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Philons Logoslehre als Überwindung der negativen Theologie

„Platon in Moses finden“

2.9 Philons Logoslehre als Überwindung der negativen Theologie

Dass Hegels tiefgründige Auseinandersetzung mit Philons negativer und eben jüdischer Gottesauffassung bisweilen auf den aus seiner Sicht wahren Gottesbe-griff des Christentums zurückgreift, ist gut nachvollziehbar: Damit kann er besser deren vermeintliche Defizite nachweisen und letztlich bekunden„Gott [sei] hier nicht als Geist erkannt“.³¹⁴In der christlichen Weltsicht nämlich sieht Hegel die vollentfaltete Bewältigung der aus Philons apophatischer Theologie entsprin-genden Problematik artikuliert, indem diese, im Gegensatz zum einseitigen Va-tergott des Judentums, Gott als den dreieinigen Geist, d. h. als das wahre Absolute, darzustellen und zu untermauern wisse:„Im Christentum ist dagegen das Ein-fache nur als Moment, und das Ganze ist Gott der Geist […]. Im Christlichen wird der Name nicht auf das Wesen eingeschränkt, sondern Gott ist Geist; der Sohn ist selbst Bestimmung in Gott.“³¹⁵ Das Christentum betrachte „den anundfürsich-seienden Geist“ in seiner trinitarischen Struktur als sein gerade bewiesenes Hauptprinzip, den es von der neuplatonischen Metaphysik anverwandelt und infolgedessen zum höher entwickelten partikulären Standpunkt erhoben habe:

Gott in Menschengestalt, worin„die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“sichtbar geworden sei, sei damit erstmals als das konkrete Absolute be-griffen worden.³¹⁶

Das überraschende Moment in Hegels Philonauffassung besteht jedoch in einem anderen Punkt: Die metaphysische Lösung für Philons jüdische Gotteslehre findet er nicht nur außerhalb von dessen System, etwa in den christlichen Glaubenswahrheiten, sondern vielmehrinnerhalbdessen, nämlich in seiner vor-christlichen, „die Natur des Geistes“ enthaltenden Logostheologie. Eben darin meint Hegel in Anspielung auf Philons Transzendenzaussage genügend speku-lativen„Grundstoff“zu entdecken, um Philons lediglich abstrakten Gottesbegriff in seiner Konkretheit dahingehend inhaltlich zu ergänzen, dass auch bei diesem ähnlich wie später im Christentum Gott als trinitarischer Geist, wenn auch an-satzweise, gewusst werde:

Was er ist, ist er nur als Geist, d. h. eben indem derλόγος, sein Sohn, zu seinem wahren Wesen selbst gerechnet wird, nicht jenem Sein der Name Gottes beigelegt wird, sondern nur der Einheit dieser Momente; diese Einheit enthält das, was er ist. […] Und dies Erzeugte ist sein Anderes,was zugleich in ihm ist, ihm angehörig ist, Moment seiner selbst ist, wenn Gott

 GW Bd. 30,1, S. 127,20.

 TWA Bd. 19, S. 421–422.

 TWA Bd. 19, S. 493:„[…] und dies ist denn erst das Absolute, der anundfürsichseiende Geist.“

konkret gedacht werden soll. Die Bestimmung des Einen ist das Erste, aber sie ist mangel-haft; Gott ist konkret, lebendig, d. h. er unterscheidet sich in sich, bestimmt sich: dies ist,was auch zu Gott gehört und was hier Logos genannt wird. (TWA Bd. 19, S. 422)³¹⁷

