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PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI

Princeton 1966 und die Folgen

Im Herbst 1966, wenige Monate nach der Tagung der Gruppe 47 in Princeton, hob Peter Handke aus der Riege der Literaturkritiker, die er großteils für „indis-kutabel“ hielt, Marcel Reich-Ranicki gleich an erster Stelle als negatives Beispiel hervor.1 Ebenso kann der knapp zwei Jahre darauf in den Grazer manuskripten veröffentlichte Essay Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit als Beleg dafür gelten, dass Handke schon damals eine ausgeprägte Aversion gegen den ‚Groß-kritiker‘ hegte.2 Mag für diese auch (gegenseitige) persönliche Antipathie eine Rolle gespielt haben, so fußte der Konflikt der beiden Kontrahenten doch zual-lererst auf einer Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen ästhetischen Konzepte. Reich-Ranickis Ideal eines organischen Kunstwerks, das seine Faktur geschickt zum Verschwinden bringt, standen die literarischen Verfahren und theoretischen Positionen in Handkes Frühwerk diametral entgegen. Dem Vorwurf Handkes, Reich-Ranicki „verniedlich[e]“ das „erkennbare Machen von Literatur“, „indem er dafür das beliebte Wort ‚Basteln‘ verwendet“,3 ist ein grundlegender Antago-nismus im literarischen Feld der späten 1960er und frühen 1970er Jahre einge-schrieben. Die sorgsam gepflegte, immer wieder aufs Neue geschürte Feindschaft sollte lange Zeit andauern. In gewisser Weise kann sie als paradigmatisch für die schwierige Beziehung von Autor und Kritiker, für das „spannungsreiche[ ]

1 Peter Handke: Bitte kein Pathos! In: Abendzeitung, 22./23. 10. 1966: „Sie wissen, daß ich kein Feind der Gruppe bin, nicht sein kann, weil ich zu wenig von ihr weiß. Ich finde nur die meis-ten Kritiker in ihr (Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer) indisku-tabel.“ Von den etablierten ‚Groß-Kritikern‘ der Gruppe fehlt in Handkes Aufzählung lediglich Walter Höllerer – diesen hatte Handke allerdings bereits in Princeton im Anschluss an dessen Lesung als „völlig geistlos“ attackiert (Audioaufzeichnung der Lesungen und Diskussionen der Gruppe-47-Tagung in Princeton 1966. In: Princeton University Department of German, https://

german.princeton.edu/department/about/resources/gruppe-47-recordings [Stand 14. 10. 2020], Lesung Höllerer, Wortmeldung Handke, 20:53 – 21:37).

2 Vgl. Peter Handke: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit. In: manuskripte (1968), H. 22, S. 40 – 41; durch den raschen Wiederabdruck im ‚Handke-Reader‘ (1969) sowie die Aufnahme in den Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) wurde er bald einem größeren Publikum bekannt; vgl. Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiele, Aufsätze. Frankfurt a. M.:

Suhrkamp 1969, S. 288 – 291; Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1972, S. 203 – 207. In der Folge wird er aus dem am weitesten verbreiteten Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms zitiert.

3 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (Anm. 2), S. 204.

vs. Marcel Reich-Ranicki

Princeton 1966 und die Folgen

Verhältnis[ ] von Literatur und (journalistischer) Literaturkritik“ überhaupt gel-ten.4 Sie geht jedoch, das lässt sich schon eingangs sagen, weit über das übliche Maß der eingespielten Gegnerschaft zwischen beiden Fraktionen hinaus – es lohnt sich, ihr im Detail nachzuspüren, nicht zuletzt deshalb, weil in ihr ein zentraler Aspekt von Handkes streitbarer Werkpolitik besonders prägnant zum Ausdruck kommt.

Die Konfliktgeschichte reicht, wie erwähnt, zurück bis in die Phase von Handkes Etablierung im literarischen Feld, und der ikonische Chronotopos

‚Princeton 1966‘ spielt dafür eine entscheidende Rolle. Im Frühjahr 1966 agi-tierte Handke im Rahmen der Tagung der Gruppe 47 – schon fast am Ende des Lesungsprogramms – öffentlichkeitswirksam gegen die proliferierende ‚Beschrei-bungsimpotenz‘ von Literatur und Literaturkritik. Der 23-jährige Schriftsteller war von Hans Werner Richter als vielversprechender Suhrkamp-Debütant und als Vertreter einer neuen Autorengeneration zu diesem ersten Treffen der Gruppe auf amerikanischem Boden eingeladen worden; Siegfried Unseld hatte sich mit Nachdruck für ihn eingesetzt. Noch vor seiner Philippika im Anschluss an Hermann Peter Piwitts Lesung stelle Handke, dessen erstes Buch Die Hornissen kurz zuvor erschienen war, einen Abschnitt aus seinem aktuellen Romanprojekt Der Hausierer der kritischen Gruppenöffentlichkeit vor – und stieß mit seiner spröden formalistischen Variation des Kriminalromangenres 5 besonders bei Reich-Ranicki auf wenig Gegenliebe: In seinem typischen, mit den Jahren zum Markenzeichen geronnenen Sprachgestus konstatiert Reich-Ranicki gleich zu Beginn seiner Wortmeldung, Handkes Text habe ihn „gelangweilt“, „ohne dass es

