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Quantitative Auswertung der Gewalterfahrungen

Im Dokument Friederike Stahlmann (Seite 33-36)

4. DISKUSSION DER WAHRSCHEINLICHKEIT VON GEWALTERFAHRUNGEN

4.1 Quantitative Auswertung der Gewalterfahrungen

Da viele Abgeschobene so schnell wie möglich das Land wieder verlassen, sind in der statistischen Auswer-tung nur die Erfahrungen jener berücksichtigt, die länger als zwei Monate in Afghanistan waren. Dies schließt eine Reihe von Vorfällen aus, denn die beschriebenen Gefahren können auch in kürzester Zeit eintreten. So haben Abgeschobene in der ersten Woche ihres Aufenthalts in Afghanistan unter anderem die folgenden Erfahrungen gemacht: die Festnahme und Misshandlung als „Gefährder“, Raubüberfälle, zu denen auch ein Überfall im Taxi vom Flughafen in die Stadt gehörte, Verletzung durch Anschläge, die Erpressung der Familie, an die Taliban verraten zu werden, Todesdrohungen der Taliban an Verwandte, Festnahme und Folter an Kontrollposten, Misshandlungen durch Fremde auf der Straße, aber auch durch Dorfbewohner und Familien bei der Rückkehr in den Heimatort.

Insgesamt sind die Erfahrungen von 38 Abgeschobenen nicht in die quantitative Analyse eingeflossen, weil sie innerhalb der ersten zwei Monate nach ihrer Abschiebung Afghanistan wieder verlassen haben oder in dieser Zeit der Kontakt zu ihnen abbrach, sie unmittelbar nach der Ankunft Suizid begangen (zwei Fälle), oder sich explizit weigerten, über Gewalterfahrungen zu sprechen (zehn Fälle). Die quantitative Analyse berück-sichtigt daher 63 Abgeschobene. Von diesen 63 haben 57 Gewalterfahrungen gemacht, davon 34 mehr als einmal.

TABELLE 1: BETROFFENE VON GEWALTERFAHRUNGEN (N=63)*

Absolute Zahl

Betroffene Prozent

Betroffene Zahl

Vorfälle

Von Gewalt Betroffene 57 90,5 134

Von mehreren Gewalterfahrungen Betroffene 34 54,0

* nicht berücksichtigt: 2x Tod durch Suizid, 38x innerhalb von zwei Monaten ausgereist oder Kontaktabbruch, 10x k.A.

Da die explorativen Interviews ergeben hatten, dass Betroffene Gewalterfahrungen und Sicherheitsproble-me, die sie als alltäglich wahrnehmen oder als bekannt voraussetzen, mitunter nicht von sich aus berichten, wurde eine Reihe von Optionen angeboten:126 Kriminalität, Weiterverfolgung bei Vorverfolgung,127 Übergriffe oder Androhung von Gewalt aufgrund des Status als Rückkehrer gegen sie oder ihre Familien bzw. Freunde, gegen Abgeschobene aufgrund bekanntgewordenen Verhaltens in Deutschland, Opfer durch kriegerische Handlungen, Verhaftung, Übergriffe oder angedrohte Gewalt durch staatliche oder aufständische Akteure.

Daneben wurden in dem Fragebogen, der sich an Kontaktpersonen richtet, auch Selbstverletzung und Suizid abgefragt. Da diese zwar auch Gewalt darstellen, jedoch theoretisch auch in Deutschland hätten auftreten können, wurden sie statistisch nicht gewertet.

Die 134 Vorfälle von Gewalt lassen sich unterteilen in solche, die direkt durch den Status als Abgeschobene aus Europa begründet wurden, und solche, die auch ohne diesen Aufenthalt hätten eintreten können.

Zu ersteren zählen Gewalterfahrungen aufgrund der Flucht nach Europa, angenommenen Verhaltens in Europa, der Abschiebung oder andauernden Kontakts zu EuropäerInnen, von denen rund 52 Prozent der Abgeschobenen betroffen waren. Unter diesen wurden auch Übergriffe auf Angehörige aufgrund dieses Auf-enthalts aufgenommen, sofern sie in Zusammenhang mit der Rückkehr der Abgeschobenen standen. Neben Taliban, Fremden in der Öffentlichkeit und Bekannten, wie der Familie, Nachbarn und Vermietern, traten als sonstige Täter Kreditgeber von Krediten für die Flucht, Polizisten und Ärzte auf:

TABELLE 2: GEWALTERFAHRUNGEN AUFGRUND DES AUFENTHALTS IN EUROPA (N=63)*

Absolute Zahl

Betroffene Prozent

Betroffene Zahl Vorfälle Gewalterfahrungen aufgrund des Aufenthalts in Europa 33 52,3 60 Akteure, von denen Gewalt ausging:

Taliban 10 15,9 15

Fremde in Öffentlichkeit 13 20,6 20

Familie, Nachbarn, Vermieter 15 23,8 20

Sonstige Täter 5 7,9 5

* nicht eingerechnet: 2x Tod durch Suizid, 38x innerhalb von zwei Monaten ausgereist oder Kontaktabbruch, 10x k.A.

