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3 dEr rEchtlIchE OrdnungsrahMEn

4.2 Postnatale gentests

4.2.1 Krankheits­ und Gesundheitsverständnis

Die neueren Entwicklungen der genetischen Diagnostik kön-nen das Krankheits- und Gesundheitsverständnis tiefgreifend beeinflussen. Dies betrifft insbesondere die Einstellung dazu, welche Rolle die genetische Ausstattung bei der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten spielt und wie sich davon ausgehend Forschung und medizinische Versorgung gestal-ten. Darüber hinaus wird angesichts der Zunahme genetisch basierter Ermittlungen von Erkrankungsrisiken ein neuer Zwischenzustand zwischen Gesundheit und Krankheit disku-tiert, der als neuer Typus des „kranken Gesunden“ bezeichnet werden kann.

Gene als Krankheitsdeterminanten?

Die zunehmende Kenntnis genetischer Faktoren bei der Entste-hung und Entwicklung von Krankheiten und Behinderungen kann zu unterschiedlichen Effekten führen. Zum einen kann es zu einer emotionalen Entlastung kommen, weil eine Krankheit besser verstanden wird und zum Beispiel statt eines eigenen Verschuldens Gene in den Vordergrund der Erklärung rücken,

für die niemand die Verantwortung zu übernehmen hat. So er-laubt die Exomsequenzierung beispielsweise die Aufdeckung genetischer Grundlagen von Syndromen, deren Entstehung bislang ungeklärt war. Betroffene Familien fühlen sich, wenn eine genetische Mutation gefunden wurde, zum Teil erleichtert, zumindest eine Ursache für die Auffälligkeiten und Einschrän-kungen zu kennen, nachdem sie oftmals schon über lange Zeit viele Ärzte konsultiert haben, um Klarheit zu gewinnen. Gera-de wenn es sich bei Gera-den Betroffenen um KinGera-der mit ungeklär-ten Symptomen handelt, kann das Wissen, dass ein Gendefekt ursächlich ist, Sorgen und Schuldgefühle, dass zum Beispiel Fehlverhalten während der Schwangerschaft die Beeinträch-tigungen verursacht haben könnte, verringern. Auch können Eltern besser informierte Entscheidungen über die weitere Fa-milienplanung treffen, wenn klar ist, ob ein von ihnen vererbter oder beim Kind erst neu entstandener Gendefekt vorliegt.

Man erhofft sich darüber hinaus, dass die Kenntnis einer Mutation und eine sich daran anschließende Aufklärung der pathophysiologischen Wege der Symptomentstehung An-satzpunkte für eine zielgerichtete Therapie erbringen. Im Be-reich der sogenannten Pharmakogenetik kann schon jetzt die Kenntnis genetischer Besonderheiten eine effektivere Thera-pie ermöglichen, da in manchen Fällen die Wirksamkeit eines Medikaments entscheidend von der genetischen Konstituti-on abhängt. Dies ist zum Beispiel beim Malignen Melanom (Schwarzer Hautkrebs) oder bestimmten Formen von Lun-genkrebs der Fall; hier ist die genetische Beschaffenheit des Tumors für die Therapiewahl relevant.190 Andere genetische Anlagen können die Wirkung und Verstoffwechselung von Medikamenten beeinflussen, weshalb auf der Basis solchen Wissens die Therapie optimiert und Nebenwirkungen vermie-den wervermie-den können.

Auf der anderen Seite kann eine ausschließliche Konzentra-tion auf genetische Faktoren bei der Entstehung insbesondere

190 Vgl. Chapman et al. 2011.

von multifaktoriellen Krankheiten zur Vernachlässigung an-derer biologischer sowie psychosozialer Einflussgrößen füh-ren. Das Ergebnis wäre ein zu enges Krankheitsverständnis, bei dem der komplexe Zusammenhang zwischen Genotyp, Phänotyp und Umwelt- sowie Lebensstilfaktoren ausgeblen-det würde. Eine genetisch-biologische Deutungshoheit über Erkrankungsprozesse ist mit der Gefahr verbunden, dass sich Bemühungen um therapeutische Strategien einseitig auf die genetische Dimension beziehen. Häufig wird eine solche ein-dimensionale Betrachtungsweise als genetischer Determinis-mus bezeichnet.

