht in zulässiger Weise erfolgt sei. Warum das Gericht hier allerdings auf die allgemeine Handlungsfreiheit zurückgreift und nicht lediglich auf die einfachgesetzliche Normierung des Zugangsanspruchs abstellt, wird dog-matisch nicht recht klar, vgl. auch Boas Kümper Großflächige Kommerzialisierung des Strandzugangs zwischen Kommunalrecht, Naturschutzrecht und allgemeiner Handlungs-freiheit – zum Wangerland-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, DVBl. 2018, 686 (690 ff.).

54 Vgl. grundlegend nur Albert Ingold Behördliche Internetportale im Lichte des Allge-meinen Verwaltungsrechts: Zur Renaissance des Rechts der öffentlichen Einrichtungen, Die Verwaltung 48 (2015), 525, m.w.N. Aus der Rechtsprechung zuletzt etwa VG Mainz, MMR 2018, 556; VG München, MMR 2018, 418; jeweils unter Verweis auf BVerwGE 151, 228 ff., das in Bezug auf eine Online-Datenbank von einer „öffentlichen Einrichtung im untechnischen Sinne“ spricht.

55 Dies zeigt sich schon an der gängigen, aber im Ergebnis denkbar wenig aussagekräfti-gen Definition der öffentlichen Einrichtung als „Leistungsapparaturen höchst unterschiedli-cher Struktur und Zweckbestimmungen, denen letztlich nur die Funktion gemeinsam ist, nämlich die Voraussetzung für die Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge der Bevölkerung zu schaffen und zu gewährleisten,“ so grundlegend Fritz OssenbühlRechtliche Probleme der Zulassung zu öffentlichen Stadthallen,DVBl. 1973, 289 (289).

Geht es demgegenüber nicht um Fragen der Teilhabe an Ressourcen des physischen Raums, sondern um Einhaltung und Durchsetzung von sozialen Regeln an genau diesem Ort, befindet sich das Recht ohnehin von vornhe-rein in einer etwas widersprüchlichen Situation, weil die sozialen Regeln gerade strukturell darauf angelegt sind, jenseits klassischer rechtlicher Mechanismen Befolgung zu generieren. Nicht zuletzt auch vor diesem Hin-tergrund sind die bisherigen Versuche zu beurteilen, entsprechende Regeln, etwa über den Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, mit den Mitteln des Polizeirechts durchzusetzen, die bisher weitgehend an den Gerichten gescheitert sind. Der Versuch, die Vorschriften und Verbote, die den anth-ropologischen Raum kennzeichnen, auf die Ebene des Rechts zu transferie-ren, stellt sich vor diesem Hintergrund als weitgehend erfolglos dar.

Betrachtet man schließlich nicht das einfache Recht, sondern die Ebene der Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtslehre, so lässt sich beobachten, dass sich die dargestellte Problematik hier, wenn überhaupt, bisher nur relativ verkürzt widergespiegelt hat. Gerade die Grundfragen staatlicher Gemeinschaft werden in der Debatte bis heute meist weitgehend auf den politischen Bereich der Gemeinschaftsbildung fokussiert und als bedroht oder verletzlich erlebt. Besonders deutlich wird dies in den letz-ten Jahren vor allen Dingen an der langsam aufkommenden Diskussion über die Wirkung von Grundrechten innerhalb der sozialen Medien, die innerhalb der Rechtswissenschaft bisher fast ausschließlich unter diesem Aspekt der spezifisch politisch-demokratischen Bedeutung der Grundrechte geführt wird,56 obwohl die originär politische Kommunikation in diesem Bereich nur einen äußerst kleinen Teil der in den Netzwerken verbreite-ten Inhalte ausmachen dürfte.57 Durch diese Engführung wird jedoch ein wesentlicher Teil der Gemeinschaftsbildung ausgeblendet, der gerade auch für die staatliche Gemeinschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Dieser Entwicklung in der verfassungsrechtswissenschaftlichen Diskus-sion entspricht eine grundrechtsdogmatische Wende, die das Bundesverfas-sungsgericht vor 20 Jahren für die hier besonders relevante

Versammlungs-56 Vgl. etwa nur Jakob Schemmel Soziale Netzwerke in der Demokratie des Grundgeset-zes, Der Staat 57 (2018), 501, (501 ff.); Klaus Ferdinand Gärditz Der digitalisierte Raum des Netzes als emergente Ordnung und die repräsentativ-demokratische Herrschaftsform, Der Staat 54 (2015), 113; Albert Ingold Digitalisierung demokratischer Öffentlichkeiten, Der Staat 56 (2017), 491; Claudio Franzius Das Internet und die Grundrechte, JZ 2016, 650; Utz Schliesky Digitalisierung – Herausforderung für den demokratischen Verfassungs-staat, NVwZ 2019, 693; Hans-Jürgen Papier Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in der digitalen Gesellschaft, NJW 2017, 3025.

