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Prozesse der Ausgrenzung

Im Dokument Erziehung & Unterricht (Seite 33-36)

Behörden, Wissenschaft und Rechtsgelehrte sahen einen Erziehungsnotstand und beklag-ten sogenannte „Straßenkindheibeklag-ten“, das „Herumstreunen und Herumlungern“ der Heran-wachsenden. Der öffentliche Diskurs schuf den Topos der „verwahrlosten Jugend“ der unte-ren Klassen, die Eigentum nicht respektiere, „arbeitsscheu dem Schleichhandel ergeben und auch sonst vollkommen asozial eingestellt“ sei und sich zu kriminellen Banden zu-sammenschließe. Schuld waren in dieser Sichtweise die berufstätigen, alleinerziehenden und geschiedenen Mütter. Im Krieg und inmitten der sozialen Not der Nachkriegszeit wa-ren unterschiedliche Lebensformen entstanden, meist mutterzentriert und vaterlos, die vom bürgerlichen Leitbild der Kleinfamilie abwichen und abgewertet wurden. Unverheira-tete Frauen galten als „Mangelexistenz“, sogenannte „unvollständige Familien“ als Verstoß gegen die „natürliche Ordnung“, als eine defizitäre Konstellation, in der Schäden für das Kind aufgrund des „Kontroll-Lochs“ durch den abwesenden Vater befürchtet wurden. Eine große Zahl der Kinder dieser unterprivilegierten Familien litt an einem Integrationsdefizit bei Arbeit und Wohnen, in der Erziehung und Kultur. Dieses Defizit machte sie sozial ver-wundbar und bedrohte sie mit gesellschaftlichem Ausschluss. Als „Bodensatz“ der Gesell-schaft waren diese Kinder und Jugendlichen zu überwachen, zu disziplinieren und zu ver-walten. In einem arbeitsteiligen Prozess griffen aufeinander abgestimmt Fürsorge, Ge-richte, Medizin und Kinderpsychiatrie, Pädagogik und Schule in die in bitterer Armut le-benden Familien ein. Hauptziel war es, die Kinder dieser „gefährlichen Klassen“ zu „brauch-baren Mitgliedern“ der Gesellschaft zu machen. Integration durch Ausschluss war der Weg:

Die „Verwahrlosten“ sollten eine Zeit lang in Institutionen der Fürsorge- und Heim-erziehung weggesperrt werden, um ihnen dort Renitenz und Unangepasstheit, Faulheit, Triebhaftigkeit und kriminelle Neigungen auszutreiben (Schreiber 2015, S. 101-105; Schreiber 2014, S. 36).

In den Kinder- und Erziehungsheimen erlebten die Kinder und Jugendlichen von den 1940er Jahren bis in die 1970er Jahre systematische Menschenrechtsverletzungen. Die allumfassende Gewalt, der sie ausgesetzt waren, beeinträchtigt sie ihr Leben lang. Walter Müller erinnert sich: „Zurückblickend in die damalige Zeit ist fast nichts erhalten geblieben, was angenehme Erinnerungen auslösen könnte. Ein Bild, gemalt in tiefem Grau, kalt umrahmt und irgendwie endlos. Endlos traurig, endlos bitter und endlos hoffnungslos.

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Ohnmacht gepaart mit Aussichtslosigkeit. Als großes Unglück in Kombination mit Un-gerechtigkeit habe ich diese Zeit empfunden. Ich fühlte mich ausgeliefert, verschachert, verkauft, hatte ich doch keinen Wert mehr. Und man machte sich über mich her: autoritär, reaktionär, totalitär, sadistisch, kontraproduktiv, verabscheuungswürdig, primitiv, unpro-fessionell. (...) Einweisung in einen neuen Lebensabschnitt mit alten Mustern: Herzlosig-keit, Ignoranz, Kälte, Unverständnis gepaart mit Drohungen. Bei Nichtakzeptanz der von der anderen Seite aufgestellten Spielregeln: kalte Duschen, Schläge, Prügel, Essensentzug.

Wenigstens die Strafpalette war vielfältig. Die Möglichkeiten, sich in dieser Palette zu ver-heddern ebenso. Wie ein Labyrinth, allerdings ohne Ausweg. Im Moment des Geschehens nahm ich es einfach so hin. Hatte ich eine andere Möglichkeit? Der Versuch der Anpassung.

Der Versuch, es allen recht zu machen. Der Versuch, sich zu etablieren, einen Platz zu finden, sich zurechtzufinden, sich einzufinden, sich überhaupt zu finden. Das Heimweh irgendwo im Hinterkopf; die Gedanken an die Mutter irgendwo im Herzen.“ (Schreiber 2010, S. 155).

Erst in den letzten Jahren fanden die ehemaligen Heimkinder öffentlich Gehör, Anerken-nung und Würdigung.

ANMERKUNGEN

1 Elfriede Windischbauer: Kindertransporte 1938/39 nach England. Die Rettung von 10.000 jüdischen Kindern:

http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterial-unterricht/methodik-didaktik-1/744_Kindertransporte.pdf (Zugriff 15.12.2017).

2 http://www.neue-heimat-israel.at/Lernmodule/transkripte/flucht-und-vertreibung (Zugriff 15.12.2017).

3

http://www.alte-neue-hei-mat.at/transkripte/transkripte/transkript_neue_heimat_zurechtfinen_in_england_oder_palastina_israel.pdf (Zugriff 15.12.2017).

4

http://www.alte-neue-hei-mat.at/transkripte/transkripte/transkript_neue_heimat_zurechtfinen_in_england_oder_palastina_israel.pdf (Zugriff 15.12.2017).

LITERATUR

Bude, H. (1987): Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Gene-ration, Frankfurt.

Krist, M. & Lichtblau A. (2017): Nationalsozialismus in Wien. Opfer. Täter. Gegner, Innsbruck-Wien-Bo-zen.

Kumar, V. (2016): Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialisti-sche Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945, Innsbruck-Wien-Bozen.

Schreiber, H. (2008): Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. Opfer. Täter. Gegner, Innsbruck-Wien-Bozen.

Horwath, M./Schreiber, H. (1996): Von der Schulbank ans Geschütz. Die Luftwaffenhelfer in Tirol und Vorarlberg 1943–1945, Innsbruck-Wien.

Schreiber, H. (1996): Schule in Tirol und Vorarlberg 1938–1948, Innsbruck-Wien.

Schreiber, H./Vyslozil (2001), W.: SOS-Kinderdorf. Die Dynamik der frühen Jahre. Eine Spurensuche jen-seits der Klischees, Innsbruck-München.

Schreiber, H. (2010): Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck-Wien-Bozen.

Schreiber, H. (2014): Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf, Innsbruck-Wien-Bozen.

Schreiber, H. (2015): Restitution von Würde. Kindheit und Gewalt in Heimen der Stadt Innsbruck, Inns-bruck-Wien-Bozen.

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ZUM AUTOR

Mag. Dr. Horst SCHREIBER, Studium der Geschichte und Romanistik an der Universität Innsbruck.

Dozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Lehrer am Abendgymnasium Inns-bruck; Leiter von _erinnern.at_ Tirol; Herausgeber der Reihe Nationalsozialismus in den österrei-chischen Bundesländern von _erinnern.at_ sowie der Studien zu Geschichte und Politik; Mithe-rausgeber der Gaismair-Jahrbücher und der sozialwissenschaftlichen Reihe transblick.

www.horstschreiber.at; www.heimkinder-reden.at

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