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1.4 NGAL - ein aufstrebender Biomarker

1.4.1 Physiologische Funktion von NGAL

Neutrophile Gelatinase-associated Lipocalin ist ein Protein aus der Familie der Lipocaline. In der Literatur werden auch die Bezeichnungen NGAL, Liopcalin 2, Siderocalin oder 24p3.

Die gemeinsame Struktur der Lipocaline besteht aus einer Fassstruktur, die sich aus acht β-Faltblättern zusammensetzt und in ihrer Mitte eine Art Kelch (gr. Calyx) bildet. Zu den charakteristischen Eigenschaften der Lipocaline gehört die Fähigkeit in diesem Kelch kleine lipophile Substanzen zu binden (Flower, North, & Sansom, 2000). NGAL wurde erstmals 1993 beschrieben. Es wurde aus den sekundären Granula aktivierter neutrophiler Granulozyten isoliert und identifiziert als aus 178 Aminosäuren bestehendes kovalent an Gelatinase gebundenes Protein mit einem Molekulargewicht von 25 kDa (Kjeldsen, Johnsen, Sengelov, & Borregaard, 1993).

NGAL wird in geringem Ausmaß in verschiedensten menschlichen Geweben mit kernhaltigen Zellen exprimiert. Spezifische Expression von NGAL konnte in Niere, Knochenmark, Trachea, Lunge, Magen, Kolon, Speicheldrüse, Prostata und Uterus nachgewiesen werden (Cowland & Borregaard, 1997). Das für das NGAL-Protein codierende Gen konnte an einer einzigen Position auf dem menschlichen Chromosom (9q34) lokalisiert werden (Chan, Simon-Chazottes, Mattei, Guenet, & Salier, 1994). Molekulare Untersuchungen ergaben eine hohe Übereinstimmung zwischen der Sequenz des menschlichen NGAL-Gens und dem dazu analogen Gen bei der Maus mit dem Namen 24p3 sowie in der Aminosäurensequenz der entsprechenden Proteine. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass die Funktion von NGAL und 24p3 sich weitgehend entsprechen (Cowland & Borregaard, 1997).

NGAL kommt in verschiedenen Formen vor: Der Großteil liegt als Monomer vor, aber NGAL wird auch in der Form von Dimeren und Trimeren sowie im Komplex mit der Gelatinase aus neutrophilen Granulozyten vorgefunden (Yan, Borregaard, Kjeldsen, & Moses, 2001).

Während die Monomer-Form mit einem Molekulargewicht von 25 kDa hauptsächlich von geschädigten Epithelzellen der Nierentubuli sezerniert wird, wird von neutrophilen Granulozyten vor allem die Dimer-Form sezerniert (Cai, Rubin, Han, Venge, & Xu, 2010).

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1.4.1.1 Die Rolle von NGAL im Eisenmetabolismus

Goetz et al. gelang es in kristallographischen Untersuchungen einen von NGAL gebundenen Liganden nachzuweisen: ein kleines Eisen-bindendes Molekül namens Enterochelin, das von einigen Bakterien-Stämmen produziert wird (Goetz et al., 2002). Enterochelin gehört zu den Siderophoren, einer Gruppe von niedermolekularen Verbindungen, die mit hoher Affinität Eisen binden. Zahlreiche Mikroorganismen sind in der Lage solche Siderophore zu synthetisieren, sezernieren und mit Eisen aus der Umgebung beladen wieder aufzunehmen und so ihre Versorgung mit dem für Überleben und Wachstum essenziellen Eisen zu gewährleisten (Braun & Killmann, 1999).

Das NGAL-Molekül bindet Eisen also nicht direkt, sondern hat die Kapazität ein einzelnes bakterielles Siderophor zu binden. Dieses wiederum kann ein einzelnes Eisen-Ion gebunden haben. Somit bindet NGAL spezifisch Eisen, das durch Komplexbildung mit Siderophoren bereits für die Verwendung durch Bakterien gekennzeichnet ist (Goetz et al., 2002).

NGAL interagiert mit Zellen über spezifische Rezeptoren der Zelloberfläche. Bisher wurden zwei solcher Rezeptoren identifiziert. Einer der Rezeptoren ist der Multiprotein-Rezeptor Megalin-Cubilin, der sich auf der vom Bürstensaum bedeckten Oberfläche von Epithelzellen der Nierentubuli findet (Hvidberg et al., 2005). Der zweite Rezeptor ist 24p3R, ein organischer Kationen-Transporter (Devireddy, Gazin, Zhu, & Green, 2005). Bei der rezeptorvermittelten Endozytose wird entweder das NGAL-Protein allein als sogenanntes Apo-NGAL oder im Komplex mit Eisen-bindenden Siderophoren als Holo-NGAL in die Zelle aufgenommen. Abhängig von der Form, in der NGAL aufgenommen wird, scheinen sich die ausgelösten zellulären Effekte zu unterscheiden. Apo-NGAL nimmt vermutlich intrazelluläres Eisen auf und transportiert es nach extrazellulär (Devireddy et al., 2005). Holo-NGAL hingegen gibt den gebundenen Eisen-Siderophor-Komplex innerhalb der Zelle frei und trägt so zu intrazellulären Eisenspeichern bei und beeinflusst die Regulation von Eisen-responsiven Genen (Yang et al., 2002).

