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Medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter

Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer Empfehlungen

Empfehlung Empfehlungsgrad

4.1-1

Patient*innen sollen abstinenzorientierte postakute Interventionsformen im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 % 4.1-2

Die Postakutbehandlung sollte in Einrichtungen erfolgen, die ein spezifisches Behandlungsangebot für medikamentenabhängige Menschen vorhalten.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 % 4.1-3

Im Rahmen der Postakutbehandlung sollen berufliche und soziale Teilhabebedarfe systematisch ermittelt und in einer multidisziplinären Behandlung berücksichtigt werden (Rehabilitation).

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 % 4.1-4

In der Postakutbehandlung sollen Elemente der Psychotherapie angeboten werden, die im Kontext anderer substanzbezogener Störungen Wirksamkeit gezeigt haben (z.B. Motivationale Interventionsformen, kognitive Verhaltenstherapie, Paartherapie).

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 96 %

4.1-5

Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter soll Psychoedukation angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 97 % 4.1-6

Angehörigenarbeit soll in der Postakutbehandlung angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 % 4.1-7

Bei zu erwartenden Komplikationen (somatische Komplikationen, Exazerbation einer psychischen Erkrankung) soll die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter im geeigneten stationären Rahmen angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 97 % 4.1-8

Bei erfolglosen ambulanten Therapieversuchen soll die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter im geeigneten stationären Rahmen angeboten werden.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 97 % 4.1-9

Die Dauer der Behandlung soll sich individuell an der Schwere der körperlichen und/oder psychischen Begleit- oder Folgeerkrankungen sowie des Teilhabebedarfs orientieren.

Klinischer Konsenspunkt Abstimmungsergebnis: 100 %

Hintergrund und Evidenz

Die einzelnen Empfehlungen dieses Kapitels beziehen sich ausschließlich auf Patient*innen mit einer Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial. Dagegen existiert für einen schädlichen Gebrauch dieser Medikamente in Deutschland kein spezifisches Behandlungsangebot. Hier bleibt nur die ärztliche Aufklärung und gegebenenfalls Überwachung der Patient*innen hinsichtlich eines risikoarmen Gebrauchs und bei Bedarf eine medizinische und/oder psychotherapeutische Behandlung der Beschwerden, gegen die die Medikamente ursprünglich verordnet beziehungsweise eingenommen wurden.

Zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter bei Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial liegen derzeit keine Studien beziehungsweise Empfehlungen in aktuellen Leitlinien vor, auf die sich evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen stützen könnten:

- Mehrere Metaanalysen deuten zwar bei Opioid- beziehungsweise Benzodiazepin-Abhängigkeit auf eine Wirksamkeit von Kognitiver Verhaltenstherapie, Contingency-Management, Community Reinforcement und achtsamkeitsbasierten Verfahren im Vergleich zu Entzugsbehandlung ohne psychosoziale Intervention hin [87, 142, 259], - Ihr Evidenzgrad ist aber aufgrund methodologischer Schwächen (uneinheitliche

Messinstrumente, uneinheitliche Outcome-Maße, uneinheitliche Katamnesezeiträume), der kleinen Fallzahlen und ihrer Widersprüchlichkeit hinsichtlich der Langfristigkeit der Effekte gering.

Von daher bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur das bei Abhängigkeit von anderen Suchtmitteln (insbesondere Alkohol) bewährte therapeutische Vorgehen auf Patient*innen mit Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial zu übertragen. Insofern handelt es sich bei den einzelnen Behandlungsempfehlungen auch ausschließlich um Klinische Konsenspunkte.

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-1

In Deutschland besteht ein international einzigartig gut ausgestattetes Behandlungssystem der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter, früher auch als Entwöhnungsbehandlung bezeichnet, überwiegend finanziert durch die Rentenversicherung, das auch Patient*innen mit einer Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial zur Verfügung steht. Die starke Empfehlung 4.1-1 einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter im Anschluss an eine Entzugsbehandlung gründet sich auf die Evidenz, dass bei Alkohol- und Drogenabhängigen ohne medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter lediglich ein langfristiger Therapieerfolg von etwa 10 Prozent erzielt wird. Die Empfehlung betont eine nahtlose Vermittlung, weil die Nichtantrittsquote bei Medikamentenabhängigkeit im Vergleich zur Abhängigkeit von anderen Substanzen

besonders hoch ist. Hier kann das zwischen den Kosten- und Leistungsträgern vereinbarte sogenannte Nahtlosverfahren genutzt werden [260].