Mit den oben geschilderten Risiken einhergehen kann eine einseitige Förderung genetisch-biologischer Forschung un-ter Vernachlässigung der wissenschaftlichen Unun-tersuchung komplexer Prozesse und Zusammenhänge. Auch könnte die Medizin angesichts eines solch eng geführten Krankheits-verständnisses den Patienten in seinen vielen Dimensionen aus dem Blick verlieren. Dies ist problematisch, weil sich das grundsätzliche Verständnis des Auftrags und des Gegenstands medizinischer Versorgung in den Strukturen des Gesund-heitssystems und auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen niederschlägt. Letztlich könnte es zu einer Vernachlässigung wichtiger Behandlungselemente kommen, die sich nicht primär an biologisch-genetischen Be-funden, sondern an psychologischen und sozialen Maßstäben orientieren.

Zwischenzustand zwischen Gesundheit und Krankheit?

Ein gewichtiges Argument gegen den breiten Einsatz prädik-tiver genetischer Diagnostik lautet, dass durch die Fortschrit-te in der genetischen Diagnostik ein neuer Zwischenzustand zwischen Gesundheit und Krankheit geschaffen wird, der sich nicht nur destruktiv auf die Selbstwahrnehmung, son-dern auch auf soziale Beziehungen auswirkt: Ein nicht indi-kationsbezogenes Untersuchungskonzept, das an molekularen Veränderungen ansetze, um die betreffende Person über ihre

genetischen Krankheitsrisiken aufzuklären, schaffe demnach einen künstlichen Zwischenstatus zwischen Gesunden und Kranken. Der „kranke Gesunde“ sei noch nicht Patient, weil bei ihm keine Erkrankung festgestellt werden kann, aber auch nicht mehr völlig gesund, da ein erhöhtes Risiko für bestimmte Erkrankungen diagnostiziert wird. Durch diese Entwicklung werde eine Art von Vorläufer-Status zum Kranksein einge-führt, bei dem niemand wisse, ob er sich jemals zu einer symp-tomatischen, mit den bisher gängigen medizinischen Verfah-ren erfassbaVerfah-ren Krankheit entwickeln werde. Krank sei man dann nicht mehr aufgrund des subjektiven Befindens oder ak-tuell messbarer Krankheitswerte, sondern weil man durch die Erfassung des genetischen Risikoprofils – bildlich gesprochen – auf einer Art Warteliste verzeichnet werde.

Drei Probleme stehen in einem solchen Szenario im Vor-dergrund: Erstens kann es gerade bei Voraussagen, die auf ein hohes Erkrankungsrisiko hindeuten, zu einer erheblichen Verunsicherung und Verängstigung des Betroffenen kommen.

Möglicherweise nimmt er ganz normale und vorübergehende Erscheinungen schon als erste Krankheitszeichen wahr, rich-tet sein Leben danach aus und gibt Zukunftspläne auf, die er ansonsten unvoreingenommen zu verwirklichen versucht hätte. So könnte zum Beispiel bei der Vorhersage eines er-höhten Risikos für eine Demenzerkrankung der Betreffende übliche Vergesslichkeiten als erste Anzeichen des Ausbruchs der Krankheit deuten und davon absehen, beispielsweise eine aufwändige Zusatzausbildung zu beginnen.

Zweitens kann es zu Irrtümern und Überinterpretatio-nen kommen, die eine Krankheitserwartung ohne Not im Bewusstsein des Betroffenen verankern, weil der Test eben keine gesicherte Auskunft über die hohe Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung geben kann. Wie in Kapitel 2 erläutert, ist das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren bei der Krankheitsentstehung sehr komplex und Wahrscheinlich-keitsaussagen sind mit großer Vorsicht aufzunehmen. Hier bestehen vielfältige Möglichkeiten für Missverständnisse und

Fehlinterpretationen, auch im Hinblick auf Empfehlungen, wie mit Risiken am besten umzugehen sei. Bereits jetzt gibt es Geschäftsmodelle, bei denen auf der Grundlage von Gentests Präventionsstrategien zum Beispiel in Form von Ernährungs-programmen oder Sportempfehlungen entwickelt werden.

