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Hegels Begriffsverständnis der Philosophiegeschichte

und Philon – eine Neubewertung

2.1 Hegels Begriffsverständnis der Philosophiegeschichte

Hegels Konzept der Philosophiegeschichte ist untrennbar mit einer geistmetaphy-sischen Umgestaltung verbunden. Leitgedanke dieser Neukonzeption ist, dass dem Geist die begründende Funktion eines vernunftgemäßen Organisationsprinzips in der intellektuellen Menschheitsgeschichte zukommt. Einzelsysteme der Philoso-phie seien infolgedessen nicht mehr als„unordentlicher Haufen von Meinungen“

zu begreifen, sondern vielmehr als notwendige Erscheinungsformen der inner-weltlichen Geisttätigkeit.⁹ Somit erhebt Hegel den spekulativen Anspruch, die Vielzahl an philosophischen Systemen von ihrer prozesshaften und konkreten Totalität her gemäß dem einheitsstiftenden Geistprinzip aufzufassen.¹⁰Unter der Geschichte der Philosophie sei daher im Wesentlichen„ein organisches System, eine Totalität, welche einen Reichtum von Stufen und Momenten in sich enthält“, zu verstehen.¹¹ Vom Konstrukt der Philosophiegeschichte als systematischer Ein-heit geprägt klassifiziert Hegel die einzelnen Philosophien als wesensnotwendige Begriffsmomente des sich zeitlich zur Totalität selbstentfaltenden Geistes. Dabei liege diesem philosophiegeschichtlichen Totalisierungsvorgang des in logischen Denkbestimmungen fortschreitenden Geistes eine dialektische Struktur zugrunde, in der ein philosophischer Standpunkt, der triadischen Aufhebungsoperation fol-gend, erstens negiert, dann aufbewahrt und am Ende dessen intrinsischer Wahr-heitsgehalt zu einer höherstehenden Wirklichkeitsstufe erhoben werde.¹² Das Re-sultat dieses dialektischen Aufhebungsverfahrens gehe allerdings in einen neuen Ausgangspunkt über, bei dem sich der Geist–mit dem geschichtlich bedingten

Westerkamp 2009, S. 93.

TWA Bd. 18, S. 49. Siehe zudem: TWA Bd. 18, S. 15.

 TWA Bd. 20, S. 461–462.

 TWA Bd. 16, S. 46.

 TWA Bd. 3, S. 94; Bd. 5, S. 114.

Menschenbewusstsein weitgehend übereinstimmend–bemühe, eine neue, kon-kretere Vernunftebene durch Widerlegung und Herabsetzung des vorherigen me-taphysischen Standpunktes als lediglich ideelles Moment des Absoluten auszu-bilden. Am Beispiel von Hegels Aufnahme der spekulativen Grundbestimmung des Heraklitismus, nämlich„das Werden“, in seinen absoluten Idealismus lässt sich dieses dialektische Übergangsmodell von einem Philosophiesystem zum nächst-höheren besonders deutlich festmachen:

Das Werden ist als die erste konkrete zugleich die erste wahrhafte Gedankenbestimmung. In der Geschichte der Philosophie ist es das System des Heraklit, welches dieser Stufe der lo-gischen Idee entspricht. […] Wir haben hieran zugleich ein Beispiel der wahrhaften Wider-legung eines philosophischen Systems durch ein anderes, welche WiderWider-legung eben darin besteht, daß das Prinzip der widerlegten Philosophie in seiner Dialektik aufgezeigt und zum ideellen Moment einer höheren konkreten Form der Idee herabgesetzt wird. (TWA Bd. 8, S. 192–193)¹³

Demnach versteht Hegel unter jedem zentralen philosophischen Einzelsystem einen notwendigen Standpunkt in Form einer besonderen Gedankenbestimmung, durch die der Geist seiner Absolutheit entsprechend systematisch dargestellt werden kann.

Als Folge ihreswissenschaftlichen Alleinstellungsmerkmals–im Sinne der Vermittlung von absolut wahrem Wissen–könne, so argumentiert Hegel, allein die Philosophiegeschichte die absolute Idee von ihrer spekulativen Wahrheit her, d. h. in ihrer wesentlichen dialektischen Gesamtentwicklung, begreifen: „Aus dem, was über die formelle Natur der Idee angegeben worden ist, erhellt, daß nur eine Geschichte der Philosophie, als ein solches System der Entwicklung der Idee aufgefaßt, den Namen einer Wissenschaft verdient.“¹⁴

