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Hoffnung auf Schutz vor Machtmissbrauch und Entrechtung

Im Dokument Friederike Stahlmann (Seite 97-100)

EINLEITUNG: ALLGEMEINE ENTWICKLUNGEN DER HUMANITÄREN LAGE

2. HOFFNUNG AUF BESSERUNG?

2.2 Hoffnung auf Schutz vor Machtmissbrauch und Entrechtung

Die Hoffnung auf den Schutz vor zumindest den extremsten Formen des Machtmissbrauchs durch die Macht-habenden oder die Garantie fundamentaler Rechte, würden nicht nur effektiven Frieden, sondern angesichts einer zu erwartenden erheblichen Ausweitung der Macht der Taliban zumindest deren Bereitschaft dazu vo-raussetzen. Die Hoffnung, die von manchen mit einer kompletten Machtübernahme der Taliban verbunden wird, besteht darin, dass möglicherweise Kriminalität und auch Korruption zurückgehen398 – zumindest sofern Übergriffe nicht von ihren Verbündeten ausgehen399 und die fortschreitende Verelendung nicht noch mehr Menschen in die Kriminalität zwingt. Bisher scheinen die Taliban wegen geringerer Korruption vor allem der

389 Stahlmann 28.03.2018: 56ff., vgl. Ruttig 15.04.2021 390 Stahlmann 28.03.2018: 336ff., vgl. Hadid/Qazizai 18.12.2020 391 Ruttig 15.04.2021

392 Vgl. Amiry 04.02.2021, Koelbl 08.05.2021, Shaheed 25.03.2021, Wieland-Karimi 28.04.2021

393 Vgl. Al Jazeera 17.06.2020, Ashrafi 23.03.2021, UNAMA 23.02.2016 und UNAMA June 2020, Watchlist on Children and Armed Conflict 2017 394 UNAMA April 2021: 1, vgl. Constable 25.10.2020,

395 Koelbl 08.05.2021

396 Vgl. Stahlmann 28.03.2018: 60ff., Harpviken 2021, Watkins/Sharan April 2021 397 Vgl. Harpviken 2021 zu aktuellen Interessen und Positionen.

398 Vgl. Feroz 20.04.2021

399 Erfahrungsgemäß muss Machtmissbrauch durch lokale Einheiten der Taliban mitunter eklatant sein, um zu einer Disziplinierung oder dem Ausschluss zu führen (vgl.

Osman 23.22.2016). Vgl. HRW 30.06.2020.

Justiz und beispielsweise in der Regelung von Landrechtsstreitigkeiten lokal durchaus an Legitimität gegen-über der Regierung zu gewinnen, obwohl es auch zu Taliban-Gerichtshöfen Berichte von Korruption gibt.400 Es deutet allerdings nichts daraufhin, dass die Taliban bereit wären, sich inhaltlich oder in Form einer tatsäch-lichen Machtteilung auf ernstzunehmende Kompromisse bezüglich Fragen der Demokratie oder Menschen-rechte einzulassen. Die Regierung hat nach den Vorleistungen, die für das Zustandekommen des Abzugs-abkommen zwischen den USA und den Taliban gemacht wurden,401 und angesichts des bedingungslosen Abzugs der internationalen Truppen kaum noch Verhandlungsmasse. Der Machtverlust der ohnehin fragilen und intern verfeindeten Regierung hat sich in den letzten Monaten zudem beschleunigt und die Ankündi-gung eines bedinAnkündi-gungslosen Abzugs der internationalen Truppen bis spätestens zum 11.09.2021 deutet nicht daraufhin, dass sich daran etwas ändern könnte. Zugleich ist die internationale Anerkennung der Tali-ban als zumindest tolerierbarer Regierungsfraktion weitgehend vollzogen. Wie Habiba Sarabi im März 2020 betonte, liest sich schon das Abzugsabkommen zwischen den USA und den Taliban vom 29. Februar 2020 wie eine internationale Anerkennung des „Islamischen Emirats“, also der Taliban, als einer Regierung. Die zivil-gesellschaftlichen Akteure in der Delegation der republikanischen Seite sind bezeichnenderweise in weitere Verhandlungsformate nicht eingebunden.402 Susanne Koelbl zitierte einen Teilnehmer der Doha-Verhandlun-gen damit, dass sich die Taliban so verhielten, „als hätte die Regierung in Kabul kapituliert und man müsse nur noch die Bedingungen ihrer Unterwerfung organisieren.“403 Thomas Ruttig zufolge sind die Taliban über-zeugt, dass „ein Friedensschluss und eine Machtteilung nur noch zu ihren Bedingungen möglich“404 wer-den. Zu diesem Selbstbewusstsein mag beitragen, dass die Taliban landesweit die Verfolgung ihrer Gegner realisieren können, und dass die effektive Kontrolle der Bevölkerung durch Überwachung und Besteuerung in der Regel ihrer militärischen Kontrolle vorausgeht und somit deutlich größere Gebiete und auch Provinz-hauptstädte umfasst, als die, in denen sie die alleinigen Machthaber sind. Schon 2018 wurde dokumentiert, dass die Taliban selbst in Teilen Kabuls in der Lage sind, Steuern einzutreiben.405 Auch dass die Taliban mit Beginn der Verhandlungen ihre Angriffe und gezielte, öffentlichkeitswirksame Mordanschläge auf staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure ausgeweitet haben,406 zeigt, dass sie sich in einer Position der Stärke sehen, die ihnen erlaubt, selbst kurzfristig keine Zugeständnisse mehr machen zu müssen. Offensichtlich sind sie bisher auch ökonomisch in der Lage, trotz der grassierenden Not das hohe Niveau von Kampfhandlungen noch auszuweiten. So stieg die Zahl der Angriffe im ersten Quartal 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 37 Prozent.407

