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3. Konsequenzen für die gesellschaftliche Transformation 1. Entwicklungstheoretische Voraussetzungen

3.2. Zur Prognostik der Transformation

Wie läßt sich die Entwicklung Chinas, insbesondere unter dem Aspekt der Mo­

dernisierung und ihrem Indikator Umweltpolitik, theoretisch erfassen und ein­

schätzen, vielleicht gar in ihrem künftigen Verlauf prognostizieren? Den Ver­

such einer sozialwissenschaftlichen Prognose zur Beantwortung dieser Frage hat Johan Galtung, wie folgt, unternommen. Auch die gegenwärtige Modemisie- rungsphase werde zu Ende gehen wegen der ungelösten sozialen Konflikte - Klassenwidersprüche, wie Galtung sie nennt: weniger gerechte Verteilung, mehr Ungleichheit und schließlich Ausbeutung der Massen. Um auf dem Welt­

markt konkurrieren und exportieren zu können, müßten die Arbeiter schlecht be­

zahlt werden. Ihre adäquate Versorgung wiederum gehe auf Kosten der Bauern.

Inflation und (zum Teil verdeckte) Arbeitslosigkeit gingen einher mit der Öff­

nung der Märkte (Galtung 1987, S. 41).

Zur Begründung seiner Prognose stellt Galtung die Hypothese von der

"Verteilungs-Wachstums-Oszillation" auf:

• Die chinesische Geschichte seit 1949 kann interpretiert werden als progressive Oszillation zwischen verteilungs- und wachstumsorientierter Politik.

• Diese Oszillation wird sich auch in Zukunft fortsetzen mit der Folge, daß die gegenwärtige Modemisierungspolitik ihr Ende ebenso erreichen wird wie zu­

vor die Kulturrevolution.

• Diese Oszillation ist nicht als Versuch und Irrtum zu werten, sondern ent­

spricht dem chinesischen Entwicklungskonzept in Konsistenz mit der Kultur­

tradition Chinas (Galtung 1987, S. 33).

Im einzelnen hat Galtung vier jeweils neun Jahre dauernde sozioökonomische Entwicklungsphasen ausgemacht, die entweder dem Typus "Verteilung und So­

zialismus" oder dem Typus "Wachstum und Modernisierung" zuzuordnen sind.

Nach der Revolution von 1949 war bis 1958 die prioritäre Aufgabe Verteilung, insbesondere auf dem Lande. Land wurde umverteilt und als Produktionsmittel kollektiviert. Ökonomische Kontrolle ging vom Lande aus, nicht von den indu­

striellen Zentren. Volkswirtschaftliche Produktivität oder Lebensstandard konn­

ten in diese Periode kaum erhöht werden. Der Wendepunkt ist dann 1958, der große Sprung vorwärts, mit dem Ruf nach Wachstum und Produktivität. Volks­

kommunen werden eingerichtet, Technologien von der Sowjetunion übernom­

men. Verteilung (auch von Macht) ging während dieser Zeit zurück.

Die Antwort hierauf wiederum war die Kulturrevolution von 1966 bis 1969, eigentlich eine soziale Strukturrevolution: mit dem Angriff auf die herrschenden Eliten (Wirtschaft, Intelligenz, Militär, Partei) und mittels Dezentralisierung (self-reliance der Volkskommunen, kleine Fabriken, informelle Ausbildung, Revolutionskomitees; vgl. Myrdal 1985a und b). Das Ergebnis war eine Umver­

teilung der Macht, insbesondere auf der lokalen Ebene, nicht primär des Kon­

sums. Elemente eines Generationenkonflikts waren ebenso präsent wie solche des Klassenkampfes: Jüngere, oft weibliche Studenten protestierten gegen die neue Herrscherklasse der Veteranen des Langen Marsches. Es ging um die Errungenschaften des Klassenkampfes von 1949 und deren Gefährdung durch die neuen Eliten.

Der trade-offist bekannt: Der politische Preis für ein höheres Maß an Gleichheit war der Verlust individueller Freiheit (nicht nur unter den Eliten), von Men­

schenrechten im westlichen Sinne. Der wirtschaftliche Preis war Stagnation:

Wachstumsverluste und Produktivitätsverluste durch mangelnde technologische Entwicklung. Außer der Barfußmedizin (z.B. Akupunktur) und einigen Agrar­

technologien (z.B. biologische Schädlingsbekämpfung, Biogas) wurden kaum

"Volkstechnologien" entwickelt.

Die bisher letzte, noch andauerende Phase der vier Modernisierungen - bei Gat­

tung mit Maos Tod 1976 angesetzt - ist wieder eine des Wachstums. Neue und effiziente Technologie wurde im Ausland geordert. Damit wurden Bürokratie, Kapital und Forschung mit ihren Eliten wieder gestärkt - im Gegenzug zu Parti­

zipation, Arbeit und improvisierender Kreativität. Eine liberalere Orientierung setzte sich zunächst durch. Si Ren Bang (die Viererbande der Kulturrevolution), war eine Propagandaübung, diente der Personalisierung eines sozialen Konflikts und mystifizierte dabei chinesische Entwicklungspolitik. Die eigentlichen

20 Glaeser • Umwelt und Entwicklung in China

Widersprüche liegen darin, daß technologische Entwicklung und Wachstum mit geringerer wirtschaftlicher, sozialer und politischer Gleichverteilung einhergehen (Galtung 1987, S. 34-41).

