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2.4 aussagekraft genetischer tests

2.4.3 Interpretation komplexer Zusammenhänge

Der Umgang mit genetischen Risikoprognosen ist aufgrund der oben beschriebenen Unsicherheiten schon bei vielen mo-nogenen Merkmalen eine schwierige Aufgabe. Die Schwie-rigkeiten verschärfen sich, wenn komplexe Zusammenhänge zwischen Genotyp und Phänotyp vorliegen.

Im vergangenen Jahrzehnt wurden für zahlreiche komple-xe genetisch mit verursachte Merkmale, vor allem für Krank-heitsdispositionen, umfangreiche Studien mit sehr großer Pro-bandenanzahl durchgeführt. Hierzu wurden die für die jeweils untersuchten Phänotypen (Krankheiten) charakteristischen Symptome und Befunde registriert und dazu das genomweite Spektrum an individuellen SNP-Varianten oder SNP-Haploty-pen103 ermittelt. Diese Studien sind unter der Sammelbezeich-nung „genomweite Assoziationsstudien“ (GWAS) über die statistische Bindung zwischen Genotypen104 und Phänotypen verschiedener Krankheitsfelder publiziert worden. Sie haben eine umfassende Datenbasis eingebracht, aus denen mit ma-thematischen Methoden zahlreiche Hypothesen über Genorte

102 Die Spannbreite reicht hier vom niedrigen einstelligen Bereich, wenn zum Beispiel eine bestimmte genvariante das Risiko, eine multifaktorielle Krankheit zu bekommen, nur um wenige Prozent erhöht, bis hin zum hohen zweistelligen Bereich bei monogenen Erbkrankheiten mit verminderter Penetranz, wenn eine genvariante wie beim erblichen Brustkrebs ein erhebliches Erkrankungsrisiko mit sich bringt.

103 haplotypen sind charakteristische SnP-muster auf einem gegebenen Chromosom, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen auftreten und meist unverändert von generation zu generation vererbt werden. Das internati-onale haplotyp-Kartierungsprojekt (HapMap project) ermittelt die weltweit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen auftretenden SnP-haplotypen als grundlage für eine genauere markierung und Kartierung konstant vererb-ter Sequenzabschnitte des genoms.

104 genau: zwischen vermuteten genvarianten an durch die Kartierung aufge-fundenen assoziierten genorten.

abgeleitet wurden, die an der Ausbildung komplexer Phäno-typen beteiligt sind. Man hat auch versucht, die genotypisch-phänotypischen Assoziationen für die Vorhersage von Erkran-kungsrisiken einzusetzen.105 Dieser Ansatz liegt zum Beispiel einigen Direct-to-Consumer-Testangeboten (DTC) zugrunde, mit denen versucht wird, aus den individuellen genomischen Daten eines Kunden dessen Risiko für ausgewählte Krankhei-ten zu berechnen (vgl. Abschnitt 2.5.7).

Genomweite Assoziationsstudien sind Kartierungsver-fahren. Mit ihnen wird nicht die gesamte DNA-Sequenz un-tersucht, sondern es werden DNA-Muster, die bei von einem phänotypischen Merkmal betroffenen Personen statistisch ge-häuft auftreten, als „Marker“ kartiert. In der Regel ist es nicht der Marker (SNP oder Haplotyp) selbst, der die genetische Ab-weichung hervorruft, sondern eine dem Marker benachbarte Mutation, die durch genauere Sequenzierung zu identifizieren wäre. Die Grundannahme einer Assoziation von Markern und ursächlichen Varianten muss jedoch nicht in jedem Fall zu-treffen. Wenn eine Mutation zum Beispiel sehr „alt“ ist, dann kann eine Kopplung von Marker und Mutation nach vielen Generationen verloren gehen. Die Hypothese einer strikten Assoziation von Marker und Krankheitsursache wird sich erst in einigen Jahren systematisch überprüfen lassen, wenn hin-reichend umfangreiche direkte Genotyp-Phänotyp-Studien ohne Zwischenschaltung von Markern als Orientierungshilfen zum Vergleich vorliegen werden.