Hegel verfolgt dabei die grundlegende Tendenz, den im philonischen System vorausgesetzten Unterschied zwischen Gott und Logos einzuebnen und darin die Grundlage der Trinität als „Bestimmung der Totalität“ aufzudecken. Philons Geisthypostase offenbart laut Hegels Deutung immer das, was Gott in seinem konkreten Wesen sei:„[d]as Ebenbild und der Abglanz Gottes […] die denkende Vernunft, der erstgeborene Sohn, der die Welt regiert und in Ordnung hält […] der Inbegriff aller Ideen“.³¹⁸Unter Annahme der Wahrheit des christlichen Dreiei-nigkeitsdogmas greift Hegel ganz bewusst die dem vom Vater„erzeugten“Logos zugeordnete Gottessohnschaft auf,³¹⁹ um demnach zu argumentieren, dieses konkretere Moment Gottes solle zusammen mit dessen väterlicher Bestimmung mitgedacht werden. Dadurch wiederum könne man dessen sich zur Totalität selbstentfaltendes Wesen ganzheitlich auffassen.

Des uneingeschränkten Wahrheitsanspruches Philons hinsichtlich dessen negativ-theologischer Gottesauffassung war sich Hegel bewusst.³²⁰Noch wichti-ger: Er nimmt expressis verbis Bezug auf Philons in Abr. 119–132 geäußerte Rückweisung der Triasvorstellung von Gott alsτριττὴφαντασίαἑνὸςὑποκειμένου zugunsten einer strikt einheitlichen Gottesauffassung als dem allein wahren Seienden:³²¹ Daher stigmatisiert er diesen einheitsmetaphysischen Grundsatz von

 Westerkamp nimmt auf diesen Passus Bezug, um Hegels Absicht offenzulegen, Philons negative Theologie im Rückgriff auf Philons Logosbestimmung zu überwinden (2009, S. 120).

 TWA Bd. 19, S. 421. Vgl. hierzu die Parallelstelle in Vorl. Bd. 8, S. 170:„Ferner, das Ebenbild Gottes, sein Abglanz, ist der Verstand, derλόγος, derπρωτογενής[…].“Philon bedient sich jedoch zumeist des Adjektivsπρωτόγονος. Darauf kommt auch Paz in seiner hebräischen Übersetzung vonPlant.zu sprechen, wenn er diesen Punkt unter Bezugnahme auf den Artikel von Martínez (2007, S. 98–99) verdeutlicht (PW Bd. 4.2, S. 118: Fn. 59). Dazu aber bereits: PW Bd. 2, S. 306.

 Hegels Formulierung in Hinblick auf den Logos als das vom Gottvater„Erzeugte“scheint eine Anspielung auf das berühmte Bekenntnis von Nicäa zu sein:γεννηθέντα,οὐποιηθέντα, ὁμοούσιον τῷΠατρί. Durch diese biologische Verwandtschaftsmetaphorik konnte die Wesens-gleichheit (ὁμοούσιος) zwischen Gott und Jesus deutlicher veranschaulicht werden. Eben diese Sicht sucht Hegel hier in Zusammenhang mit Philons System darzulegen.

 Dazu: GW Bd. 30,1, S. 127,19–20 („Gott selbst ist nur dasὄν, das reine Sein. (Insofern könnte man sagen, Gott sei hier nicht als Geist erkannt).“); Vorl. Bd. 5, S. 129.

 Diese Favorisierung der Einheitsbestimmung veranschaulicht Philon auf Grundlage von Gen 18 am Beispiel einer göttlichen Lichtoffenbarung im Menschengeist, in der Gott wechselweise erscheine, einmal als ein triadisches und einmal als ein einheitliches Lichtphänomen (Abr. 119).

Vgl. dazu die Parallelstellen imCorpus Philonicum, in denen der alexandrinische Philosoph Gen 18 ähnlich allegorisch interpretiert:Sacr.59–60;Deo1–5;QG4.2–8 und 30. Ein Hinweis auf

Philons Allegorese zu Gen 18 als Musterbeispiel einer sich bloß„sehr kleinlich“

zeigenden Sinngebung:

Dieses Bestreben des Denkens auch äußeren Gestalten höheren Sinn geben zu wollen, zeigt sich oft sehr kleinlich. ZB. Dem Abraham erscheinen erst 3 Engel, dann 1. Dies soll bedeuten, daß 1teBewußtsein Gott in der Spaltung auffaßt, erst höher in der Einheit [eine andere Le-sevariante zu„erst höher“bietet die Abschrift vonCarrière(Ca):„hernach aber Gott“]. (GW Bd. 30,1, S. 127,6–10)

