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4. Zu einer Konzeption von Ambivalenz

4.1. Ambivalenz: die Perspektive des Konstruktivismus

4.1.1. Rationalität

Rational ist Handeln in Aufrechterhaltung einer Perspektive (oder eines Systems bzw.

Paradigmas). Die Operationen der Unterscheidung und des Vergleichs sind, wie schon erläutert (vgl. Kap. 2.2.2.), nur innerhalb einer Perspektive möglich. Logisches Handeln (gemeint ist hier die klassische, zweiwertige Logik) setzt die Operationen des Ver-gleichs und der Unterscheidung voraus und ist deshalb ebenso nur innerhalb einer spektive möglich. Logik stellt deshalb keine „Universalsprache“ dar, sondern ist Per-spektiven untergeordnet. Ambivalenzen und Paradoxien stellen für jede Perspektive eine Herausforderung oder Bedrohung dar, es sind Rätsel, die gelöst werden müssen, soll die Perspektive aufrechterhalten werden. Logisches Handeln kann als Handeln in-terpretiert werden, das bestrebt ist, eine Perspektive als Perspektive aufrecht zu erhal-ten. Dazu ist es notwendig, in einer Perspektive auftauchende Rätsel (Paradoxien und Ambivalenzen) nach Möglichkeit auszumerzen.

Es ist, der rational choice theory also widersprechend, nicht möglich, zwischen unterschiedlichen Perspektiven – etwa nach dem Kriterium der Vorteilsmaximierung – zu entscheiden. Rationale Entscheidungen lassen sich immer nur innerhalb einer Per-spektive treffen. Der dadurch entstehende „Vorteil“ ist, dass die Entscheidungen im Sinne der Aufrechterhaltung der Perspektive wirken.

Plakative lässt sich demgemäss sagen, dass es nicht die „ratio“ ist, die Men-schen von Tieren unterscheidet (wie etwa von der „Aufklärung“ betont), sondern Irra-tionalität. Denn Tieren ist es, in ihrem monoperspektivischen Agieren, nur möglich rational zu handeln: eben im Sinne der Aufrechterhaltung ihrer Monoperspektive. Erst Menschen ist es möglich irrational zu handeln: in ihrer Fähigkeit in unterschiedlichen Perspektiven zu agieren.

4.2. Ontologischer Realismus und Konstruktivismus in gegenseitiger Perspektive

In der Perspektive des Konstruktivismus65, die die vorgestellte Konzeption von Ambi-valenz fundiert, sind nun der Konstruktivismus selbst – als Perspektive, Paradigma oder System – und der Ontologische Realismus als miteinander konkurrierende Systeme (oder Perspektiven, Paradigmen) aufzufassen, die, in dieser wechselseitigen Bezug-nahme gerade ihr Identität konstituieren. Die jeweilig andere Perspektive stellt dabei gerade Umwelteinflüsse (oder Rätsel) zu Verfügung, die es den Perspektiven selbst wiederum erlauben, sich, durch Lösung dieser Rätsel, als Perspektive aufrecht zu erhal-ten.

Der Ontologische Realismus sieht dies (in Aufrechterhaltung seiner Perspekti-ve) ganz anders: da es, innerhalb dieses Paradigmas, möglich ist, auf eine „Welt an sich“ zu verweisen, bezeichnet diese Perspektive den Konstruktivismus schlicht als falsch, oder unwahr, weil er nichts mit der „Welt an sich“ zu tun hat. Der Konstrukti-vismus gehört, aus der Sicht des Ontologischen Realismus, vielmehr der „Erschei-nungswelt“ an. Der Ontologische Realismus kennt – zumindest hypothetisch – die Möglichkeit, dass alle Perspektiven (die Vielfalt der Perspektiven kommt durch unter-schiedliche Subjekte zustande) in einer „wahren“ Perspektive aufgehen könnte: einer Perspektive der „Erscheinungswelt“ die in vollkommener Übereinstimmung mit der als

„eindeutig“ geglaubten „Welt an sich“ steht. Dies ist jedoch nur hypothetisch möglich, da es eben ausgeschlossen ist, alles „Subjektseitige“ von der „Erscheinungswelt“ zu

„subtrahieren“ (vgl. hierzu auch Kap. 3.3.4: die Ausführungen von Hoyningen–Huene).

Da der Ontologische Realismus die (hypothetische) Möglichkeit kennt, alle Perspekti-ven auf eine „wahre“, „richtige“ Perspektive zurückzuführen, erscheint, in dieser Per-spektive, rationales, logisches Handeln als Weg, sich dieser „wahren“ Perspektive an-zunähern. Rationalität – so sollte es im Sinne eines Ontologischen Realisten jedenfalls sein – leitet demnach das Handeln von Menschen: jedenfalls wenn Menschen „wahr“,

„richtig“ oder „gut“ handeln wollen (aber in der „Erscheinungswelt“ ist ja vieles

65 Oder auch, wie sich im Sinne vorliegender Arbeit sagen lässt: in der Perspektive des „Radikalen Rea-lismus“.

lich!). Erkennt ein Ontologischer Realist Paradoxien und Widersprüche, so ist dies ein Kennzeichen für ihn, dass er sich in Bereichen der „Erscheinungswelt“ bewegt, die nichts mit der „Welt an sich“ zu tun haben. Es gilt diese Probleme (ganz im Sinne von Kap. 4.1.1) in jedem Fall auszumerzen – etwa dadurch, dass notwendiger Informations-bedarf nachgeholt wird, die logische Folgerichtigkeit von Argumentationen überprüft wird etc. –, da ja eine Perspektive, zumindest hypothetisch möglich ist. Kerngedanke des Ontologischen Realismus ist jedenfalls, dass es eine eindeutige objektive „Welt an sich“, unabhängig von Subjekten, gibt; auch wenn in der „Erscheinungswelt“ – in der sich Menschen notwendig immer bewegen – diese Eindeutigkeit vermutlich nie zu er-reichen ist.