1.4.1.2 Die Rolle von NGAL bei der angeborenen Immunantwort

Durch die Fähigkeit, an Siderophore gebundenes Eisen zu binden, ist NGAL in der Lage, Bakterien und Mykobakterien für deren Wachstum essenzielles Eisen zu entziehen und so einen bakteriostatischen Effekt auszuüben. Die Annahme, dass NGAL einen wichtigen

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Beitrag bei der Abwehr von Infektionen durch Bakterien und Mykobakterien leistet, wird durch die Beobachtung gestützt, dass der Serum-Spiegel von NGAL im Rahmen bakterieller Infektionen deutlich erhöht ist (Fjaertoft, Foucard, Xu, & Venge, 2005). In Untersuchungen mit für NGAL defizienten Mäusen zeigte sich, dass diese genetisch modifizierten Mäuse empfindlicher gegenüber Infektionen mit Escherichia coli waren (Flo et al., 2004) und früher an Sepsis verstarben als Mäuse des Wild-Typs (Berger et al., 2006).

1.4.1.3 Rolle von NGAL bei der Entwicklung der Niere

Experimentelle Studien mit Ratten-Modellen legen den Schluss nahe, dass NGAL an wichtigen Vorgängen während der Entwicklung der Niere beteiligt ist. Die Applikation von aufbereitetem NGAL zu metanephrischem Mesenchymalgewebe führte zu einer Proliferation früher Progenitor-Zellen des Nierengewebes und schließlich zu einer epithelialen Differenzierung und Bildung von Nephron-artigen Strukturen. Die differenzierten Zellen wiesen Oberflächenmoleküle auf, die typisch für Zellen der Glomeruli sowie Zellen der proximalen und distalen Nierentubuli sind (Yang et al., 2002). Vermutlich übt NGAL seine Effekte im Rahmen der Nierenentwicklung vor allem über seine Rolle im Eisenmetabolismus aus (Gwira et al., 2005).

1.4.1.4 Weitere Funktionen von NGAL

NGAL ist zudem an weiteren vielfältigen biologischen Vorgängen beteiligt. Auffallend ist, dass die NGAL-Expression in Epithelien sich deutlich erhöht, wenn diese auf verschiedene Weise stimuliert werden. So wird die Expression von NGAL in Epithelzellen des Colons in entzündeten oder neoplastischen Bereichen hochreguliert, während dies in unbeteiligten Bereichen nicht der Fall ist (Nielsen et al., 1996). Wie schon erwähnt sind außerdem die Serum-NGAL-Spiegel bei Patienten mit akuten bakteriellen Infektionen erhöht. Erhöhte NGAL-Werte fanden sich ebenso im Sputum von Patienten mit Asthma bronchiale oder COPD (Keatings & Barnes, 1997) sowie bei Patienten mit Lungenemphysem in subklinischen Stadien (Betsuyaku et al., 1999). Es wurde postuliert, dass die Induktion von NGAL in diesen Fällen auf Interaktionen zwischen entzündungsvermittelnden Zellen und den Zellen des betroffenen Epithels zurückzuführen ist, wobei NGAL sowohl von neutrophilen Granulozyten als auch von den Epithelzellen exprimiert wird (Carlson et al., 2002).

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Eine aktive Rolle wird NGAL auch in frühen Stadien der Tumorgenese zugeschrieben. So wurde in mehreren soliden Tumorarten eine deutlich verstärkte Expression von NGAL gefunden, darunter sind Tumoren von Ovar, Schilddrüse, Leber, Kolon, Niere, Lunge, Pankreas und Harnblase (Candido et al., 2014). Bisherige Studien legen den Schluss nahe, dass über NGAL sowohl pro-onkogene als auch protektive Effekte ausgeübt werden. Über die Fähigkeit, die Auto-Inaktivierung der Matrix-Metalloproteinase-9 (MMP-9) zu verhindern, könnte NGAL die Tumorentstehung fördern (Kubben et al., 2007). Eine gegensätzliche Wirkung könnte NGAL über die Inhibierung von proneoplastischen Faktoren und eine Unterdrückung der ras-induzierten Expression des Vascular-endothelial-growth-factors (VEGF) ausüben (Venkatesha, Hanai, Seth, Karumanchi, & Sukhatme, 2006).