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3. Synthetisierende Betrachtungen zum Verhältnis Subjekt – Objekt

3.1. Objektive Perspektiven und Systeme

Schon die parallele Darstellung von Meads „Objektiven Perspektiven“ und Luhmanns

„Systemtheorie“ sollte einen Hinweis darauf gegeben haben, dass beide Theoretiker die erkenntnistheoretische Problematik des Verhältnisses von Subjekt/Objekt auf sehr ähn-liche Weise behandeln. – Wohlgemerkt: es soll hier nicht behauptet werden, dass Ob-jektive Perspektiven und Systeme generell, in jeder Beziehung das gleiche bedeuten.

Diese Frage ist nicht untersucht worden. Untersucht worden ist – in bezug auf die be-hauptete, zu erläuternde These, dass Konzeptionen von „Ambivalenz“ konstruktivi-stisch fundiert werden (müssen), während das erkenntnistheoretische Fundament eines universal gültigen „Rationalitätspostulats“ in einem Ontologischen Realismus zu sehen ist – untersucht worden ist also in diesem Sinne, auf welche Weise Mead und Luhmann das Verhältnis von Subjekt und Objekt konzeptionell bestimmen. Zu konstatieren ist, dass die Theorie der Objektiven Perspektiven und die Systemtheorie diese Frage – in Überwindung des Subjekt – Objekt Dualismus – ganz analog beantworten: beide Theo-rien müssen einen Begriff für Einheit haben, als Gegenentwurf zur zweigeteilten Welt des Descarte’schen Dualismus. Subjekt und Objekt gehen in „nature“ (Mead) bzw.

„Welt“ (Luhmann) auf. Die Ontologie hat somit – im Unterschied zur Descarte’schen Welt – keine unterscheidende Kraft mehr: sie bezieht sich auf den „differenzlosen Letztbegriff Welt“ (Luhmann) oder „nature“. Unterscheidungen geschehen in Zeit:

durch Prozesse, durch Handlungen. Das Problem des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt wird damit de–ontologisiert und in ein Zeitproblem überführt. Grundsätz-lich kann dabei Zeit selbst als fortgesetzte Operation der Unterscheidung im nicht onti-schen Sinne aufgefasst werden. Da beide Theorien einen Begriff von Einheit zugrunde legen innerhalb dessen dann Unterscheidungen – in Zeit – geschehen, geschieht die Unterscheidung von Subjekt und Objekt – als Unterscheidung von Objektiven Perspek-tiven und Umwelt im Sinne von Mead bzw. von System und Umwelt im Sinne von Luhmann – durch einen zirkulären Prozess. Dieser Sachverhalt ist von Mead eher im-plizit dargestellt worden, wird jedoch in aktuellen Arbeiten (in Anschluss an Mead)

explizit herausgestellt: „In der Perspektive einer Unternehmung oder Familie [als Bei-spiel] zu handeln bedeutet, durch eben dieses Handeln die Identität der Unternehmung oder der Familie [als Perspektive!, Anmerkung von mir] zu bekräftigen.“ (s.o., Lüscher) Dies entspricht genau dem Prozess, der in der Systemtheorie als Autopoiese konzeptua-lisiert ist: Systeme sind Funktionssysteme, deren Funktion gerade darin besteht, ihre eigene Funktion aufrechtzuerhalten. Dabei ist wichtig zu sehen, dass dieser geschlosse-ne, selbstreferentielle Prozess keineswegs einer Tautologie gleicht, bei dem sich die immer gleichen (identischen) Zustände permanent wiederholen. „Selbstreferentielle Geschlossenheit ist [...] nur in einer Umwelt, ist nur unter ökologischen Bedingungen möglich. Die Umwelt ist ein notwendiges Korrelat selbstreferentieller Operationen, weil gerade diese Operationen nicht unter der Prämisse des Solipsismus ablaufen kön-nen [...].“40 Die Identität eines Systems reproduziert sich nur unter Bezugnahme auf eine (im Vergleich mit dem System) viel komplexere Umwelt, durch für das System unvorhersehbare Umwelteinflüsse, die die Aufrechterhaltung des Systems zu einer permanent zu erbringenden Leistung machen, soll die Identität nicht verloren gehen.

Ebenso ist auch für Mead die Konstitution der Identität (von Objektiven Perspektiven) notwendig sozialen Charakters, gebunden an ein Milieu, an eine Umwelt: Identität ist nicht an eine spezifische Substanz gebunden, sondern konstituiert sich im „gesellschaft-lichen Prozess“.

Eine weiter Parallele ist, dass Kognition mit dem Prozessieren von Systemen bzw. Perspektiven – also auch mit deren spezifischer Identität (als zu erbringender Lei-stung) – gleichgesetzt werden kann. In bezug auf die Systemtheorie lässt sich somit sagen, „dass es ebenso viele Bereiche der Kognition gibt, wie es Bereiche der Existenz gibt, die durch die verschiedenen Identitäten bestimmt werden, die lebende Systeme durch die Verwirklichung ihrer Autopoiese bewahren.“41 Ebenso zeichnen sich spezifi-sche (identispezifi-sche) Objektive Perspektiven für die Weise der Kognition verantwortlich:

„A perspective is an ordered view of one’s world – what ist taken for granted about the attributes of various objects, events, and human nature. It is an order of things