Diese betont einheitsmetaphysische Gedankenfolge spitzt gerade Krämer unter Hinweis auf Abr. 125 (τετάσθαι μοναδικῶς πρὸς τὴν ἑνὸς τιμήν) zu: „Die Er-kenntnis Gottes wendet sich deshalb, je reiner sie ist, desto mehr von der hyle-tischen Zweiheit und Vielheit weg zur‚monadischen‘Anspannung auf das Eine hin.“³²²

Gleichwohl hält Hegel vor allem unter Zuhilfenahme von Philons eben nicht verstandesmetaphysischer Logoslehre hartnäckig an der Leitthese fest, dass dessen systematischem Denken eine dynamische Dreieinigkeitsstruktur zugrunde liege und es sich folglich zuletzt doch gegen die abstrakte Einheitsbestimmung behaupte. Unter Berufung auf die philonische Logoslehre meint er nämlich den Schluss ziehen zu können,„[d]as Wahre was der Geist ist, ist nur im ganzen Verlauf dieser Momente ausgesprochen“.³²³ In scharfem Gegensatz zu seiner durchaus negativen Wertung von Philons apophatischer Theologie zollt Hegel ihm zunächst für seine Logostheologie, welche die Gottesvorstellung des Juden-tums erstmals konkret fasse, unübersehbare Anerkennung.³²⁴

Im Rückblick auf den Logos und durch eine Überbetonung von dessen sys-tematischer Stellung will Hegel zunächst zeigen, wie die negative Theologie bei Philon in eine affirmative übergeht bzw. überzugehen vermag. Es ist daher fol-gerichtig, dass Philons Philosophie„die Natur des Geistes“³²⁵als Selbsterkenntnis in sich berge: Auf diesen entscheidenden Aspekt von dessen durchgreifendem Logosbegriff weist Hegel deutlich zu Beginn seiner Philondarstellung aus dem Wintersemester 1820/21 mit der Feststellung hin:„Es ist jetzt der Geist, der in sich

diesen einheitsmetaphysischen Ansatz findet sich allerdings bereits inAbr. 110 (siehe hierzu auch:QG3.41).

 Krämer 1967, S. 274. Zu dieser„monadischen Aufstiegsbewegung“bei Philon siehe: Dillon 1996, S. 161–163; Bormann 1955, S. 9, 61–62, 72; Zeller 1903, S. 463466; Wolfson 1962, Bd. 1, S. 126–127; Goodenough 1967, S. 33–40, 146–149, 244.

 GW Bd. 30,1, S. 127,122–123.

 Diesen Aspekt von Hegels Philonbild deutet auch OʼRegan an: 2008, S. 107 („Criticism ceases, however, when Hegel discusses Philo’s account of the Logos.“).

 TWA Bd. 19, S. 419.

selbst sich weiß, der in der Welt sein Interesse nicht mehr sucht und Alles nur als Hervorbringung des Denkens anerkennt.“³²⁶In Anbetracht all dessen deutet He-gel an, Philon zeichne sich als der erste, wenn nicht gar einzige jüdische Philo-soph aus, dem geradezu das wesentliche Hinausgehen über die reine Negativität des„alttestamentlichen Verstandesgottes“zum protochristlichen Gotteskonzept als einem trinitarisch aufgebauten Geist gelungen sei.