Ohne den Nachweis eines tatsächlichen Nutzens und ohne eine fachkundige Beratung, die angemessen mit der Komple-xität und den vielen Unsicherheiten bei der Übersetzung von Gendaten in individuelle Gesundheitsrisiken umzugehen ver-mag, kann es für den Einzelnen unmöglich sein, sich angemes-sen zu informieren und zu orientieren.

Drittens kann es zu Belastungen der Angehörigen kom-men, die von genetisch ermittelten Krankheitsrisiken gegebe-nenfalls auch betroffen sind. Blutsverwandte können je nach Konstellation das Risiko ebenfalls tragen. Nicht blutsverwand-te Familienangehörige und Freunde sind zumindest in die Le-bensentscheidungen einbezogen, die der Betroffene aufgrund des Befundes trifft.

Es gibt aber auch Argumente gegen die Annahme, dass der postulierte Zwischenzustand zwischen Gesundheit und Krankheit zu Problemen führt oder überhaupt ein besonderes Kennzeichen der neuen genetischen Diagnostik ist. Demnach breche sich mit den neueren gendiagnostischen Möglichkei-ten keineswegs eine Veränderung Bahn, die unter dem Stich-wort „kranke Gesunde“ zu einem tiefgreifenden Wandel im Verständnis von Krankheit und Gesundheit und im persönli-chen wie gesellschaftlipersönli-chen Umgang mit diesen Phänomenen führe. Stattdessen zeige ein Blick über die Gendiagnostik hin-aus, dass sich Menschen schon lange mit einem Auseinander-fallen von Diagnostik und subjektivem Krankheitsgefühl und aufgrund dieser Diskrepanz veränderter Selbstwahrnehmung auseinandersetzen müssen. Hoher Blutdruck, der Nachweis eines nicht genetischen Krebsmarkers, ein Ultraschallbefund für eine Zystenniere oder ein positiver HIV-Test zum Bei-spiel können bei aktuell subjektivem Wohlbefinden sehr kla-re Indikatokla-ren dafür sein, dass der Betroffene in absehbakla-rer

Zukunft gravierend krank sein und sich auch krank fühlen wird.

Eine mögliche Verunsicherung durch mitunter sehr unsi-chere prädiktive Gesundheitsinformationen wird von vielen vor diesem Hintergrund in einen größeren Zusammenhang gestellt. Nach dieser Auffassung reiht sich der Umgang mit solchen Informationen in die persönlichen und kulturellen Chancen und Risiken ein, mit der möglichen Diskrepanz zwischen Diagnose und subjektivem Gesundheitsempfinden und dem Einsetzen einer nötigen Therapie oder empfohlenen Verhaltensänderungen umzugehen. Es gehöre zu den Selbst-verständlichkeiten des Menschseins in einer modernen Ge-sellschaft, den Umgang mit technologischen Veränderungen in das eigene Selbstverhältnis und die eigene Lebenspraxis zu integrieren.

Unabhängig davon, welchem dieser Interpretationsansätze man den Vorzug gibt, lässt sich eine ethische Folgerung aus dieser Diskussion mit relativ großer Eindeutigkeit ableiten:

Die Anwendung postnataler gendiagnostischer Verfahren verlangt eine Aufklärung über die bleibende Unsicherheit der aus ihnen abgeleiteten Voraussagen. Das mit diesen Verfahren verbundene Ziel besteht nicht darin, die Lebensperspektive von Menschen unsicherer zu machen, sondern ihnen dabei zu helfen, mit Ungewissheiten und Risiken in einem möglichst hohen Maß innerer Klarheit umzugehen.