Inhaltliche Schwerpunkte einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter sind [261]:

- Die Auseinandersetzung mit der eigenen Abhängigkeitsentwicklung, um das volle Ausmaß der eigenen Abhängigkeit erkennen und Abstinenz als eigene Veränderungsziel akzeptieren zu können,

- Die abstinente Bewältigung der Situationen, in denen bislang Medikamente zur kurzfristigen Linderung von körperlichen oder psychischen Beschwerden eingenommen wurden,

- Die Wiederherstellung beziehungsweise Ermöglichung von Teilhabe im Beruf und gesellschaftlichen Leben,

- Die Behandlung körperlicher und psychischer Komorbidität.

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-2

In der Regel werden Medikamentenabhängige in Einrichtungen zur medizinischen Rehabilitation für Alkoholabhängigkeit vermittelt. Die Empfehlung 4.1-2, hier bevorzugt solche Einrichtungen zu wählen, die über ein spezifisches Angebot für Medikamentenabhängige verfügen, gründet sich auf die besondere therapeutische Konstellation bei dieser Klientel:

- Für Medikamentenabhängige ist es häufig besonders schwer, sich die Tatsache einer Abhängigkeit und die Notwendigkeit einer künftigen Abstinenz zu akzeptieren, da sie das Medikament ja in der Regel wegen einer körperlichen beziehungsweise psychischen Beschwerde ärztlich verordnet bekamen und diese Beschwerden oftmals weiter existieren beziehungsweise ihre Rückkehr bei Absetzen befürchtet wird.

- Die Anamnese und Erstellung des Behandlungsplans hat entsprechend sehr breit über alle körperlichen und psychischen Beschwerden zu erfolgen. Insbesondere bei körperlichen Beschwerden erfordert dies immer eine ärztliche Einbeziehung.

- Hierbei ist insbesondere abzuklären, ob sich die Medikamenteneinnahme bis zuletzt ausschließlich auf die Linderung der ursprünglichen Beschwerden beschränkt oder sich im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung auf andere Situationen zur kurzfristigen Befindlichkeitsveränderung generalisiert hat.

- Insbesondere bei anhaltenden körperlichen Beschwerden (insbesondere Schmerzen) ist mitunter kein einfaches Absetzen aller Arzneimittel mit Suchtpotenzial möglich, vielmehr bedarf es eines Abwägens zwischen kurz- und langfristigen Vor- und Nachteilen der verschiedenen Behandlungsoptionen im Einzelfall. Hierbei ist insbesondere ein Konsens

mit den ärztlichen Vorbehandler*innen herzustellen. Ist letzteres nicht möglich, so sind die Betroffenen dabei zu unterstützen sich von ihren bisherigen ärztlichen Behandler*innen zu trennen und einen geeigneteren Behandler*innen zu suchen.

- Erst danach kann im Einzelfall festgelegt werden, ob der inhaltliche Schwerpunkt der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter im Einzelfall eher auf einem verstärkten Aushalten von körperlichem oder psychischem Unwohlsein, einer alternativen (psychotherapeutische) Behandlung der Primärbeschwerden, einer Reduktion beziehungsweise Optimierung der Medikamenteneinnahme oder einer Umstellung auf eine andere Medikation zu liegen hat.

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-3

Die Empfehlung 4.1-3, berufliche und soziale Teilhabebedarfe im Rahmen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zu ermitteln und zu behandeln, hat folgenden Hintergrund:

- Medikamente mit Suchtpotenzial werden häufig als leistungssteigernde Schnelllösung bei beruflichen oder sozialen Teilhabestörungen (zum Beispiel Fehlzeiten, Überforderung oder Konflikte am Arbeitsplatz) eingenommen.

- Bis zum erstmaligen Antritt einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter vergehen in der Regel viele Jahre, in der es durch die Medikamentenabhängigkeit zu immer mehr beruflichen und sozialen Teilhabestörungen kommt, die bei Abstinenz nicht von selbst wieder verschwinden.

- Der Erfolg von Suchtbehandlungen kann nachweislich durch eine teilhabebezogene Behandlungsperspektive entscheidend gesteigert werden.

Hier können die Behandlungsmaßnahmen zur sogenannten Berufsorientierten Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA) – unter anderem Stressbewältigung am Arbeitsplatz, Bewerbungstraining, Belastungserprobung, EDV-Training, Betriebspraktika – Anwendung finden [262].

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-4

Bezüglich der Auswahl einzelner Psychotherapieverfahren verweist die Empfehlung 4.1-4 auf die Evidenzlage bei anderen Suchterkrankungen. Bei der Behandlung der Alkoholabhängigkeit haben Motivational Interviewing, Kognitive Verhaltenstherapie und Paartherapie die klarste Evidenz.