57 Vgl. etwa nur für das Beispiel Facebook Thorsten Faas/Benjamin C. Sack Politische Kommunikation in Zeiten von Social Media, 2016, 26 ff.

freiheit vorgenommen hat. Mit seiner Entscheidung zur Loveparade schloss es seinerzeit nämlich ausdrücklich den Bereich der nicht-politischen Kom-munikation aus dem Schutzbereich dieses Grundrechts aus58 – und damit auch gerade den hier betrachteten Bereich der auf Begegnung basieren-den, nicht organisierten alltäglichen sozialen Beziehungen. Gerade diese sozialen Beziehungen, die in ihrer elementaren Einfachheit die Grund-lage sozialer und damit auch staatlicher Gemeinschaft bilden, unterliegen damit aufgrund ihres fehlenden politischen Bezugs keinerlei spezifischem grundrechtlichen Schutz jenseits des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit.

In dieser Tradition der Fokussierung auf den politischen Bereich ste-hen auch die jüngeren hier behandelten Entscheidungen des Bundesver-fassungsgerichts. Denn sowohl bei der Fraport-Entscheidung als auch bei derjenigen zum Bierdosen-Flashmob steht wiederum fast ausschließlich die politische Dimension der in Bezug auf den konkreten Anlass verhan-delten sozialen Beziehungen im Vordergrund, die dann konsequenterweise auch allein am „politischen“ Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemes-sen wird. Die rein auf den sozialen Austausch angelegte Konstellation, die der Entscheidung zum Stadionverbot zugrunde liegt, hat demgegenüber deutliche Mühe, einen klaren grundrechtlichen Prüfungsmaßstab zu finden.

Hinzu kommt, dass hier ein Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit als dogmatische Lösung nicht in Betracht kommt, da diese Konstruktion über das sogenannte Auffanggrundrecht nur gegenüber staatlichen Maß-nahmen greifen können, die sich grundsätzlich für jede beim Bürger ein-tretende Freiheitsverkürzung grundrechtlich rechtfertigen müssen. Beim zu behandelnden Stadionverbot ging es jedoch um die Maßnahme eines Pri-vaten, den eine solche Rechtfertigungspflicht gegenüber anderen Privaten gerade nicht trifft und auch bei noch so weitem Verständnis der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte nicht treffen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die dogmatische Lösung des Falls über den allgemeinen Gleich-heitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als Anzeichen einer gewissen Hilflosigkeit im Umgang mit dem sozialen Phänomen, das nun verfassungsrechtlich gewendet werden soll.59 Ein grundrechtsdogmatisches Konzept ist jeden-falls an dieser Stelle nicht erkennbar.

58 Grundlegend BVerfG, NJW 2001, 2459.

59 Hingegen verteidigt Amélie Heldt Ausstrahlungswirkung des allgemeinen Gleich-heitssatzes in das Zivilrecht, NVwZ 2018, 813 (816), die dogmatische Konstruktion gerade mit dem Argument, dass es bei der eingelegten Verfassungsbeschwerde dem Beschwerde-führer gerade nicht um den Zugang zum Fußballspiel, sondern um die Ungleichbehandlung gegenüber alldenjenigen ginge, die das Fußballspiel besuchen dürfen. Diese Auffassung scheint jedoch tatsächlich eher vom Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts als von der Interessenlage des Beschwerdeführers auszugehen.

Richtet man den Blick nun weg vom physischen, hin zum digitalen Raum, so ist zunächst bemerkenswert, dass der Gesetzgeber hier jedenfalls rudimentär eingeschritten ist, um die Fragen der Einhaltung und Durchset-zung sozialer Regeln zu bearbeiten, als er im Herbst 2017 das Netzwerk-durchsetzungsgesetz erlassen hat. Durch dieses Gesetz werden die Netz-werkbetreiber verpflichtet ein Regime zu schaffen, durch das bestimmte strafbare Inhalte in ihren sozialen Netzwerken gelöscht werden. Auf diese Weise werden staatliche Regeln in gewisser Weise zu sozialen Regeln umdefiniert, wenn ihre Ächtung zurück in den gesellschaftlichen Bereich verwiesen wird. Gleichzeitig aktualisiert sich dadurch die Frage nach den Grenzen der Regeldurchsetzung zwischen Nutzern und Netzwerk, die dann wiederum zunehmend in das Verfassungsrecht verweist: Die entsprechen-den Konflikte werentsprechen-den von entsprechen-den Zivilgerichten nämlich in jüngerer Zeit vor allem als Fragen der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten bearbei-tet.60 Die Behandlung in Verfassungsrechtsprechung und Verfassungs-rechtslehre steht dabei im Wesentlichen noch ganz am Anfang. Erst vor Kurzem hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung betont, dass die einfachrechtlichen genau wie die verfassungs-rechtlichen Fragen in diesem Bereich im Wesentlichen ungeklärt sind.61 Aus wissenschaftlicher Sicht kann dieser Befund nur geteilt werden.

V. Ausblick: Die Rolle der Grundrechte für die Konstitution