Nach einer Phase hochgesteckter Erwartungen ist die Beur-teilung einer direkten klinischen Anwendung der Ergebnisse von genomweiten Assoziationsstudien vorerst einer deutli-chen Ernüchterung gewideutli-chen.106 Die unaufhebbare konzepti-onelle Schwierigkeit besteht darin, dass bei multifaktoriell be-einflussten Merkmalen eine große Anzahl von Genorten und eine noch viel größere Zahl von Wechselwirkungen zwischen

105 Vgl. manolio 2010; Pearson/manolio 2008; Roberts et al. 2012.

106 Vgl. Buchanan/Weiss/Fullerton 2006.

diesen Genorten infrage kommen. Es entsteht unvermeidlich eine Tendenz zur statistischen Überanpassung (overfitting)107 der Zusammenhänge, bei der eigentlich zufällige Zusam-menhänge zwischen DNA-Sequenz und Phänotyp als ver-meintlich ursächlich interpretiert werden. Ebenso kommt es zu Unteranpassungen (underfitting)108, bei denen tatsächlich relevante Gene oder Wechselwirkungen zwischen mehreren Genen nicht oder nicht richtig erfasst werden und deshalb der Identifizierung entgehen.

Um den komplexen Zusammenhang zwischen bestimmten Genvarianten und einem multifaktoriell bedingten Phänotyp zu verstehen, sind große Bevölkerungsstudien notwendig. Bei diesen Studien werden neben genetischen Markern Tausen-de von Parametern zur Beschreibung von LebensumstänTausen-den, neurologischen und verhaltenspsychologischen Profilen, des Gesundheitszustandes (Blutwerte, Blutdruck, Hormone etc.) und des Körpers (Größe, Gewicht, Bildgebungsdaten) erho-ben. Die Gesamtheit aller dieser Befunde ist sehr variabel und für jedes Individuum spezifisch. Um aus der Vielzahl aller möglichen Kombinationen Aussagen zu einzelnen Parame-tern und gegebenenfalls zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen treffen zu können, sind sehr große Stichproben notwendig. Da sich zudem das Zusammenspiel all dieser Faktoren im Lau-fe des Lebens ändert, sind überdies Langzeituntersuchungen notwendig. Gegenwärtig wird in Deutschland deshalb eine prospektive nationale Kohortenstudie vorbereitet, die ab 2014 200.000 Personen über 20 bis 30 Jahre begleiten soll, um viele der noch offenen Fragen zur Genotyp-Phänotyp-Interaktion zu untersuchen.109

107 Es werden zufällige Effekte als vermeintliche ursachenfaktoren nachmo-delliert, die sich bei anderen Probanden nicht verifizieren lassen.

108 Der genotypeinfluss ist mathematisch falsch eingesetzt, sodass syste-matische Abweichungen zwischen modell und Daten bleiben, die eine Prädiktion verfälschen.

109 Vgl. online im Internet: http://www.nationale-kohorte.de/informationen.html [14.2.2013].

Die bisher veröffentlichten größeren Bevölkerungsstudien haben eine Fülle von „Kandidatengenen“ und in ihnen auffäl-lige Polymorphismen ergeben, die für die jeweiauffäl-lige Krankheit als Teilursache infrage kommen, aber fast immer nur in sehr geringem Maße. Es besteht meist keine befriedigende Überein-stimmung zwischen der aufgrund bekannter genetischer Fak-toren statistisch modellierten und der in Familienstudien real gemessenen Erblichkeit der Krankheitsmerkmale. Man spricht von missing heritability110 und findet oft keine befriedigende prädiktive Aussagekraft der erarbeiteten mathematischen Mo-delle. Ungeklärt bleibt oft auch, ob dies an einer nicht berück-sichtigten Heterogenität der betreffenden Krankheitsursachen liegt oder ob die Bevölkerungsstichprobe nicht hinreichend homogen war.

Es ist gegenwärtig nicht absehbar, bei welchen multifakto-riellen Krankheiten es künftig gelingen wird, eine zutreffende systembiologische Modellierung des Ursachengefüges zu er-arbeiten, die für prädiktive Zwecke (Prävention, vorbeugende Therapie) hinreichend leistungsfähig ist. Das Potenzial für den prädiktiven Einsatz genetischer Diagnostik bei komplex verur-sachten Krankheiten wird derzeit noch aufgrund der genann-ten Unklarheigenann-ten eher skeptisch beurteilt.111

110 Dieser Begriff beschreibt das Phänomen, dass es bei der untersuchung des Einflusses von genen dazu kommen kann, dass die gefundenen genvarian-ten einzeln nur wenige Prozent und gemeinsam nur einen kleinen Anteil der nicht aus dem genom, sondern zum Beispiel an Zwillings- und anderen Familienstudien ermittelten Erblichkeit des Phänotyps, erklären (vgl. maher 2008).

111 Vgl. Vorträge der Anhörung des Deutschen Ethikrates am 3. mai 2012 in Berlin. Online im Internet: http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/

anhoerungen/praediktive-genetische-diagnostik-multifaktorieller-erkrankungen [11.9.2012].

2.5 anwendungsbereiche der