40 Luhmann, N. (1984): a.a.O., S. 25

41 Maturana, H.R. (1998): a.a.O., S. 200

bered and expected as well as things actually perceived, an organized conception of what is plausible and what is possible; it constitutes the matrix through which one per-ceives his environment.“ (s.o., Shibutani)42

Erkenntnistheoretische Positionen dieser Art, also auch die in der Systemtheorie Luh-mann’scher Ausprägung implizierte Anschauung, werden oftmals als „Radikaler Kon-struktivismus“ bezeichnet.43 Diese Bezeichnung ruft den Eindruck hervor, als ob jegli-ches Sein im Denken aufgehen würde, wodurch Scheinprobleme – etwa der Vorwurf des Solipsismus – evoziert werden. So konstatierte etwa Hoyningen–Huene (1997), dass für den Radikalen Konstruktivismus (nach der Position von Glaserfelds) folgende Unterscheidung fundamental ist: „Die Artikulation der Position des (radikalen) Kon-struktivismus setzt mit der Unterscheidung von Wirklichkeit und Realität ein [...]. Der Terminus Wirklichkeit bezeichnet diejenige Wirklichkeit, die uns Menschen tatsächlich kognitiv zugänglich ist, eine Wirklichkeit, die grundsätzlich und unabstreitbar von menschlichen Wahrnehmungen und Begriffen geprägt ist; die Wirklichkeit ist uns also durch Erfahrung zugänglich [...]. Demgegenüber bezeichnet der Begriff Realität das, was entsteht, wenn man von der Wirklichkeit alle menschlichen Zutaten subtrahiert, die

„Realität an sich“ [...], wie sie im Anklang an das Kantische Ding an sich genannt wird.“44 Der Konstruktivismus ist dann in Gefahr, zu einer „solipsistischen“ Position zu werden, wenn er nicht nur betont, dass dem Menschen nur „Wirklichkeit“ (als mensch-liche „Konstruktionen“) zugänglich ist, sondern auch die „Realität als ein Produkt des menschlichen Denkens erklärt [...]“45. Der Solipsismus betont demnach, dass jegliches Sein im Denken aufgeht.

In der Perspektive vorliegender Arbeit (mit bezug auf Mead und Luhmann) wird ein dem Solipsismus genau entgegengesetzter Weg gegangen: es wird betont, dass

42 Im folgenden werden deshalb die Begriffe „Perspektive“ – gemeint sind hier immer „Objektive Per-spektiven“ im Sinne von Mead – und „System“ synonym verwendet (im erkenntnistheoretischen Sinne).

43 Vgl. auch: Piaget, J. (1972/73): Die Entwicklung des Erkennens, 3 Bände, Stuttgart; Bateson, G.

(1982): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frankfurt/M.; von Glasersfeld, E. (1987): Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig; Spencer–Brown, G. (1979): Laws of Form, London

44 Hoyningen–Huene, P. (1997): Bemerkungen zum Konstruktivismus in der Geschichtswissenschaft, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 1997, 8, 2, S. 282–289, S. 282

45 ebd., S. 283

liches Denken im Sein aufgeht. Als „differenzloser Letztbegriff“ – im Sinne des o.g.

Begriffs „Realität“ – wird „nature“ (Mead) oder „Welt“ (Luhmann) vorgeschlagen. Die von Hoyningen–Huene konstatierte Unterscheidung (s.o., im vermutlich ontischen Sin-ne) wird in der Perspektive vorliegender Arbeit gerade abgelehnt. Unterscheidungen – insbesondere die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt – finden in der Realität, in Zeit, durch Prozesse statt. Das Missverständnis, dass der (radikale) Konstruktivismus in Gefahr ist, zu einer solipsistischen Position zu werden, entsteht offenbar dadurch, dass die System–Umwelt Semantik direkt auf die Subjekt–Objekt Semantik (im De-scarte’schen Sinne) übertragen wird: Subjekte im DeDe-scarte’schen Sinne wären, wenn sie nur mit „Konstruktionen“ – also Artefakten ihrerseits – handeln würden, solipsi-stisch organisiert. Um diesem Missverständnis zu entgegnen, wäre es in der bisher erör-terten Perspektive besser, den Radikalen Konstruktivismus als Radikalen Realismus zu bezeichnen. Denn jede Operation, die zu „Konstruktionen“ im Sinne des Konstrukti-vismus führt, ist eine Realoperation – eine Operation, die in der „Realität“ (Hoyningen–

Huene), in der „Welt“ (Luhmann) oder in der „Natur“ (Mead) stattfindet.

Es erscheint deshalb im Licht dieser Betrachtungen angemessen, wenn Luh-mann in Erwiderung der einschlägigen Kritiken zum Konstruktivismus konstatiert:

„Die übliche lauwarme Antwort auf ein falsch gestelltes Problem lautet […], dass der Konstruktivismus nicht ohne eine leichte Beimischung von Realismus zurechtkomme.

Diese Kontroverse ist schon deswegen verfehlt, weil kein Konstruktivist – weder die Vertreter des stronge programme von Edinburgh noch Piaget oder von Glasersfeld, we-der die evolutionäre Erkenntnistheorie biologischer owe-der nichtbiologischer Provenienz noch die second order cybernetics Heinz von Försters – je bestreiten würde, dass Kon-struktionen durch umweltangepasste Realoperationen aufgeführt werden müssen.“46

46 Luhmann, N. (1992b): Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 32