Die spekulative Wertung der Philosophiegeschichte alsWissenschaftsdisziplin macht es anscheinend unabdingbar, die philosophischen Einzelsysteme als not-wendige Gedankenbestimmungen der absoluten Idee einzuschätzen. Laut Hegel folgt die philosophische Geschichtsentwicklung der bewusstseinsorientierten Menschenwelt einer vernünftigen und zweckmäßigen Struktur, die, von den richtigen geistmetaphysischen Prämissen her gesehen, ihre teleologische Not-wendigkeit ausdrücklich bekräftigen soll: „Nur so, als durch die Vernunft be-gründete Folge der Erscheinungen, welche selbst das, was die Vernunft ist, zu ihrem Inhalte haben und es enthüllen, zeigt sich diese Geschichte selbst als etwas

 Dazu weitgehend: Düsing 1983, S. 50ff. Zu Hegels Erläuterung von seiner systematischen Aufnahme des Spinozismus siehe: TWA Bd. 6, S. 249. Vgl. dazu auch Düsing 1983, S. 29.

 TWA Bd. 18, S. 50. Siehe dazu: TWA Bd. 18, S. 30, 34 und 37; Bd. 3, S. 14.

Vernünftiges; sie zeigt, daß sie eine vernünftige Begebenheit [ist] [Anm. d.

Verf.].“¹⁵ Die sukzessive Abfolge der vernunftgemäß entfalteten Philosophiesys-teme sei zwar zeitbedingt, aber als Gedanken ihrer Zeit seien dieseeo ipsoin ihrer Notwendigkeit zeitlos, zumal ihr Entstehungsgrund unausweichlich auf ein tie-feres geschichtsbezogenes Bedürfnis des Geistes rückführbar sei.

Vor diesem Hintergrund ist zugleich besser nachvollziehbar, weswegen Hegel in der Einleitung seiner Philosophiegeschichte das„ideenlose Auge“dazu auf-fordert, die einzelnen Systeme der Philosophie nicht mehr als kontingente und isolierte Momente der menschlichen Weltgeschichte, also ausschließlich als Meinungen, wahrzunehmen, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer systematischen Ganzheit als wesensnotwendige Selbstentfaltungsmomente der absoluten Idee.¹⁶ Das Vollzugsmoment der philosophiegeschichtlichen Konstitution der absoluten Idee kulminiert in Hegels Systembildung des absoluten Idealismus, in dem alle Wesensmomente der vorherigen Philosophien dialektisch eingebaut seien und demzufolge darin ihren überzeitlichen Sinn erhielten:„Die der Zeit nach letzte Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philosophien und muß daher die Prinzipien aller enthalten; sie ist darum, wenn sie anders Philosophie ist, die entfaltetste, reichste und konkreteste.“¹⁷

Diese strukturelle Entfaltung des absoluten Geistes in seiner inneren Zielori-entierung zum menschlichen Geschichtsganzen bestimmt Hegel mit dem Argument näher, er entwickle und erkenne sich stufenweise, d. h. entsprechend der logischen Abfolge der dreischrittig aufgebauten Sphäre des Geistes, in der Kunst, der Religion und schließlich der Philosophie als eine Einheit. In dieser findet er seinen höchsten Niederschlag als endgültigen Selbstvollzug im Moment der Philosophiegeschichte –, wodurch er letztlich zum Innewerden seiner selbst gelange.¹⁸Was dieses kon-stitutive„Sichwissen“des absoluten Geistes zusätzlich auszeichnet, ist seine aus-schlaggebende Einsicht, dass die mannigfachen Systeme der Philosophie nicht mehr durch eine Art Fremdreferenz von außen zu erfassen seien, sondern dass vielmehr das Gegenteil wahr sei: Er begreife diese nunmehr als hierarchische Reihe seiner„Entäußerungen“, unter der die Geschichteseiner Bewusstseinsinhalte zu verstehen sei, womit sein Wesen sich als Wissen der absoluten Idee in vollentfal-teter Gestalt erschöpfe:

 TWA Bd. 18, S. 50. Siehe auch: TWA Bd. 12, S. 20. Vgl. hierzu auch: Düsing 1983, S. 31–32.

 Vgl. dazu: TWA Bd. 18, S. 23; Bd. 20, S. 461.

 TWA Bd. 8, S. 58: § 13. Zu diesem philosophiegeschichtlichen Gedanken siehe zudem: TWA Bd. 18, S. 61. Hierzu ebenfalls: Düsing 1983, S. 1.

 TWA Bd. 10, S. 34: § 384 Zusatz; Bd. 10, S. 378: § 572. Zur Erläuterung von Hegels Auffassung der geistigen Geschichtsentwicklung siehe: Halfwassen 1999, S. 102–104; Dangel 2013, S. 302.

Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen. (TWA Bd. 3, S. 582) Diese Arbeit des Geistes, sich zu erkennen, sich zu finden, diese Tätigkeit ist der Geist, das Leben des Geistes selbst. Sein Resultat ist der Begriff, den er von sich erfaßt: die Geschichte der Philosophie die klare Einsicht, daß der Geist dies gewollt in seiner Geschichte. (TWA Bd. 20, S. 456)¹⁹

Dieser selbstbezügliche Erkenntnisvollzug des sich in der Menschengeschichte selbst explizierenden Geistes mache letztlich seine Vollendungsgestalt als das konkrete Absolute aus.²⁰Hinsichtlich der Immanenz des absoluten Geistes betont Hegel, dessen Vollendungsform der Selbsterfassung finde ihren Niederschlag nicht außerhalb der menschlichen Sphäre, sondern ausschließlich im Men-schenbewusstsein. Als dessen weltimmanente Grundlage sei es dem Geist erst möglich, sein selbstbewusstes Wesen in seiner konkreten Totalität zu vollziehen:

„sein Sichwissen [sc. Gottes als Geist] ist ferner sein Selbstbewußtsein im Men-schen.“²¹

In Anbetracht von Hegels geschichtlichem Verständnis der Philosophie muss auch berücksichtigt werden, dass er die Weltgeschichte eindeutig philosophisch konzipiert.Vor diesem Hintergrund leuchtet Düsings Behauptung ein, die besagt,

„das geschichtliche Verstehen vergangener Philosophie muß […] nicht nur his-torisch, sondern zugleich wesentlichphilosophischsein [Hervorh. i. Orig.]“.²² Der zu sich kommende Geist sei, so versichert uns Hegel, keinesfalls lediglich als ideales Prinzip zu betrachten, mit dessen Hilfe sich der zugrunde liegende Sinn der Weltgeschichte vollumfänglich erschließen lasse, sondern er manifestiere vielmehr selbst diesen Sinn:

Nach dieser abstrakten Bestimmung [sc. des Geistes] kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen,was er an sich ist, erarbeitet; und wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Geschmack, die Form der Früchte in sich trägt, so enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter die ganze Geschichte. (TWA Bd. 12, S. 31)

 Siehe des Weiteren auch: TWA Bd. 3, S. 81; Bd. 10, S. 366 (§ 583); Bd. 20, S. 461.

 TWA Bd. 10, S. 33: § 385 Zusatz:„Daß der Geist dazu kommt, zu wissen, was er ist, dies macht seine Realisation aus.“

 TWA Bd. 10, S. 374: § 564. Siehe dazu ebenfalls: TWA Bd. 17, S. 385, 480.

 Düsing 1983, S. 24. Zudem siehe auch: Düsing 1983, S. 31.

Somit sei dem Wesen des selbstbewussten Geistes als das absolute Wissen der Zweck der gesamten Philosophiegeschichte eigen.²³

Da die Philosophie in ihrem absoluten Wahrheitsanspruch Hegel zufolge die Leitprinzipien der zentralen philosophiegeschichtlichen Systeme in einem ein-zigen hierarchisch aufgebauten Gedankengebäude enthalten solle, sei unter diesem Aspekt betrachtet„das Studium der Geschichte der Philosophie [als das]

Studium der Philosophie selbst“wahrzunehmen.²⁴Letzten Endes sei die Philo-sophiewissenschaft wie die Philosophiegeschichte ihrer Natur nach darauf an-gewiesen, denselben metaphysischen Erkenntnisgegenstand zu fassen: „die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Be-griffe“.²⁵Hegel spinnt diesen Gedanken mit dem Argument noch weiter, die ver-schiedenen Philosophien seien „nichts anderes als die ursprünglichen Unter-schiede der Idee selbst“.²⁶Es bestehe also zwischen der absoluten Idee und den zahlreichen Philosophien eine wechselseitige innere Abhängigkeit,„da sie […]

nur in ihnen [ist], was sie ist; sie sind ihr also wesentlich, sie machen den Inhalt der Idee aus“.²⁷ In dieser gegenseitigen Sinngebung fungieren die sich in der Geschichte bildenden sowie epochemachenden Systeme der Philosophie als„die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee“,²⁸ die, wenn als systematische Totalität begriffen, eine wesentliche Aus-prägung des philosophischen Geschichtsganzen in ihrer Gesamtentwicklung wi-derspiegele:„In ihr [sc. in der neuesten Philosophie] muß alles, was zunächst als ein Vergangenes erscheint, aufbewahrt und enthalten, sie muß selbst ein Spiegel der ganzen Geschichte sein.“²⁹