Allerdings wären damit lediglich zwei Momente Gottes und eben nicht drei herausgearbeitet: Gott in seiner anfänglichen Seinsbestimmung als Vater und in seiner konkreteren Logosbestimmung als Sohn. Das stellt jedoch deswegen kein schwerwiegendes Problem für Hegel dar, weil Philon bekanntlich eine doppelte Unterscheidung in der Logoshypostase zwischenλόγοςἐνδιάθετοςundπροφορικός voraussetzt.³²⁷ Dieses gewichtige Element weiß sich Hegel für sein innovatives Philonbild als Trinitätsdenker zu eigen zu machen:„Dieserλόγοςist die erste ru-hende Gedankenwelt, wenngleich schon unterschieden. Ein andererλόγοςaber ist der hervorbringende, tätige (λόγος προφορικός), als Rede. Das ist Wirksamkeit, das Schaffen der Welt, wie er ihre Erhaltung, ihr bleibender Verstand ist.“³²⁸Auf diesen zwei Phasen des Logos aufbauend, dem Logos des Denkens als Ideenwelt und entsprechend dem Logos der Rede als schöpferisches Organisationsprinzip der Sinnenwelt, meint Hegel eine zugrunde liegende Trinitätsstruktur in Philons Sys-tem – die grundsätzlich dem allgemeinen neuplatonischen Trias-Muster von In-sichbleiben-Hervorgang-Rückwendung (μονή-πρόοδος-ἐπιστροφή) entspricht –³²⁹ entdeckt zu haben. Diese Dreifaltigkeit des göttlichen Wesens umfasst demgemäß drei zusammenhängende Momente: (1) Gott als das unbestimmteὄν, dann (2) Gott als der sich selbst in Ideen teilende Verstand, derλόγοςἐνδιάθετος als die über-sinnliche Ideenwelt und die damit korrespondierende weltbildende Geisttätigkeit desλόγος τομεύς³³⁰und schließlich (3) Gott in seiner immanenten und anthropo-morphen Vollentfaltung alsλόγος προφορικός in Gestalt der schöpferischen und

 GW Bd. 30,1, S. 378,3–5.

 Mos. 2.127 (διττὸς γὰρλόγοςἔν τε τῷπαντὶκαὶ ἐνἀνθρώπου φύσει· κατὰμὲν τὸπᾶντε περὶτῶνἀσωμάτων καὶπαραδειγματικῶνἰδεῶν,ἐξὧννοητὸςἐπάγη κόσμος,καὶ ὁπερὶτῶν ὁρατῶν,δὴμιμήματα καὶ ἀπεικονίσματα τῶνἰδεῶνἐκείνωνἐστίν,ἐξὧναἰσθητὸς οὗτος ἀπετελεῖτο);Abr. 83;Det. 3940 und 126;Migr.71 und 73;Spec.4.69;Post.100 und 103;QE2.27, 2.44 und 110–111.

 TWA Bd. 19, S. 423.

 Dazu besonders deutlich: Halfwassen 1999, S. 19, 77.

 TWA Bd. 19, S.423:„Gott als Tätigkeit angesehen. Dieser Verstand teilt sich nun in Ideen […].“

Her. 140:τὸν τομέα τῶν συμπάντων;Fug. 196:κρίσις τῶνὅλων.

ordnungsstiftenden Wirksamkeit, der sich über eine selbstbewusste Rückwendung in das ursprüngliche Moment der Einheit vollziehe.³³¹

Zu klären bleibt die Frage nach Hegels Motivation, einem jüdischen Denker wie Philon eine solche Vorrangstellung einzuräumen, dass er ausgerechnet des-sen Philosophie als gedanklichen Vorgriff auf das spekulative Trinitätsdogma als ausschlaggebenden Lehrsatz für das Christentum als absolute Religion erachtet.

Hierfür gibt es allem Anschein nach vorrangig zwei entscheidende Gründe:

1) Die historische Hypothese war zu Hegels Zeiten schon sehr weit verbreitet, und auch die Studienhefte Schellings sprechen eindeutig dafür, dass Philons jüdischer Platonismus eine zentrale Inspirationsquelle der Trinitätslehre war.

