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Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft – Folgen für Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik

I. Einleitung: Grundrechtskonflikte

Grundsatzkonflikte . . . 291 II. Soziale Beziehungen zwischen Kommerzialisierung

und Musealisierung . . . 294 1. Soziale Beziehungen als Kern gesellschaftlicher Ordnung . 294 2. Kommerzialisierung: soziale Beziehungen als Gegenstand

wirtschaftlichen Austauschs . . . 296 3. Musealisierung . . . 300 4. Soziale Beziehungen jenseits von Körperlichkeit

und Räumlichkeit: die digitale Welt . . . 303 III. Soziale Beziehungen als Grundlage für Staat und Gesellschaft 305 IV. Reaktion von Recht und Rechtswissenschaft . . . 306 V. Ausblick: Die Rolle der Grundrechte für die Konstitution

sozialer Gemeinschaft . . . 311

I. Einleitung: Grundrechtskonflikte

als gesellschaftspolitische Grundsatzkonflikte

Grundrechtsfragen sind grundlegende gesellschaftliche Wertungsfra-gen. An ihnen spiegeln sich schon seit vielen Jahrzehnten all die gesell-schaftspolitischen Konflikte wider, die im politischen Raum verhandelt werden. Das gilt in besonderem Maße für diejenigen Grundrechtskon-flikte, die am Ende durch das Bundesverfassungsgericht entschieden und im besten Fall gelöst werden. An seiner Judikatur lässt sich immer auch eine Geschichte gesellschaftspolitischer Kontroversen der Bundesre- publik nacherzählen, die etwa von der Gleichstellung zwischen den Ge-

schlechtern1 über die betriebliche Mitbestimmung von Arbeitnehmern,2 die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen,3 die Präsenz christlicher und muslimischer Symbole in Schulen4 und die eingetragene Lebenspartner-schaft5 bis hin zum geschichtspolitischen Umgang mit neo-nationalsozialis-tischer Propaganda6 reichen. Welche Frage auch immer die bundesdeutsche Gesellschaft über die Jahre umgetrieben hat – mit hoher Wahrscheinlich-keit ist sie früher oder später von den Karlsruher Richtern am Maßstab der Grundrechte und gleichzeitig doch nicht im politisch luftleeren Raum ent-schieden worden.

Gerade aufgrund dieser engen Verwebung von Grundrechtsfragen mit gesellschaftspolitischen Grundsatzdebatten muss der Status von Grund-rechtstheorie und Grundrechtsdogmatik aus einer wissenschaftstheoreti-schen Perspektive latent prekär erscheinen. Insbesondere die Grundrechts-dogmatik leidet insofern an dem jeder RechtsGrundrechts-dogmatik zugrundeliegenden rechtstheoretischen Problem, dass rechtsdogmatische Aussagen immer auch eine rechtspolitische Bedeutung und Funktion haben.7 Aufgrund ihres Gegenstands ist allerdings gerade die Grundrechtsdogmatik in besonderem Maße dem Risiko ausgesetzt, in den überkommenen Traditionslinien der deutschen Staatsrechtslehre schlicht die eigene ideologische Position mit der Autorität des rechtswissenschaftlich gedeuteten Rechts untermauern zu wollen. Nichts anderes gilt für die Grundrechtstheorie. Versteht man sie als

„systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“,8 so bietet sie gerade die Grundlage dafür, aus grundlegenden ideologischen Wertungen heraus mit Verbindlichkeitsanspruch ausgestattete Aussagen über den Inhalt von Grundrechten zu treffen.9 Zu diesen theoretischen Problemen im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Status tritt zudem ein praktisches Wirksamkeitsproblem, da sich die Rechtsprechung in der Anwendung der Grundrechte in weiten Teilen nur sehr lose an eigenen oder

1 Grundlegend insofern etwa BVerfGE 10, 59 (elterliche Gewalt).

2 BVerfGE 50, 290.

3 BVerfGE 39, 1; 88, 203.

4 BVerfGE 93, 1 (Kruzifix); 108, 282 (Kopftuch I); 138, 296 (Kopftuch II).

5 BVerfGE 105, 313.

6 BVerfGE 124, 300 (Wunsiedel).

7 Dazu nur grundlegend Alf Ross On Law and Justice, 1959, 383.

8 Grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde Grundrechtstheorie und Grundrechtsinter-pretation, in: ders. Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 221 (221 f.).

