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Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer Empfehlungen

Empfehlung Empfehlungsgrad

5.1-1

Patient*innen mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von medizinisch indizierten Arzneimitteln sollen die allgemeinen Verfahren der sozialkognitiven Rückfallprävention angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 87 % 5.1-2

Nach einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter soll allen Patient*innen mit Abhängigkeit von medizinisch indizierten Arzneimitteln zur nachhaltigen Rückfallprävention indikationsgeleitet eine nahtlose suchtbezogene Versorgung von mindestens 1 Jahr angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 88 % 5.1-3

Im Rahmen der Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von medizinisch indizierten Arzneimitteln soll zur Rückfallprävention deren künftige Interaktion mit den Ärzt*innen und Apotheker*innen, von denen sie in der Vergangenheit dieses Medikament erhalten haben, kritisch reflektiert werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 96 % 5.1-4

Den Patient*innen soll empfohlen werden, alle künftigen Ärzt*innen über ihren schädlichen Gebrauch und ihre Abhängigkeit von medizinisch indizierten Arzneimitteln von sich aus zu informieren.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 97 %

Empfehlung Empfehlungsgrad 5.1-5

Wenn Patient*innen mit Medikamentenabhängigkeit aufgrund medizinischer Indikation ein Medikament mit Abhängigkeitspotential benötigen, so soll dieses nach verbindlichem Therapieschema und unter sorgfältiger, engmaschiger Kontrolle verordnet werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 % 5.1-6

Zur Abschätzung der Adhärenz können Plasmaspiegelmessungen durchgeführt werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 96 %

Hintergrund und Evidenz

Für alle psychischen Erkrankungen gilt, dass der langfristige Behandlungserfolg durch spezifische Interventionen zur Rückfallprävention erhöht werden kann [268]. Allerdings liegen derzeit keine Studien beziehungsweise Empfehlungen in aktuellen Leitlinien zu den spezifischen Rückfallrisiken bei Patient*innen mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial sowie zu spezifischen Interventionen zu ihrer erfolgreichen Bewältigung vor, auf die sich evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen zur Rückfallprävention stützen könnten:

- Bei schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Opioid-Arzneimitteln wurden lediglich in zwei systematischen Übersichtsarbeiten einzelne kontrollierte Studien aufgeführt, die eine Wirksamkeit von verschiedenen Formen von allgemeiner psychosozialer Betreuung, verhaltenstherapeutischer Interventionen (Contingency-Management, Community Reinforcement) und achtsamkeitsbasierten Interventionen zur Rückfallprävention nahelegen [87, 259]. Ihr Evidenzgrad ist aber aufgrund methodologischer Schwächen (uneinheitliche Messinstrumente, uneinheitliche Outcome-Maße, uneinheitliche Katamnesezeiträume), der kleinen Fallzahlen und ihrer Widersprüchlichkeit hinsichtlich der Langfristigkeit der Effekte gering. Außerdem wurde kein Vergleich der verschiedenen Verfahren durchgeführt, sondern nur ihr Add-on-Effekt im Unterschied zu rein körperlicher Entgiftungsbehandlung untersucht.

- Bei schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit von Benzodiazepinen existiert eine systematische Übersicht mit einer Metaanalyse mit Hinweisen zur kurzfristiger (drei

Monate nach Behandlungsende) aber nicht langfristiger Wirksamkeit von Kognitiver Verhaltenstherapie [142] sowie einer Metaanalyse ohne Hinweise für die Wirksamkeit von Motivational Interviewing jeweils im Vergleich zu treatment as usual.

Von daher bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur die allgemeine Empfehlung 5.1-1, die allgemeinen Prinzipien und Methoden der sozialkognitiven Rückfallprävention auf Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial zu übertragen [269]:

- Danach besteht das größte Rückfallrisiko unmittelbar im Anschluss an eine Behandlung, das mit der Zeit allmählich abnimmt, da die Betroffenen immer geübter in der Bewältigung persönlich relevanter Rückfallrisikosituationen werden. Angebote zur Rückfallprävention sollen sich daher auf das erste Jahr im Anschluss an eine Behandlung konzentrieren und möglichst nahtlos erfolgen.

- Wesentliche Elemente der sozialkognitiven Rückfallprävention sind die Identifikation persönlich relevanter Rückfallrisikosituationen innerhalb des ersten Jahres im Anschluss an eine Behandlung, die Entwicklung und das Training geeigneter Bewältigungsstrategien im Umgang mit diesen Situationen sowie die Vereinbarung eines Notfallprocederes mit Bezugspersonen im Falle eines künftigen Rückfalls [269].