Zu Erfahrungen allgemeiner Gewalt gehören solche, die auch ohne den Aufenthalt in Europa oder die Ab-schiebung hätten auftreten können. Dazu zählen solche mit direktem Kriegsbezug, worunter physische Verletzungen durch Anschläge und Kampfhandlungen sowie die Zerstörung einer Unterkunft durch einen Anschlag und ein Fall von durch Kämpfe erzwungene gewaltsame Vertreibung, Zwangsrekrutierungen und gewaltsame Übergriffe an Kontrollposten durch Kriegsparteien aufgenommen wurden, sofern sie keinen offensichtlichen Bezug zum Aufenthalt in Europa hatten. Unter allgemeine Gefahren zählen zudem Fälle von Weiterverfolgung bei Vorverfolgung und kriminelle Überfälle.

126 S. detailliert in Anhang II

127 Darunter fallen alle Gewalterfahrungen im Zuge von Verfolgung, die schon bestand, bevor die Betroffenen nach Deutschland geflüchtet waren.

TABELLE 3: GEWALTERFAHRUNGEN AUFGRUND ALLGEMEINER GEWALT (N=63)*

Absolute Zahl

Betroffene Prozent

Betroffene Zahl

Vorfälle

Allgemeine Gewalt 38 60,3 74

Angriffe mit Kriegsbezug 11 17,5 14

Kriminalität 23 36,5 47

Weiterverfolgung 13 20,6 13

* nicht eingerechnet: 2x Tod durch Suizid, 38x innerhalb von zwei Monaten ausgereist oder Kontaktabbruch, 10x k.A.

Mitunter konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob Übergriffe allgemeiner Gewalt oder spezifischer Gewalt gegen Abgeschobene zuzurechnen sind, oder ob Angriffe gezielt oder willkürlich erfolgten, weil sich Täter nicht identifiziert oder erklärt haben. Dies ist in Afghanistan nicht unüblich. Selbst bei öffentlichkeitswirksa-men Vorkommnissen ist oft schwer zuzuordnen, wer tatsächlich wofür verantwortlich ist und wodurch Gewalt motiviert ist. So wird auch in Kabul immer wieder öffentlich diskutiert, ob an Kampfhandlungen oder Anschlä-gen in der Stadt Taliban beteiligt waren oder nicht.128 So besteht beispielsweise in einem Fall der begründete Verdacht, dass ein Abgeschobener aufgrund seiner früheren Tätigkeit bei der Armee in einem Akt der Ver-folgung bei einem Besuch seiner Schwester in Kabul vor deren Haus niedergestochen wurde. Dafür spricht nicht nur, dass er schon vor seiner Flucht nach Europa Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit ausgesetzt war, sondern auch, dass er nicht zusätzlich ausgeraubt wurde. Die Angreifer haben jedoch nicht erklärt, dass der Übergriff ein Akt der Verfolgung war, weshalb der Vorfall nicht als Weiterverfolgung gelistet wurde, sondern als krimineller Vorfall. Nicht berücksichtigt wurde dagegen Gewalt gegen Angehörige, bei denen der Zusam-menhang zu der Rückkehr der Abgeschobenen zwar plausibel vermutet werden kann, jedoch durch die Täter nicht benannt wurde. So wurde z.B. der Vater eines Abgeschobenen, der seinen Sohn in dessen Versteck in Kabul besucht hatte, auf der Heimreise ermordet. Auch wenn die Aussagen der Mitreisenden gegenüber der Familie plausibel scheinen, dass die Täter Taliban waren, blieb unklar, ob der Mord in Zusammenhang mit der Rückkehr des Sohnes und dem Besuch in Kabul stand, weshalb er nicht in der Listung berücksichtigt wurde.

Nicht separat eingerechnet wurden zudem wiederholte Vorfälle wie mehrfache Drohungen oder Angriffe in der gleichen Sache durch die gleichen Täter. Bekamen beispielsweise Taliban-Verfolgte mehrere Drohbriefe und -anrufe und mussten ihre Familien deshalb fliehen, wurde dies als ein Vorfall gewertet. Ebenfalls nicht gerechnet wurden Übergriffe, die als täglich beschrieben wurden, wie dies beispielsweise bei Übergriffen auf Obdachlose der Fall ist, weil die Gesamtzahl der Vorfälle nicht ermittelt werden konnte. Ebenfalls nicht gerechnet wurden Beleidigungen als kafir, auch wenn sie ein tatsächliches Risiko darstellen.129 Solche Be-leidigungen sind daher auch regelmäßig ein Grund, von Familien und Nachbarschaften ausgeschlossen zu werden. Ebenfalls nicht eingerechnet wurde das Problem von vier Abgeschobenen, denen die Ausstellung einer Tazkira, also des nationalen Identitätsausweises, verweigert wurde, weil sie Abgeschobene waren. Kei-ne Tazkira zu haben, stellt zwar zumindest an Kontrollposten ein Sicherheitsrisiko dar130 und verhindert den Zugang zu humanitären Hilfen, regulären staatlichen Leistungen wie Gesundheitswesen, Polizei und

Justiz-128 Ansar 01.20.2020, Vgl. UNAMA (o. J.)

129 Vgl. Clark/Qaane 21.05.2015, EASO December 2017a: 23ff., Osman 29.04.2015, Stahlmann 28.03.2018: 314ff.

130 Vgl. Ghafoor in Asylos August 2017: 18

wesen sowie dem Kauf von Land und nicht zuletzt zu großen Teilen des Arbeits- und Wohnungsmarkts.131 Es führte jedoch im Gegensatz zu der unterlassenen Hilfeleistung durch den Arzt bei den Betroffenen noch nicht direkt zu einem physischen Schaden.

Im Dokument Friederike Stahlmann (Seite 33-36)