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Prädiktive Übertragung statistischer Risiken auf Einzelpersonen

2.4 aussagekraft genetischer tests

2.4.2 Prädiktive Übertragung statistischer Risiken auf Einzelpersonen

Bei der Anwendung genetischer Tests zur Prognose und Prä-diktion kommt zu der in 2.4.1 beschriebenen technischen Un-sicherheit hinzu, dass aus den Befunden einer anonymisierten Stichprobe vieler Menschen für den einzelnen Patienten oder Kunden ein persönliches Risiko abgeleitet wird, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bei einem Teil der Stichprobe beob-achtete Verknüpfung zwischen einem bestimmten Genotyp und einem bestimmten Phänotyp auch bei ihm künftig zutref-fen wird. Dafür leitet man aus den Häufigkeiten in der reprä-sentativen Stichprobe Schätzwerte für die Wahrscheinlichkeit dieser Verknüpfung in der Gesamtpopulation ab und wendet diese auf die untersuchte Person an. Für das Individuum wird somit keine Diagnose gestellt, sondern eine Risikoabschät-zung vorgenommen. Hieraus ergibt sich eine zusätzliche Ge-fahr falscher Voraussagen.

Bei prädiktivem Einsatz von Tests geht es um Voraussagen aufgrund von Merkmalen, die auf die mögliche spätere Aus-prägung einer Krankheit hindeuten können. Hier gibt es meist keine hundertprozentige Gewissheit über eine spätere tatsäch-liche Ausprägung einer Krankheit, weil weitere (noch unbe-kannte) Merkmale hinzukommen müssen, oder weil nicht vorhersehbare Einflüsse bis zum Krankheitsbeginn auftreten und diesen beeinflussen oder gar verhindern. Auch wenn der Test den Genotyp korrekt anzeigen mag, ist eine individuel-le Vorhersage auch aus diesem Grund nur als Risiko-Angabe möglich.

Wenn ein für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ermit-teltes Krankheitsrisiko in eine Voraussage für eine konkrete Person übersetzt wird, nämlich dass sie voraussichtlich erkran-ken wird, und dies später jedoch nicht eintrifft, dann lässt sich dies für diesen konkreten Fall im Nachhinein in Analogie zur oben beschriebenen technischen Testgüte als „falsch positive Voraussage“ bezeichnen. Eine in diesem Sinne „falsch positive“

Prädiktion kann ebenso wie ein aus technischen Gründen falsch positives Testergebnis schädliche Konsequenzen haben, wenn sich die betroffene Person auf dieser Grundlage belasten-den therapeutischen oder präventiven Maßnahmen unterzieht (z. B. Brustamputation und Eierstockentfernung bei Vorher-sage einer erblichen Wahrscheinlichkeit für Brustkrebs).

Analog dazu kann es zu „falsch negativen Voraussagen“

kommen, wenn eine Krankheit für eine konkrete Person nicht als wahrscheinlich vorhergesagt wird, dann aber später doch eintritt. Die „falsch negative“ Voraussage kann ernste Folgen haben, wenn man gegen die Krankheit hätte präventiv vorge-hen können (z. B. mit regelmäßigen Kontrolluntersuchungen beim Arzt).

Die Problematik der prädiktiven Anwendung statistischer Risiken auf Einzelpersonen sei an einem einfachen fiktiven Beispiel erläutert:

Bei 600 weiblichen Personen werden die BRCA-Gene auf Brustkrebsmutationen untersucht. Anschließend wird regist-riert, welche Frauen jeweils bis an ihr Lebensende an Brust-krebs erkranken. Es ergeben sich die folgenden Zahlen98 für die Verteilung von Genotyp (BRCA-Mutationen oder norma-ler Genotyp) und lebenslanger Brustkrebsinzidenz (das heißt Gesamtanzahl an Brustkrebserkrankungen):

Brustkrebs kein Brustkrebs Summe

BRCA­Mutation 20 10 30

Normaler Genotyp 57 513 570

Summe 77 523 600

tabelle 1: Brustkrebsinzidenz in Abhängigkeit vom genotyp

98 Der Anschaulichkeit halber bleibt die Darstellung bei absoluten Zahlen.

mit Division durch 600 lassen sich alle Eintragungen in Schätzungen von Wahrscheinlichkeit umrechnen.

Es handelt sich hier also um eine Krankheit, die sich im Laufe des Lebens bei 13 Prozent (77/600) der Gruppe herausbildet.