4 Karl Wagner: Handkes Endspiel. Literatur gegen Journalismus. In: Mediale Erregungen? Auto-nomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 65 – 76, hier S. 70. Vgl. dazu die Ergänzung von Norbert Christian Wolf: Autonomie und/oder Aufmerk-samkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki. In: ebd., S. 45 – 63, hier S. 58: „Die individuelle Idiosynkrasie zwischen einem Autor und seinem Kritiker lässt sich aber nicht allein auf diese allgemeine Opposi-tion reduzieren […]; sie wird im Gegenteil immer auch durch spezifische Mikrokonstellatio-nen begünstigt oder unwahrscheinlich gemacht, durch den spezifischen Literaturbegriff und den intellektuellen Habitus der beteiligten Personen, wie das ganz anders geartete Verhältnis zwischen Peter Handke und Sigrid Löffler veranschaulicht.“

5 Vgl. zum literarischen Verfahren des Hausierers Linda C. DeMeritt: Handkes Antigeschichten.

Der Kriminalroman als Subtext in Der Hausierer und Die Angst des Tormanns beim Elfmeter.

In: Experimente mit dem Kriminalroman. Ein Erzählmodell in der deutschsprachigen Litera-tur des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Wolfgang Düsing. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1993, S. 185 – 203.

Karl Wagner: Handke und die Gruppe 47. In: Zwischen Aufbegehren und Anpassung. Poetische Figurationen von Generationen und Generationserfahrung in der österreichischen Literatur.

Hg. v. Joanna Drynda. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2012, S. 121 – 132, hier S. 126, hat den Roman als „strukturalistische[ ] Hardcore-Übung“ bezeichnet.

mich interessierte“, um verdeutlichend hinzuzufügen: „Überhaupt nicht hat’s mich interessiert.“ 6 In der Folge unterstreicht Reich-Ranicki, zeitweilig unterbrochen und wohl auch angefeuert von Gelächter aus dem Publikum, sein Desinteresse an Handkes Text und bezeichnet dessen sprachanalytische Auseinandersetzung mit der Produktivität einer literarischen Gattung als bloßen „Manierismus“, ja als im vorliegenden Fall gescheiterte „Schreibweise“:

Es ist natürlich richtig, was hier gesagt wurde, dass es eine solche Schreibweise gibt.

Es gibt sie, nur die Frage ist, ob sie was taugt. Und wenn man sagt, dies sei ein Krimi-nalroman, und das Kriterium ist hier wörtlich gebracht worden, weil man nicht weiß, worum es geht, nun, dann möchte ich behaupten, dass das noch kein ausreichendes Kriterium ist. Man weiß sehr oft bei schlechten Sachen nicht, worum es geht, und es sind deswegen noch keine Kriminalromane. Dieses Prinzip der Hauptsätze wird verteidigt. Ja, natürlich kann man aus Hauptsätzen, Aussagesätzen, eine Erzählung bauen, und kann machen, dass sich aus diesen Hauptsätzen ein einziger großer Poten-tialis ergibt. Er ergibt sich hier meiner Ansicht nach nicht. Ich glaube nicht an diese Schreibweise, wie sie hier vorgeführt wurde. Ich glaube, dass das Ganze in einem sehr, sehr primitiven und, trotz allem, was hier gesagt wurde, eigentlich sehr altmodischen Manierismus landet. […] Mich hat es gelangweilt.7

6 Audioaufzeichnung Princeton 1966 (Anm. 1), Lesung Handke, Wortmeldung Reich-Ranicki, 37:35 – 37:42.

7 Ebd., 38:05 – 39:05. Vgl. zu den Reaktionen auf Handkes Lesung Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München: DVA 2012, S. 391 f.; Jörg Magenau:

Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Stuttgart: Klett-Cotta 2016, S. 142. Zur Wiederkehr dieses Bewertungsmusters vgl. Thomas Anz: Werten und Fühlen. Zur Rationalität und Emotionalität literaturkritischer Kommunikation – am Beispiel von Marcel Reich- Ranicki.

In: Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung. Hg. v. Heinrich Kaulen u.