2) Mit diesem Ausgangspunkt konnte Hegel gerade durch den berühmtesten jüdischen Religionsphilosophen einen starken geistesgeschichtlichen Beleg für die Gültigkeit des ultimativen christlichen Wahrheitsanspruches erbringen. Am Beispiel von Philons ansatzweise artikuliertem Trinitätsdenken kann er argu-mentieren, die spekulative Bestimmung der Dreieinigkeit sei angesichts der ver-hältnismäßig rückständigen Gottesauffassung des Judentums vom Geist selbst unmittelbar gewollt. Anhand dessen konnte er weiterhin den gesamten Neupla-tonismus, in den er Philon als dessen Vordenker einreiht, als metaphysische Vorbereitung auf die spekulativen Inhalte des Christentums als der welthistori-schen„Revolution“schlechthin darlegen.

Zunächst ist auf Hegels Verständnis des dritten und entscheidenden Moments von Philons„Trinitätsdenken“einzugehen, in dem Gott in seiner„selbstbewußten Rückkehr in sich selbst“ seine höchste Ausprägung gewinne und„konkret ge-dacht“werde. Im Konzept desλόγος προφορικός–das Philon nicht sonderlich systematisch verwendet– sieht Hegel gerade die Kulmination von dessen ge-samtem Denken begründet. Der weltzugewandte Rede-Logos drücke also Gottes Vollendungsform aus, mit der er seiner selbst innewerde und sich somit voll-ständig realisiere:„Das ist der Hohepriester, der [zwischen] Gott und den Men-schen vermittelt, der Geist der Gottheit, der die MenMen-schen belehrt, eben die selbstbewußte Rückkehr Gottes in sich selbst, in jene erste Einheit, in das Ur-licht.“³³² Diese dialektische Rückwendung des Logos als „die selbstbewußte Rückkehr Gottes in sich selbst“sei genau das, was den Geist hinsichtlich seines wesentlichen Moments als das„Zurückgekehrtsein“ins anfängliche Moment des bestimmungslosen Einen definiere. Dadurch sei die Widersprüchlichkeit beider

 Siehe dazu: OʼRegan 2008, S. 124. Zu Philons doppeltem Logoskonzept siehe zudem: Löhr 2009, S. 350–351 (δ). Zur stoischen Denkstruktur des doppelten Logos siehe: Heinze 1872, S. 140ff., 232ff.; Runia 1990h [1988], S. 64; Cohn 1912, S. 322; H. Schmidt 1933, S. 60ff.; Bormann 1955, S. 11–13, 7980; Zeller 1903, S. 423–424; Goodenough 1969, S. 100–104.

 TWA Bd. 19, S. 424.

vorherigen Momente, des Ersten und dessen Andersseins, aufgehoben und in eine konkrete Einheit umgewandelt.³³³ Das Konstitutive am„Zurückgekehrtsein“des Geistes bringt das selbstbewusste Subjekt in seiner Absolutheit hervor, womit Hegel ausdrücken will: Unter Gott werde nunmehr „das absolute Wesen als Selbstbewußtsein“verstanden, ein Standpunkt, der ihm zufolge dem gesamten neuplatonischen Weltbild eigen ist.³³⁴

Die Konkretheit des weltimmanenten λόγος προφορικός rührt aus Hegels Sicht anscheinend nicht nur von dessen schöpferischer Geisttätigkeit her, son-dern auch und erst recht von seiner Sonderrolle als„Seelenführer“, der zwischen Gott und den selbstbewussten Menschenseelen vermittelt:„Dieser Logos ist zu-gleich für das Selbstbewußtsein der Lehrer der Weisheit.“³³⁵Die zwischen dem Logos und den Menschen entstandene Beziehung veranschaulicht Hegel durch das anthropomorphe Lehrer-Schüler-Verhältnis, wobei der seelenführende Logos in Menschengestalt, als Lehrer und Hohepriester, erscheint. Diese Motive, die Hegel nahezu verbatim Buhles Philondarstellung entnimmt, haben ihren Ur-sprung in Philons allegorischer Deutung von Gen 2,10 inSomn.2.242. Dort erklärt der alexandrinische Philosoph den paradiesischen Fluss für ein Sinnbild des Logos, den Garten Eden entsprechend für ein Sinnbild der göttlichen Weisheit.³³⁶