Doch auch wenn beispielsweise aufgrund der in Aussicht gestellten Gelder Kompromisse, wie zum Beispiel eine Garantie von Grundrechten oder der Verzicht auf Vergeltungsmaßnahmen vereinbart würden, bleibt die Frage, ob die Führung der Taliban bereit und in der Lage wäre, diese auch intern durchzusetzen. Human Rights Watch warnt in seiner Studie, dass zwischen offiziellen Verlautbarungen der Taliban bezüglich der Gewährung von Rechten und ihrer tatsächlichen Praxis vor Ort ein großer Unterschied bestünde, was auf mangelnden Konsens innerhalb der Taliban hindeutet. Eine Übereinkunft zum Schutz von Menschenrechten in einem Friedensvertrag würde somit nicht notwendig bedeuten, dass diese auch in der lokalen Praxis

um-400 BBC News 08.06.2017, Mackenzie/Razmal 03.12.2017, Jackson 2018: 19f., Saifullah 15.03.2017, Walsh/CNN 14.04.2021, Weigand 07.08.2017 401 Darunter die Freilassung von 5000 Taliban-Kämpfern (vgl. Koelbl 08.05.2021).

402 Beispiel in Ruttig 02.04.2021 403 Koelbl 16.10.2020

404 Ruttig 14.04.2021, vgl. Maley 28.12.2020 405 Jackson 2018: 22

406 Quilty 12.10.2020, UNAMA February 2021c und April 2021 407 SIGAR 30.04.2021: 29

gesetzt würde.408 Auch Habiba Sarabi betonte, dass die Taliban, die mit den USA über das Abzugsabkommen verhandelt haben, wenig mit denen zu tun haben, die tatsächlich in den Orten regieren. Während erstere ihre Töchter auf internationale Schulen schickten und von internationalen Geschäften lebten, seien letztere kaum von denen zu unterscheiden, die bis 2001 regierten. Und immerhin 93 Prozent der Bevölkerung gaben in 2019 an, Angst vor einer Begegnung mit den Taliban zu haben.409

Human Rights Watch dokumentierte zudem, dass Restriktionen und die Missachtung von auch lokal gefor-derten Grundrechten zunehmen, sobald Taliban ihre Kontrolle in einem Gebiet konsolidieren. Der Organisa-tion zufolge ist das auch deshalb besorgniserregend, weil mit dem Schwinden des Einflusses der Regierung weniger wahrscheinlich wird, dass sich die Taliban auf Forderungen der Bevölkerung oder der Partner der Friedensverhandlungen nach Wahrung von Grundrechten einlassen werden.410