Christina Gansel. Göttingen: V&R unipress 2015, S. 13 – 25, hier S. 17: „Reich-Ranickis Wirkungs-argumente verwenden, soweit sie sich auf Unlustgefühle beim Lesen beziehen, mit Vorliebe Wörter wie ‚langweilen‘ oder ‚ermüden‘.“ – Auf eine Anfrage des Residenz Verlags für einen Anthologie-Beitrag antwortete Reich-Ranicki 1984 denn auch entsprechend: „Lieber Herr Jung, / Sie möchten gerne wissen, wie die Literatur aussehen sollte, die ich mir für die Zukunft wün-sche. Hier meine Antwort, die hochmütig klingen mag, indes, Sie können es mir glauben, ganz und gar aufrichtig ist: Ich wünsche mir eine Literatur, die mich nicht langweilt.“ (Marcel Reich-Ranicki: Erst die Poesie, dann die Theorie. In: Was Kritiker gerne läsen. Literaturalmanach 1984.

Hg. v. Jochen Jung. Salzburg, Wien: Residenz 1984, S. 99 – 101, hier S. 99) – Vgl. dazu Anton Thuswaldner: Österreichische Verhältnisse. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 108 – 119, hier S. 111:

„Wo früher die mühsame Suche nach Argumenten Zustimmung oder Ablehnung für andere überprüfbar machte, zählt heute das saloppe und beiläufig fallengelassene Wort. Noch nie ist eine Floskel vom Typus ‚Das langweilt mich!‘ eine literaturkritische Kategorie gewesen, mittler-weile sind solch subjektive, nicht weiter begründeten oder begründbaren Phrasen Allgemeingut geworden […].“

Eine Ad-hoc-Verteidigung war Handke aufgrund des etablierten Reglements der Gruppe 47 verwehrt: Wie später bei den Klagenfurter „Tagen der deutschspra-chigen Literatur“, die Reich-Ranicki von 1977 bis 1986 ganz wesentlich prägen sollte,8 hatten die lesenden Autorinnen und Autoren nicht die Möglichkeit, direkt auf die Kommentare der Kritiker zu antworten, sondern mussten Lob und mitunter fundamentale Einwände duldsam und schweigend über sich ergehen lassen.9 Allerdings nahm Handke in der Folge Reich-Ranickis Bemerkung, sich bei der Lesung aus dem Hausierer vor allem „gelangweilt“ zu haben, in seiner Princetoner Einrede gegen die „Beschreibungsimpotenz“ auf, um sie als Beleg für seine These, wonach die Kritik ihr Sensorium für innovative erzählerische Artikulationsformen eingebüßt habe, anzuführen: Es sei, so Handkes verdecktes Revanchefoul an Reich-Ranicki, eines der eingeschliffenen Reaktionsmuster der Literaturkritik, auf irritierende Leseerfahrungen mit der Bekundung zu antwor-ten, man habe den Text für „langweilig“ befunden:

Wenn nun eine neue Sprachgestik auftaucht, (Zwischenruf: Psst!) so kann die Kritik nichts anderes, vermag die Kritik nichts anderes, als eben zu sagen … entweder zu sagen, das ist langweilig, sich in Beschimpfungen zu ergehen, oder auch eben auf gewisse einzelne Sprachschwächen einzugehen, die sicher noch vorhanden sein werden.10

Handkes Protest beschränkte sich in der Folge nicht auf die pauschale Abwer-tung der Kritiker, die „das sogenannte gesellschaftliche Engagement des Schrift-stellers […] an den Objekten“ statt „an der Sprache, mit der er diese Objekte beschreibt“, gemessen hätten,11 sowie die bereits eingangs zitierte Nennung Reich-Ranickis als ‚indiskutablen‘ Kritiker in seinem offenen Brief an Günter Grass in der Münchner Abendzeitung. Mit einigem zeitlichen Abstand richtete er sich

8 Vgl. dazu detailliert Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. Wien u. a.: Böhlau 2004; zum Vergleich von Gruppe 47 und Ingeborg-Bachmann-Preis ebd., S. 56 – 61.

9 Vgl. zu dieser Regel etwa Magenau: Princeton 66 (Anm. 7), S. 43, 173 u. 190; Reinhard Baumgart:

Damals. Ein Leben in Deutschland. 1929 – 2003. [München]: Hanser 2003, S. 243. Zum Modus der ‚mündlichen Sofortkritik‘ vgl. Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 57 f.