Ein besonderes Problem für Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial stellt ihr künftiger Umgang mit den körperlichen beziehungsweise psychischen Beschwerden dar, gegen die die Medikamente ursprünglich verschrieben und eingenommen wurden. Mangels entsprechender Evidenz ist im Einzelfall zu entscheiden, worauf der Schwerpunkt der Rückfallprävention eher gelegt wird:

- Allgemeine Rückfallpräventionsstrategien (unter anderem Ablehnungstraining, Exposition in vivo, Vorstellungsübungen, Notfallplan) [269],

- Vermeidung der Chronifizierung beziehungsweise des Wiederauftretens der ursprünglichen Beschwerden durch entsprechende Lebensstiländerung (zum Beispiel sportliche Aktivierung, Ernährungsumstellung, Abstinenz von bestimmten Substanzen, Veränderungen im beruflichen oder sozialen Umfeld),

- Nutzung alternativer Medikation oder physikalischer Verfahren zur Symptomlinderung, - psychischer Umgang mit anhaltenden beziehungsweise erneut auftretenden Beschwerden

(zum Beispiel mit Hilfe von Stressimpfungstraining [270], Schmerzbewältigungstraining [271], Schlafhygiene [272], euthymer Verfahren [273] oder achtsamkeitsbasierter Interventionen [274]),

- den Verbleib am beziehungsweise die Rückkehr an den Arbeitsplatz trotz anhaltender Beschwerden (zum Beispiel work hardening [275], stufenweise Wiedereingliederung [276]).

Je nachdem wird die in Empfehlung 5.1-2 im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter geforderte nahtlose, suchtbezogene Nachsorge im Einzelfall eher durch niedergelassene Ärzt*innen, ambulante Psychotherapeut*innen oder eine Suchtberatungsstelle erfolgen.

Ein weiteres spezifisches Problem stellt für Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial der künftige Umgang mit ärztlichen Behandlern und Apotheker*innen dar. Hier ist insbesondere der weitere Umgang mit den Personen zu klären, die den Betroffenen diese Arzneimittel in der Vergangenheit empfohlen, verschrieben oder abgegeben hatten. Entsprechend der Empfehlung 5.1-3 ist hierbei kritisch zu prüfen, ob dies damals lege artis erfolgte, ob die Entstehung der Abhängigkeit vorrangig durch Manipulationen der Betroffenen begünstigt oder auch durch Unachtsamkeit beziehungsweise Fahrlässigkeit von ärztlicher Seite beziehungsweise der Apotheke (mit)verursacht wurde. Nur wenn hierüber ein selbstkritischer Konsens aller Beteiligten erzielt werden konnte, ist eine Fortführung der Behandlung durch diese Ärzt*innen beziehungsweise ein Kontakt zu diesen Apotheken anzuraten.

Die Empfehlung 5.1-4, dass künftige Ärzt*innen durch die Patient*innen über ihren schädlichen Gebrauch und Abhängigkeit von Opioid-Arzneimitteln in der Vergangenheit zu informieren sind, dient zur Sicherung:

- einer entsprechend restriktiven Indikationsstellung

- der Beachtung der Möglichkeit erhöhter Toleranz bei der Dosierung

- der Vorbereitung auf möglicherweise verstärkte Absetzphänomene bis hin zu Entzugserscheinungen beim Absetzen der Medikation.

Ist aufgrund erneuter körperlicher oder psychischer Beschwerden oder im Rahmen der Akutversorgung eine erneute Verabreichung von Medikamenten mit Suchtpotential unausweichlich, so wird in Empfehlung 5.1-5 ein die Vergabe nach Zeitschema zur Vermeidung eines Rückfalls in die Suchtproblematik angeraten. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass in Tierexperimenten bei fremdbestimmter Substanzkonsum signifikant seltener Suchtphänomene (Toleranzsteigerung, Kontrollverlust) zu beobachten waren als bei selbstbestimmter Einnahme [277].

Forschungsbedarf

Zur Entwicklung evidenzbasierter, spezifischer Ansätze zur Rückfallprävention bei Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial besteht Forschungsbedarf zur Beantwortung folgender Fragen:

- Wie häufig sind Rückfälle im Anschluss an eine erfolgreiche Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial?

- Gibt es Rückfallprädiktoren nach der erfolgreichen Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial?

- Was sind die häufigsten Rückfallrisikobereiche nach der erfolgreichen Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial? Bezieht sich dies ausschließlich auf die Wiederkehr der ursprünglichen Beschwerden oder sind hier weitere situative Auslöser wie bei anderen Suchtmitteln maßgeblich?

- Welche evidenzbasierten Ansätze gibt es zur Rückfallprävention im Anschluss an eine erfolgreiche Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial?

- Stellt der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen für diese Patientengruppe ein besonderes Risiko im Sinne einer sogenannten Suchtverlagerung dar?