Bei ihr kommt der mutierte Genotyp in 26 Prozent (20/77) der Fälle vor, bei Gesunden hingegen nur in 2 Prozent (10/523).

Aus der Tabelle lässt sich ersehen, dass die BRCA-Muta-tion mit dem Auftreten von Brustkrebs statistisch assoziiert ist, also anteilig häufiger bei an Brustkrebs erkrankten als bei gesunden Frauen vorkommt. Es gibt eine Reihe von Möglich-keiten, eine solche Assoziation quantitativ zu beschreiben. Ein Beispiel ist das Quotenverhältnis (odds ratio). Es ist als Kreuz-produktverhältnis99 definiert – in der Tabelle:

20 x 513 57 x 10 = 18

Der Ergebniswert drückt aus, wie viel größer das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, für Mutationsträgerinnen ist, vergli-chen mit Nicht-Mutationsträgerinnen – in diesem Fall 18-mal größer.

Aus den Tabellendaten lassen sich für ein Individuum aus der gleichen Bevölkerungsgruppe wie der in der Stichprobe untersuchten Frauen folgende Vorhersagen treffen:

Voraussage des Krankheitsrisikos: Trägerinnen der Muta-tion haben eine Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent (20/30)100, dass Brustkrebs bei ihnen ausbrechen wird. Für Trägerinnen des normalen Allels beträgt die Wahrscheinlichkeit hingegen nur 10 Prozent (57/570)101.

99 um ein Kreuzproduktverhältnis zu errechnen, werden zunächst die in der tabelle jeweils „über Kreuz“ stehenden Einträge multipliziert und die Ergebnisse dann dividiert. hier also das Produkt von Brustkrebskranken mit genmutation (20) und gesunden ohne genmutation (513) geteilt durch das das Produkt von Brustkrebskranken ohne genmutation (57) und gesunden mit genmutation (10).

100 Anteil der brustkrebsbetroffenen trägerinnen der genmutationen an der gesamtzahl der trägerinnen der genmutation.

101 Anteil der brustkrebsbetroffenen Frauen ohne genmutation an der gesamt-zahl der Frauen ohne genmutation.

Angenommen, man würde aus diesen Zahlen für Träge-rinnen der Mutation die Voraussage „wird vermutlich krank werden“ ableiten und für Trägerinnen des normalen Allels die Voraussage „wird vermutlich nicht krank werden“, dann wäre diese Voraussage in 88 Prozent (533/600) zutreffend.

Für immerhin 12 Prozent der getesteten Personen hinge-gen wird die durch das Gentestergebnis hervorgerufene Er-wartung auf das Eintreffen oder Ausbleiben der Krankheit jedoch nicht erfüllt, weil die Voraussage sich später als falsch herausstellt:

Für Trägerinnen des normalen Allels, die somit als „frei vom Krankheitsrisiko“ eingestuft werden, ergibt sich eine falsch negative Voraussage in 10 Prozent (57/570) der Fäl-le; sie bekommen Brustkrebs, obwohl sie das mutierte Gen nicht tragen. Dies liegt daran, dass die überwiegende Mehr-zahl der Brustkrebserkrankungen eine andere Ursache hat als eine BRCA-Mutation. Selbst wenn man ein Risiko aufgrund eines mutierten BRCA-Gens also ausschließen kann, bleibt das Erkrankungsrisiko mit 10 Prozent fast genauso hoch wie das Gesamtrisiko der weiblichen Bevölkerung (13 Prozent) – denn nur das spezifische Teilrisiko, genau aufgrund einer BRCA-Mutation zu erkranken, wurde durch den Test heraus-gerechnet.

Für Trägerinnen des mutierten Allels aus der gleichen Be-völkerung, bei denen ein Krankheitsausbruch aufgrund des Tests für wahrscheinlich gilt, ergibt sich hingegen eine falsch positive Voraussage in 33 Prozent (10/30) der Fälle. Bei die-sen Personen wären einschneidende Verhütungsmaßnahmen (z. B. prophylaktische Brustamputation) fehl am Platze.

Das grundsätzliche Problem aller prädiktiven Tests be-steht also darin, dass eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die für die Bezugspopulation zutrifft, im Einzelfall unzutreffend sein kann.

Die Beurteilung eines prädiktiven Tests und seiner Feh-lermöglichkeiten hängt somit entscheidend von der Höhe des

Krankheitsrisikos102 und der Testqualität ab sowie davon wie nachteilig falsche (falsch positive beziehungsweise falsch nega-tive) Testergebnisse für den Betroffenen sind.