Es stellt sich somit auch die Frage, ob es externe Akteure gibt, die bereit und in der Lage wären, mögliche in-haltliche Kompromisse eines Friedensvertrags zu verteidigen. Die Verknüpfung der durch die internationale Geberkonferenz im November 2020 zugesagten Gelder mit der Einhaltung von Menschenrechtsstandards und die jüngeren Beteuerungen, auch nach dem Abzug der internationalen Truppen durch Entwicklungshilfe politischen Einfluss nehmen zu wollen,411 ist diesbezüglich zwar ein positives Zeichen, denn auch eine Tali-ban-Regierung wäre für effektives Regierungshandeln auf internationale Unterstützung angewiesen.412 Die Hoffnung wäre, dass es lokale Gemeinschaften in ihren Verhandlungen mit den Taliban um Zugeständnisse stärken könnte.413 Von Seiten der Geber war jedoch schon bei den bisherigen Regierungen in Kabul die Be-reitschaft und Fähigkeit, Menschenrechte sowie grundlegende Standards der Regierungsführung durchzu-setzen, kaum vorhanden. Und dass die Taliban sich vorschreiben lassen, wie sie mit Gefangenen umzugehen haben, welche prozessrechtlichen Standards gewahrt werden müssen, um faire Verfahren zu bieten, dass sie auf Kollektivstrafen, Familienhaftung und Körperstrafen verzichten und anerkennen, dass Religionsfreiheit auch die Abkehr vom Glauben schützt oder Frauen auch am Leben jenseits ihrer eigenen vier Wände teil-nehmen dürfen, kann ebenso wenig erwartet werden, wie dass sie auf die systematische Unterdrückung der Presse und jeder Form von Kritik, sowie die politische Verfolgung ihrer Gegner verzichten. Wie Human Rights Watch betont, haben die Taliban in ihrer bisherigen Regierungsführung und durch die Unterdrückung jeg-licher Kritik deutlich gemacht, dass sie sich der Bevölkerung nicht rechenschaftspflichtig fühlen.414 Dass sie vorhaben, den USA oder europäischen Ländern gegenüber Rechenschaft abzulegen, oder ein tatsächliches Mitspracherecht in der Nutzung von Mitteln oder gar die Bereitschaft zu effektiver Kontrolle der Einhaltung von Menschenrechtsstandards gewähren würden, erscheint illusorisch. Zwar wurde schon bisher geduldet, dass mit Geldern der Entwicklungshilfe Schulen und Lehrer bezahlt werden, in denen die Curricula der Ta-liban unterrichtet werden.415 Mit den Geldern europäischer Steuerzahler jedoch Richter zu bezahlen, deren Urteile in Auspeitschungen, Amputationen und Hinrichtungen münden, scheint schwer vermittelbar.

Für zivilgesellschaftliche Akteure, die sich bisher den Taliban widersetzt haben, bleiben auch dann keine Handlungsspielräume mehr, wenn sie wie bisher schon bereit wären, sich der alltäglichen Gefahr von

Ver-408 HRW 30.06.2020 409 The Asia Foundation 2019: 61

410 HRW 30.06.2020, vgl. HRW 30.06.2020, Jackson 2018: 20f., NIC 02.04.2021, Saifullah 15.03.2017, Walsh/CNN 14.04.2021, UNHCR August 2018: 65ff., USDOS 10.06.2020 411 Clark May 2020: 32, Gebauer/Schult 16.04.2021, Jahanmal 17.11.2020, USDOS 27.04.2021

412 Vgl. Clark May 2020, Ruttig 15.04.2021 413 Vgl. NIC 02.04.2021, Smith April 2020 414 HRW 30.06.2020

415 Vgl. BBC News 08.06.2017, Clark/Bjelica 06.12.2018, Giustozzi 23.08.2017a: 20, HRW 30.06.2020, Smith April 2020

folgung auszusetzen, die mit zunehmender Macht der Taliban erwartungsgemäß effizienter wird.416 Die noch gesteigerte Gefahr andauernder Verfolgung wurde jüngst von der deutschen Bundesregierung bezüglich der Gefährdung von Ortskräften anerkannt,417 gilt jedoch in der Verfolgungslogik der Taliban grundsätzlich für alle, die sich bisher der Agenda der Taliban widersetzt haben oder von ihnen zu Gegnern deklariert wurden.

Ausnahmen hierzu könnten große soziale oder militärische Netzwerke wie auch Fachkräfte sein, die glaub-haft bereit sind, zu den Taliban überlaufen.418

In jedem Fall muss jedoch angesichts der Übereinstimmung großer Teile der Bevölkerung mit den Taliban damit gerechnet werden, dass die Verfolgung von Rückkehrern aus Europa aus religiösen und politischen Gründen ausgeweitet wird. Absehbar ist zudem, dass die Dokumentation von Kriegsverbrechen, Menschen-rechtsverstößen und insbesondere politischer Verfolgung noch sehr viel schwieriger und vielen Fällen ganz unmöglich wird.419

Im Dokument Friederike Stahlmann (Seite 97-100)