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-5

Die Empfehlung 4.1-5 weist auf die Bedeutung der Patientenaufklärung im Rahmen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter hin. Für die bei Medikamentenabhängigkeit besonders schwierige gemeinsame Vereinbarung von individuellen Therapiezielen (vgl. die Ausführungen zu Empfehlung 4.1-2) ist es besonders wichtig, dass die Betroffenen verstehen, dass die kurzfristig angenehme und segensreiche Hauptwirkung bei Medikamenten mit Suchtpotential immer von einer zwar geringeren aber länger anhaltenden unangenehmen Nachwirkung gefolgt wird, die die erneute Einnahme des Medikaments befördert [263].

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-6

Die Empfehlung 4.1-6 zur Einbeziehung von Angehörigen in die Behandlung trägt der Tatsache Rechnung, dass:

- Angehörige in erheblichen Ausmaß unter der Folge einer Suchterkrankung zu leiden haben und sich fast immer ungünstige, spannungsgeladene Interaktionsmuster zwischen den Beteiligten entwickelt haben,

- die Wirksamkeit einer Suchtbehandlung dadurch gesteigert werden kann, die Betroffenen und ihre Angehörigen im Gespräch über die Suchtvergangenheit ihr Verständnis für einander erhöhen, wieder zu mehr positiv getönter Interaktion und gegenseitigem Vertrauen finden und bezüglich der Veränderungsziele an einem Strang ziehen.

Die Maßnahmen reichen hierbei von sogenannten Angehörigenseminaren bis hin zu gemeinsamer Paar- beziehungsweise Familientherapie.

Hintergrund und Evidenz zu den Empfehlungen 4.1-7 und 4.1-8

Die Empfehlungen 4.1-7 und 4.1-8 beziehen sich auf das Behandlungssetting. Grundsätzlich kann eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter ambulant, ganztägig ambulant (teilstationär), stationär sowie als Kombination dieser Leistungsformen erfolgen. Alle drei Behandlungssettings weisen in etwa gleich gute Erfolgsquoten auf [264–266]. Bislang liegen auch keine evidenzbasierten Indikationskriterien vor, wann welches Behandlungssetting erfolgversprechender ist. Insofern kommt hier der Präferenz der Patient*innen große Bedeutung zu. Andererseits orientieren sich die Leistungsträger bei der Bewilligung des Behandlungssettings maßgeblich an der Stabilität des sozialen Stützsystems und der beruflichen Integration der Betroffenen. In der Leitlinie wird ein stationäres Behandlungssetting empfohlen bei:

- behandlungsbedürftiger somatischer oder psychischer Komorbidität: Hier ist im stationären Setting eine integrierte Behandlung der verschiedenen Störungsbereiche im interdisziplinaren Team eher gewährleistet. Außerdem können die Betroffenen innerhalb des stationären Rahmens vor Überforderung und Therapieabbruch besser geschützt werden [267],

- erfolgloser ambulanter Behandlung, die auf eine unzureichende Fähigkeit zur Einhaltung von Abstinenz hindeutet.

Hintergrund und Evidenz zur Empfehlung 4.1-9

Die Empfehlung 4.1-9 bezieht sich auf die Behandlungsdauer. Eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter wird von den Leistungsträgern in unterschiedlicher Dauer bewilligt. Während die bewilligte Behandlungsdauer bei ambulanter Behandlung in der Regel sechs Monate beträgt, wird bei stationärer Behandlung von Medikamentenabhängigkeit zwischen sechswöchiger sogenannter Auffangbehandlung im Anschluss an einen Rückfall, achtwöchiger Kurzzeitbehandlung und 10 bis 12-wöchiger Langzeitbehandlung unterschieden. Die bewilligten Behandlungsdauern im stationären Setting sind aber als Budget verstanden, das heißt hiervon kann solange im Einzelfall nach unten oder oben abgewichen werden, wie die Gesamtbehandlungsdauer der bewilligten Maßnahmen in einer Einrichtung nicht überschritten wird.

Forschungsbedarf

Hinsichtlich der Psychotherapieverfahren in der Behandlung der Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial besteht Forschungsbedarf zur Beantwortung folgender Fragen:

- Wie häufig bleibt der Medikamentengebrauch auch bei Abhängigen ausschließlich auf die Linderung ursprünglicher Beschwerden beschränkt und wie häufig hat er sich im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung auf andere Situationen zur kurzfristigen Befindlichkeitsveränderung generalisiert?

- Bestehen geschlechtsspezifische und altersspezifische Unterschiede bei Medikamentenabhängigen, die in der Behandlungsplanung zu berücksichtigen sind?

- Welche evidenzbasierten psychotherapeutischen Verfahren gibt es zur Behandlung von Patient*innen mit schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial?

- Sollte Medikamentenabhängigen auch zu Abstinenz von Alkohol und Drogen geraten werden, da der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen für diese Patientengruppe ein besonderes Risiko im Sinne einer sogenannten Suchtverlagerung darstellt?