 TWA Bd. 19, S. 409:„Darin ist dann drittens die Gleichheit des Anderen und des ewigen Wesens, der Geist, das Zurückgekehrtsein des Anderen in das Erste, und des Anderen nicht nur nach jedem Punkte, woran das ewige Wesen erschienen, sondern das Andere als Allgemeines.“

 TWA Bd. 19, S. 407–408. Zur Parallelstelle in Hegels philosophiegeschichtlichem Abschnitt über die alexandrinische Philosophie siehe: TWA Bd. 19, S. 432. Siehe dazu auch: Halfwassen 1999, S. 104. Einer derartigen Denkfigur bedient sich Hegel mehrfach, um zu zeigen, wie das denkende Subjekt Gottes wirksame Weisheit in der zweckmäßigen Natur erkennt und darauf von großer Bewunderung erfasst wird:TWA Bd. 8, S. 362; Bd. 9, S. 14, 28, 494; Bd. 12, S. 28; Bd. 16, S. 21;

Bd. 17, S. 35, 248–249, 506; Bd. 20, S. 488.

 TWA Bd. 19, S. 424. Zur Zusammenfassung der„seelsorgerischen Funktion“des„Logos als Seelenführer“(η) siehe: Löhr 2009, S. 353–354. Vgl. dazu: Hay 1973, S. 6; M. Freudenthal 1891, S. 12; Bormann 1955, S. 91–92.

 „Er nennt aber die Weisheit des Seienden Eden […]. Es [sc. das Ergötzen] kommt aber von der Weisheit wie aus einer Quelle der göttliche Logos einem Flusse gleich herab, auf daß er befeuchte und tränkte die olympischen und himmlischen Keime und Gewächse tugendliebender Seelen wie einen Garten.“(PCH Bd. 6, S. 269) Philon benutzt diesen Topos des Logos als Verkünder der göttlichen Weisheit mehrmals in seinen Allegoresen. Dazu: Wolfson 1962, Bd. 1, S. 260ff. Zur Identifikation des Manna mit dem Logos bzw. mit der Weisheit siehe zudem:Fug. 137;Mut. 249. Zur gleichmäßigen Verteilung durch den Logos siehe auch:Her. 143–145, 191;QE2.81. Ungeachtet der hier dargelegtenσοφία-λόγος-Differenzierung scheint Hegel in den philosophiegeschichtlichen Vorlesungen gleichwohl davon auszugehen, Logos und Weisheit seien bei Philon bedeutungs-gleich:„[…] er [sc. der Logos] kommt auch unter dem Namenσοφία“(TWA Bd. 19, S. 423),„Die Offenbarung, was herabgekommen ist […]σοφία οὐράνιος[…]λόγος[…]“(TWA Bd. 19, S. 430).

Philon versteht jedoch im Unterschied zu Hegel die göttliche Weisheit, die jener hier mit theoretischen Naturkenntnissen gleichsetzt,³³⁷ als praktische Kenntnis der göttlichen Kardinaltugendlehre, die der Logos den„tugendliebenden“ Men-schenseelen vermittelt, um sie und infolgedessen das ganze Menschengeschlecht moralisch zu vervollkommnen.

Diese Abweichung von Philons ursprünglichem Gedanken spiegelt sich in Hegels entscheidender Änderung der Formulierung Buhles wider; so ersetzt er

„tugendhafte Menschen“durch„Selbstbewußtsein“. Mithilfe dieser kleinen Mo-difikation war es ihm möglich, denλόγος προφορικόςals Höhepunkt von Philons gesamtem System zu kennzeichnen, wo Gott zum Bewusstsein seiner selbst ge-lange.³³⁸ Diese Änderung verrät Hegels Programmatik, einen zentralen Topos seiner eigenen Geistmetaphysik in Philons Religionsphilosophie hineinzulesen, nämlich, dass sich Gott als Geist erst im menschlichen Selbstbewusstsein ver-wirklichen könne.³³⁹