9 Als Beispiel hierfür kann wiederum der für die Staatsrechtslehre überaus bedeutsame Ernst-Wolfgang Böckenförde dienen: In seinem grundlegenden Beitrag zur Grundrechtsthe-orie (Fn. 8) weist er explizit auf verschiedene Vorverständnisse in der Grundrechtslehre hin, nur um dann zum Ergebnis zu kommen, dass sein (nicht als solches offengelegtes) Vorver-ständnis dasjenige der Verfassung sei.

von der Wissenschaft entwickelten dogmatischen und theoretischen Struk-turen orientiert.

Umso interessanter ist es daher aus wissenschaftlicher Sicht, den Blick einmal in die umgekehrte Richtung zu wenden und wahrzunehmen, in welch intensiver Weise Grundrechtskonflikte vor Gericht, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht, Aufschluss über den Stand gesellschafts-politischer Herausforderungen und Debatten geben, also darüber, was eine Gesellschaft im Inneren umtreibt. Dieser Blick lohnt sich auch und gerade für den Gegenstand dieses Referats.

Der Vorstand hat als Thema das Problem der Veränderung des Verhält-nisses von Staat und Gesellschaft benannt und damit einen Assoziations-raum eröffnet, der insbesondere jüngere Entscheidungen des Bundes-verfassungsgerichts zur Demonstrationsfreiheit umfasst: zum einen zur Demonstrationsfreiheit in formell privatisierten Flughafengebäuden, die sogenannte Fraport-Entscheidung,10 zum anderen die Demonstrationsfrei-heit auf materiell privatisierten öffentlichen Plätzen, die Entscheidung zum sogenannten Bierdosen-Flashmob,11 sowie schließlich die Entscheidung zu Stadionverboten in Fußballstadien des Deutschen Fußballbundes12. Auf dogmatischer Ebene sind damit in erster Linie Fragen der Grundrechtsbin-dung von Privaten angesprochen, die jüngst wieder verstärkt in den Fokus verfassungsrechtlicher Aufmerksamkeit gerückt sind. Vor allem aber ver-weist dieses Themenfeld auf sehr grundsätzliche gesellschaftliche Phäno-mene und die um sie geführten gesellschaftspolitischen Debatten. Anders als das Thema vielleicht suggeriert, handelt es sich dabei allerdings, so die hier vertretene These, tatsächlich nicht in erster Linie um Veränderungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft.13 Vielmehr spiegeln sich hier sehr

10 BVerfGE 128, 226 (Fraport).

11 BVerfG, NJW 2015, 2485 (Bierdosen-Flashmob).

12 BVerfG, NJW 2018, 1667 (Stadionverbot).

13 Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft ist zwar einerseits als Differen-zierung im modernen Verfassungsstaat unerlässlich. Ihre analytische Kraft ist gleichwohl überaus begrenzt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass in der umfangreichen Diskussion in der Rechtswissenschaft über diese Differenzierung selten verdeutlicht wird, ob es sich in der jeweiligen Argumentation bei der Unterscheidung um eine normative oder eine empi-risch-analytische handeln soll. Bezeichnend ist in diesem Sinne etwa die Formulierung bei Ernst-Wolfgang Böckenförde Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit, 1973, 28, wonach die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu einer relativen Verselbständigung der notwendigen politi-schen Entscheidungsfunktion gegenüber gesellschaftlicher Unmittelbarkeit führe und bewirke, dass gesellschaftliche Macht sich nicht unmittelbar in politische Macht umsetze.

Dabei bleibt völlig unklar, wie eine solche begriffliche bzw. analytische Unterscheidung derartige reale gesellschaftliche Effekte bewirken soll. Treffend formulierte insofern Kon-rad Hesse Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von

grundlegende Veränderungen und Verschiebungen innerhalb der Gesell-schaft selbst wider, in denen es zu einem gewissen Grad um ihren Kern-bestand geht: das „Soziale“ überhaupt, und zwar in Form von alltäglichen, schwach organisierten sozialen Beziehungen.

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll zunächst die Analyse dieses gesellschaftlichen Phänomens sein, das ich in den Kategorien teil-weise gegensätzlicher Bewegungen von Kommerzialisierung und Museali-sierung sozialer Beziehungen beschreiben möchte. In einem zweiten Schritt werde ich sodann die gesellschaftliche Bedeutung dieser Entwicklungen analysieren und dabei insbesondere der Frage nachgehen, welche Rückwir-kungen diese primär gesellschaftlichen Entwicklungen auf den staatlichen Bereich haben. Auf dieser Basis werde ich dann in einem letzten Schritt auf analytischer Ebene der Frage nachgehen, wie Recht und Rechtswissen-schaft auf diese Entwicklungen zu reagieren versuchen.

II. Soziale Beziehungen zwischen Kommerzialisierung