Galtungs Neun-Jahre-Rhythmus der sozialen Oszillation war zu kühn als Progno­

se und zu starr, um einzutreffen. Zu einfach wäre es aber, auf den Fristablauf 1985 zu verweisen; 1989 fand vor den Augen der schockierten Weltöffenlichkeit mit dem Schießbefehl der überalterten politischen Führung zumindest die innere Liberalisierung ein Ende (vgl. Galtung 1992, S. 17).

Zu fragen ist vielmehr, wie stabil die seit 1978 geschaffenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Institutionen sind, um zu beurteilen, ob soziale Prozesse einen neuerlichen grundsätzlichen Wandel in der Entwicklungspolitik Chinas einleiten können. Auf dem Prüfstand steht die Reversibilität von eineinhalb Jahrzehnten Wachstums- und Modemisierungspolitik. Hierzu vertritt Ste­

fan Brüne die klare Gegenthese zu Galtung mit folgenden Argumenten (Brüne 1993, S. 304-306).

Die Volksrepublik China blickt - seit der Einleitung einer marktorientierten Reform- und Öffnungspolitik im Dezember 1978 - auf eine wirtschaftlich unge­

wöhnlich erfolgreiche Periode zurück. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im Durchschnitt der 80er Jahre um jährlich 9,5 %. In den letzten Jahren betrug das Wachstum 7,7 % für 1991, 12,8 % für 1992 und 13,8 % für das erste Halbjahr 1993. Seit 1978 gelang der Sprung vom vierunddreißigsten auf den dreizehnten Rang der Welthandelsnationen, wobei der Anteil der verarbeiteten Exportgüter bei ungefähr 80 % liegt. Ausländische Direktinvestionen haben sich von 6 Milli­

arden US Dollar im Jahre 1983 auf 13 Milliarden US Dollar 1991 mehr als ver­

doppelt. In den Wachstumszentren an der Küste ist eine starke Zuwanderung aus dem Landesinneren festzustellen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas schlug vor, die Errichtung einer "sozialistischen Marktwirtschaft"

als Staatsziel in der Verfassung zu verankern und die bisherige Formulierung

"Planwirtschaft auf der Grundlage des öffentlichen Eigentums" zu streichen (Brüne 1993, S. 304).

Brüne bewertet die Fakten wie folgt: Das Verhältnis von Wirtschaft und Staat habe sich "grundlegend - und wahrscheinlich irreversibel" im Rahmen von bisher vier Reformphasen gewandelt. In Phase 1 1979 bis 1984 begannen die

Wirt-Schaftsreformen in der Landwirtschaft mit der Einführung privater Bodennut­

zungsrechte. In Phase 2 1984 bis 1988 erhielten die Industriebetriebe, analog zur Landwirtschaft, eigentumsunabhängige betriebswirtschaftliche Entscheidungs­

rechte in den Bereichen Produktion, Absatz, Investition und Personal. Nach einer respektiven Krisenperiode 1988 bis 1991 ist seit Mitte 1991 eine vierte in­

tensivierte Reformphase mit Schwerpunkten in der Liberalisierung des Preis- und Lohnsystems zu verzeichnen. Insgesamt sei die wirtschaftliche Verflechtung mit den ostasiatischen Nachbarländern so weit vorangeschritten, daß keine chinesi­

sche Regierung mehr in der Lage sei, zu der von Galtung prognostizierten neuer­

lichen Verteilungspolitik anstelle des Wachstums zurückzukehren, auch wenn Umfang und Geschwindigkeit der Wirtschaftsliberalisierung - wie Brüne konze­

diert- auch künftig zu Auseinandersetzungen führen können (Brüne 1993, S. 304-305; vgl. auch Schmidt 1993, S. 11).

Zur Einschätzung derart gegensätzlicher Prognosen erscheint es für Sozialwis­

senschaftler unabdingbar, nach möglichen sozialen Begleiterscheinungen der Umwandlung einer Planwirtschaft stalinistischer Prägung in eine Marktwirtschaft zu fragen. Da insbesondere makroskopische empirische Sozialforschung in China noch immer schwierig ist, bietet sich zum Zwecke "gegründeter Spe­

kulation" bei allen Unterschieden der vergleichende Blick nach Osteuropa an, die ehemalige DDR eingeschlossen. Hier haben wir - im Falle der neuen Bun­

desländer leidvoll - gelernt, daß nachholende Modernisierung keiner Automatik folgt, kein problemloser Prozeß sich selbst organisierender Systeme ist, vielmehr kurz- bis mittelfristige Übergangskrisen produziert, die soziale Kosten und Lei­

den verursachen (Zapf 1992).