Dass Hegel mit dem Begriff„Selbstbewußtsein“auf die Natur des Menschen hinweist, wird ersichtlich, wenn er daraufhin zwischen den selbstbewussten Menschen und den bewusstlosen Naturphänomenen unterscheidet:„Die natür-lichen Dinge nämlich werden nur in ihren Gesetzen gehalten; die selbstbewußten Wesen wissen eben auch von diesen Gesetzen, und das ist die Weisheit.“³⁴⁰ Ver-möge der Fähigkeit des Menschen zur Bewusstwerdung sei allein er dazu in der Lage, die Naturgesetze, denen auch er unterworfen ist, zu begreifen. Diesen Er-kenntnisgewinn über die Naturgesetze, mit denen der Logos die Welt als„ihr bleibender Verstand“präge,³⁴¹ identifiziert Hegel mit dem Erkennen der göttli-chen Weisheit. Somit scheint er auf die Funktion des Logos als Stifter der im

 TWA Bd. 19, S. 424.

 Auch in seinen Ausführungen zur neuplatonischen Schule gebraucht Hegel die Begriffe

„Mensch“und„Selbstbewusstsein“in austauschbarer Weise:„Sie [sc. die neue Religion, die alle anderen Religionen umfasst] ist diese, daß das Selbstbewußtseinein wirklicher Menschdas absolute Wesen ist.Was das absolute Wesen ist, wird ihm jetzt geoffenbart: es ist ein Mensch […].“

(TWA Bd. 19, S. 407)

 Weiterführend dazu siehe Halfwassen:„Der Geist wird daher erst im Selbstbewußtsein des Menschen wirklich. Somit ist auch der absolute Geist kein bloß jenseitiger Gott, sondern das sich im wirklichen menschlichen Geist auf sich selbst beziehende und in dessen Wissen sich selbst erkennende Absolute, der menschliche Geist aber erfaßt in seiner Selbsterkenntnis die absolute Idee als sein eigenes, anwesendes, ihm nicht externes Wesen, das ihn gleichwohl zugleich übersteigt.“(1999, S. 103–104)

 TWA Bd. 19, S. 424. Eine ähnliche Differenzierung macht Hegel darüber hinaus in den reli-gionsphilosophischen Vorlesungen, in denen er die Welt des endlichen Geistes von der Naturwelt abheben möchte: TWA Bd. 17, S. 248.

 TWA Bd. 19, S. 423.

Gesamtkosmos herrschenden Naturgesetze anzuspielen. Die besondere Stellung des Logos als ein allgemeingültiges Weltprinzip legt Philon inPlant. 8–9 be-sonders ausführlich dar:

[…] kein Stoff [ist] stark genug […] um die Last dieses Kosmos tragen zu können, daß aber der unvergängliche Logos des ewigen Gottes die felsenfeste und riesenstarke Stütze des Alls bildet. Indem sich dieser von der Mitte (der Welt) bis zu den Enden und von den äußersten Spitzen bis zur Mitte zurück dehnt, vollzieht er den Siegerlauf der Natur und schließt und schnürt alle Teile zusammen; denn zum unzerreißbaren Bande des Alls machte ihn der Vater und Erzeuger. (PCH Bd. 4, S. 154)³⁴²

InAgr.52 hält er weiterhin an einer allegorischen Erklärung zu Ps 23,1 fest, Gott ernenne seinen erstgeborenen Sohn (πρωτογόνος υἱός), den ὀρθὸς λόγος, zu seinem Stellvertreter auf der Welt, dem die zentrale Rolle eines gesetzesstiftenden Erhalters des sichtbaren Gesamtkosmos zukomme. Diesen umgestalteten stoi-schen Begriff desὀρθὸς λόγοςsetzt Philon inMos. 1.48 anscheinend sogar mit der Gesetzlichkeit der Natur und der Ethik gleich, wenn er den praxisorientierten Zweck des Moses, „nach der rechten Stimme der Natur [zu leben], die allein Anfang und Quelle der Tugenden ist [τὸνὀρθὸν τῆς φύσεως λόγον,ὃς μόνοςἐστὶν ἀρετῶνἀρχήτε καὶπηγή]“, bestimmt.³⁴³