Dadurch, dass der Ontologische Realismus in Paradoxien und Ambivalenzen lediglich die Anzeige von Falschheit oder Fragwürdigkeit sieht (zumindest in bezug auf die „Welt an sich“, in der „Erscheinungswelt“ haben Ambivalenzen ja fraglos „Gültig-keit“), besteht ihnen gegenüber generell eine dogmatische Intoleranz.

In der Perspektive des Konstruktivismus liegt der Fall anders: natürlich handeln Menschen auch rational, nämlich im Sinne der Aufrechterhaltung einer spezifischen Perspektive oder Identität. Menschen sind deshalb bei Einnahme einer Perspektive into-lerant gegenüber Widersprüchen und bestrebt Paradoxien, die in dieser Perspektive auftauchen, auszuschalten. Aber der Mensch ist kein monoperspektivisches Wesen. Zur Konstitution von Identität (einer Perspektive) ist die Konkurrenz von anderen Perspek-tiven notwendig.66 Es handelt sich dabei – im Sinne des Konstruktivismus – um objek-tive Perspekobjek-tiven: die Perspekobjek-tiven gehören nicht zur „Erscheinungswelt“ sondern schon zur „Welt an sich“, also zu „nature“ (Mead) oder „Welt“ (Luhmann). Der Kon-struktivismus ist also, wie schon erwähnt eine realistische Position. Weiter ist in der Perspektive des Konstruktivismus Multiperspektivität dafür verantwortlich, dass Er-kennen möglich ist; insbesondere das ErEr-kennen des ErEr-kennens67.

66 Das Ausmerzen von (logischen) Widersprüchen ist deshalb im Sinne des Konstruktivismus nicht der Weisheit letzter Ratsschluss!

67 Dies ist deshalb möglich, weil Perspektiven selbst wiederum (konstituierende) Umwelteinflüsse für Metaperspektiven sein können, die wiederum konstituierende Umwelteinflüsse für Meta–

Metaperspektiven sein können usw. usf.

Wenn der Konstruktivismus nun den Ontologischen Realismus nicht mehr ablehnen kann, weil er „unwahr“ ist, da er nichts mit der „Welt an sich“ zu tun hat (dies wäre aus der Perspektive des Ontologischen Realismus in bezug auf den Konstruktivismus mög-lich), beide Paradigmen sich vielmehr, in gegenseitiger Konstitution ihrer Identität, bedingen: kommt dies einem kompletten Relativismus gleich? – Nein. Würde man nun ganz allgemein und unangemessen schlussfolgern, dass es letztlich egal ist, welche Po-sition man einnimmt, da sich ja alle PoPo-sitionen gegenseitig bedingen, würde man so den Relativismus zur universal gültigen Perspektive machen wollen. Zumindest aus der Perspektive des Konstruktivismus würde aber eine einzige, universal gültige Perspekti-ve wiederum identitätsloser, „unstratifizierter“ Welt gleichkommen.

In der Sicht dieser Arbeit erscheint die Position des Konstruktivismus (die vor-gestellte Konzeption von Ambivalenz fundiert) zumindest plausibler. Während für den Ontologischen Realismus z.B. das Rätsel „Inkommensurabilität“ (zwischen Paradig-men) als schwieriges, bisher nicht gelöstes Problem erscheint, kann der Konstruktivis-mus dieses Rätsel lösen. Im Zuge der Lösung dieses Rätsels hat der KonstruktivisKonstruktivis-mus – jedenfalls in der Perspektive seiner selbst – plausible Erklärungen für die Probleme

„Erkenntnis“ und „Identität“ anzubieten. Die „Lösung“ des Ontologischen Realismus in bezug auf diese Probleme oder Rätsel erscheint hingegen sehr schwach: „Identität“ und

„Erkenntnisfähigkeit“ sind Eigenschaften, die Subjekten zukommen.

Das Rätsel der Inkommensurabilität, mit dem der Ontologische Realismus zu kämpfen hat, lässt sich auch als Anomalie für diese Perspektive sehen, die einen Para-digmenwechsel herbeiführen kann: dieser Fall liegt z.B. dann vor, wenn ein Ontologi-scher Realist vorliegende Arbeit so überzeugend finden würde, dass er zum Konstrukti-vismus konvertieren würde. Im Sinne des KonstruktiKonstrukti-vismus kann nämlich ein Perspek-tivenwechsel nicht mit logischen Argumenten herbeigeführt werden. Da logisches Han-deln nur innerhalb einer Perspektive möglich ist, stellt ein Perspektivenwechsel (ein Wechsel des Paradigmas oder ein Systemwechsel) eine nicht–logische, nicht–rationale Handlung dar: „Niemand kann [...] jemals rational von einer Wahrheit überzeugt

wer-den, die nicht bereits implizit in seinen Grundauffassungen enthalten war.“68 Verglei-che hierzu auch Kap. 4.1.1.: Rationalität.