Parsons mag der Sowjetkommunismus im Zuge der Systemkonvergenz nicht als Abweichung von der westlichen Kultur erschienen sein, wie Klaus Müller betont, sondern als radikaler Versuch, die in der französischen Revolution angelegte Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit zugunsten der Gleichheit zu ent­

scheiden (Müller 1992, S. 117). Insofern bleibe Modernisierung die Klammer, die Kapitalismus und Sozialismus in einen übergeordneten System vereint. Im Widerspruch zu den Erwartungen der traditionellen Modemisierungstheorie ha­

ben sich jedoch soziostrukturelle Hindernisse bei der Transformation gezeigt (Müller 1992, S. 120-131), die sich in China wiederholen könnten.

22 Glaeser • Umwelt und Entwicklung in China

Übersehen wird häufig, daß gegenläufige "objektive" Interessen und infolgedes­

sen Widerstände gegen eine Modemisierungspolitik nicht allein bei der Funktio­

närselite anzutreffen sein können, sondern auch bei anderen und weiteren Teilen der Bevölkerung. Als Werte zählen für die Arbeiter Chinas - ähnlich denen in Osteuropa - vor allem Sicherheit von Arbeitsplatz und Einkommen, eine gesell­

schaftlich egalitäre, wenn nicht privilegierte Position, sowie geringe Arbeits­

intensität.7 In der Transformationsphase drohen dagegen die Wegrationalisie­

rung von Arbeitsplätzen, reale Einkommenskürzungen durch Preissteigerungen, höhere Leistungsanforderungen und individuelle Verantwortung. Die Intelligenz einschließlich der Hochschulabsolventen ist ebenfalls betroffen, wenn Positionen in Partei und Staatsapparat wegfallen. Kürzungen im Sozialetat würden zu Lasten der Rentner und anderer Sozialleistungsempfanger gehen. Kurz: Eine Verengung der Moderisierungspolitik auf kurzfristige Kosteneffizienz läuft Gefahr, die mittelfristigen Ziele der Sozialpolitik ebenso wie die langfristig umweltpolitischen - etwa die Umweltforschung in Landwirtschaft, Industrie und Hochschulbereich - aus dem Auge zu verlieren.

Das sozialstrukturelle Dilemma wird darin sichtbar, daß technischer Fortschritt, andere Produktionsweisen und andere Produkte, neue Dienstleistungen, Wandel, Mobilität und differenziertere Arbeitsqualifikationen erfordern und damit Ge­

winner und Verlierer des sozialen Umbaus produzieren. Somit konkurriert öko­

nomische Modernisierung mit der bisherigen Systemlegitimation, und falls es doch noch zu Erfolgen in der Demokratisierung kommen sollte, könnten diese sogar die Instrumente zur Verhinderung von Reformen liefern.

Ähnlich wie in Osteuropa oder der ehemaligen Sowjetunion ist im Vollzug der Reformpolitik auch eine stärkere Dezentralisierung und Regionalisierung vor­

stellbar (vgl. Müller 1992, S. 128). Neue Nationalismen, fundamentale Religi­

onsgemeinschaften, die entsprechenden regionalen Eliten und nicht-repräsentati- ve Quotierungen (wie zugunsten der Unterkasten in Indien) könnten die Moder- nisierungspolitik der Zentrale in Beijing beeinträchtigen. Proteste, regionale Bewegungen, territoriale Ansprüche und Konflikte könnten die Wachstumserfol­

ge neutralisieren. Stattdessen würden nur die Kosten der Transformation verteilt, verbunden mit der Repression der jeweiligen Minderheiten in immer kleineren Teilregionen, nach dem Modell des ehemaligen Jugoslawien.

7 Zum W ertwandel in China vgl. Inglehart 1989, S. 197-202 bzw. Inglehart 1990, S. 153-157

Die ökonomische Modernisierung Chinas von oben kommt um die soziale Trans­

formation nur auf Kosten der massiven Repression und kulturellen Gängelung der Bevölkerung herum. Dies hat Spannungen erzeugt, die fortschwelen - wie mir aus vertraulichen Gesprächen bekannt ist - die auch eine soziale Explosion als sehr reale Möglichkeit erscheinen lassen. Umweltbewegungen wie in der DDR könnten durchaus zum Kristallisationspunkt für den gesellschaftlichen Um­

sturz werden. Einstellungen und Akzeptanzen, Konfliktpotentiale und sozialer Wandel wären Gegenstand einer empirischen Sozialforschung in China, die den Umständen entsprechend sensible Methoden zu entwickeln hätte, um die Risiken und Spielräume der Veränderung des Umbruchs, des Konsenses auszuloten. Auf die zunehmende Bedeutung der kulturellen Faktoren für die soziale Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung hat Huntington eindringlich hingewiesen (Huntington 1993 S. 3).