Die„sinnliche“Naturerkenntnis jedoch als Gipfel des philonischen Gesamt-denkens zu charakterisieren–weil das Menschenbewusstsein in dem darin Er-kannten Gott begreife und parallel darin Gott zur Selbsterfassung gelange– ist eine von Hegel beabsichtigte Fehldarstellung. Aufgrund der vollkommenen Ord-nung, die der Logos dem sinnlich wahrnehmbaren Kosmos beständig stifte, misst Philon der Naturerkenntnis einen hohen Stellenwert bei: Er stuft die Natur als

 Vgl. dazu auch die folgenden Philon-Stellen:Fug. 101 und 112;Opif.51;Her. 188;Plant.9–11;

Cher.36;QE2.89, 2.118 und 2.120. Zur Zusammenfassung von dieser ordnungsstiftenden Logos-Funktion siehe überdies: Löhr 2009, S. 353 (ζ). Zum Vergleich mit dem heraklitischen Logosprinzip als innerweltlichem Weltgesetz siehe: Heinze 1872, S. 6ff., 235ff., 243ff., 270ff.; Hay 1973, S. 3;

O’Brien 2007, S. 66–67; Dillon 1996, S. 154–155; Bormann 1955, S. 54, insbes. 82–91; Zeller 1903, S. 419; Runia 1986, S. 163–164, 180, 238–241, 448451; Wolfson 1962, Bd. 1, S. 332ff.; Goodenough 1969, S. 54–62, 66.

 PCH Bd. 1, S. 233. Cohn merkt zu diesem Passus an, Philon bediene sich inIos.31 dieser ursprünglich stoischen Denkform desλόγος φύσεωςebenfalls als universales Moralgesetz, mit dem er zwischen den Lebensprinzipien des Staatsmannes und des Weisen unterscheide (PCH Bd. 1, S. 233: Fn. 2):„[…] denn die Gesetze in den Einzelstaaten sind Zusätze zu der rechten Vernunft der Natur [προσθήκη δέ ἐστι πολιτικὸςἀνὴρ τοῦβιοῦντος κατὰφύσιν]; und so ist auch der Staatsmann ein Zusatz zu dem (Weisen), der nach (dem Gesetz) der Natur lebt.“(PCH Bd. 1, S. 165) Zu Philons Konzept des λόγος φύσεωςsiehe: Heinze 1872, S. 102ff.; Horovitz 1900, S. 92–95.

legitime Wissensquelle ein, aus der man auf dem Weg zur Gottesschau wichtige Einsichten über die Wirklichkeit erschließen könne.³⁴⁴Allerdings äußert er einen starken Vorbehalt dagegen, denn der durch die Natur vermittelte Weg zur Got-tesschau sei letztlich lediglich eine niedrigere Erkenntnisstufe im Vergleich zum unmittelbaren Weg dazu.³⁴⁵Auch die von Hegel hier beschriebene Vorstellung von Gottes durch das menschliche Bewusstsein vermittelter Selbsterkenntnis

legitime Wissensquelle ein, aus der man auf dem Weg zur Gottesschau wichtige Einsichten über die Wirklichkeit erschließen könne.³⁴⁴Allerdings äußert er einen starken Vorbehalt dagegen, denn der durch die Natur vermittelte Weg zur Got-tesschau sei letztlich lediglich eine niedrigere Erkenntnisstufe im Vergleich zum unmittelbaren Weg dazu.³⁴⁵Auch die von Hegel hier beschriebene Vorstellung von Gottes durch das menschliche Bewusstsein vermittelter Selbsterkenntnis