10 Im Wortlaut: Peter Handkes ‚Auftritt‘ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Text + Kritik (51989), H. 24, S. 17 – 20, hier S. 18. – Noch in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) hat Handke auf diesen Vorwurf angespielt: „Nur einmal, wie von mir gelangweilt, hielt er ein, blinzelte heuchlerisch zur Seite“ (Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1980, S. 57). – Zuletzt hat Jörg Döring: Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Siegen:

universi 2019, S. 39 – 57, 70 u. 101 f., darauf hingewiesen, dass Handkes Princetoner Polemik ganz wesentlich mit den Reaktionen auf seine eigene Lesung in Beziehung stand.

11 Peter Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA. [1966] In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 2), S. 29 – 34, hier S. 30 f.

in einer Besprechung von Reich-Ranickis Band Literatur der kleinen Schritte (1967) – also in der Rezension einer Rezensionssammlung – zudem ausführlich gegen dessen konkrete literaturkritische Praxis sowie dessen Status als vermeint-liche Leitfigur der Literaturkritik im deutschsprachigen Raum. Seinem Freund Alfred Kolleritsch ließ Handke den Artikel am 4. März 1968 zur Publikation in den manuskripten zukommen: „Ich schicke dir einen Text über Reich-Ran.

mit, vielleicht kannst Du was anfangen, er wird im Westdeutschen Rundfunk gesendet werden.“ 12 Unter dem Titel Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit erschien der Text im Frühjahr 1968 im 22. Heft der Zeitschrift, das – die räumliche Nähe zu den Schreibweisen der österreichischen Avantgarde ist hier durchaus signifikant – auch die letzte Folge von Oswald Wieners Romanprojekt die ver-besserung von mitteleuropa enthielt, dessen fortschreitende Veröffent lichung in den manuskripten den jungen Handke, ebenso wie die Arbeiten Konrad Bayers,

„stark beeindruckt“ hatte,13 obgleich er sich später den Vertretern der Wiener Gruppe gegenüber reservierter zeigte. Adolf Haslinger berichtet gar davon, dass Handke Kolleritsch bei „Korrektur und Redaktion“ von Wieners die verbesse-rung von mitteleuropa für die Publikation in den manuskripten „stundenlang“

unterstützt hat.14

Reich-Ranicki – Ende der 1960er Jahre Kritiker der ZEIT in Hamburg – war sowohl in der Gruppe 4715 als auch in den Diskussionen über Rolle und Auf-gabe der Literaturkritik immer mehr zu einer polarisierenden Figur geworden.

Während Autoren und Essayisten ganz unterschiedlicher politischer Couleur seinen Erfolg als exemplarisches Symptom einer „Misere unserer Literaturkritik“

12 Peter Handke an Alfred Kolleritsch, 4. 4. 1968. In: P. H./A. K.: Schönheit ist die erste Bürger-pflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2008, S. 21. Über eine Sendung des Bei-trags im Westdeutschen Rundfunk ist in den vorliegenden Ausgaben des Textes nichts ver-merkt; in einem weiteren Brief an Kolleritsch vom 20. 12. 1968 verweist Handke erneut auf die vorherige Veröffentlichung im Rundfunk: „Was ich über Reich-Ranicki und Thomas Bernhard geschrieben habe, ist vorher auch schon entweder im Rundfunk oder in einer Zeitung gedruckt, aber erst in den ‚manuskripten‘ hat man davon gehört.“ (Ebd., S. 23) Handkes Bemerkungen zu Bernhards Verstörung jedenfalls wurden am 9. 10. 1967 im Format „Kulturelles Wort“ im Hessischen Rundfunk (Redaktion: Adolf Frisé) gesendet (vgl. den entsprechenden Beleg im Siegfried-Unseld-Archiv, DLA Marbach, Handke Allg.).

13 Rolf G. Renner: Peter Handke. Stuttgart: Metzler 1985, S. 25; vgl. dazu Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. Mün-chen: C. H. Beck 2004, S. 459. Ob Wiener aber tatsächlich „Handkes Vorbild“ war, wie Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 77, schreibt, halte ich für fraglich.

14 Adolf Haslinger: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Salzburg, Wien: Residenz 1992, S. 118.

15 Vgl. Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004, S. 77 f.; Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie. München: Blessing 2015, S. 174 – 176.

ausmachten,16 galt anderen sein Anspruch, der Kritik mittels Popularisierung ein neues und breiteres Publikum zu erschließen, gerade als Chance für die notwendige Revitalisierung des Rezensionsbetriebs.17 An seiner literaturkriti-schen Praxis entzündeten sich vielfältige Debatten, zumal Reich-Ranicki die Rolle des umstrittenen und streitbaren Kritikers bewusst kultivierte und zele-brierte. Bereits vor Handkes polemischer Attacke im Frühjahr 1968 wurde Reich- Ranicki eine „totale Abwesenheit jeglichen Stilgefühls“ ebenso vorgeworfen wie ein überschaubares ästhetisches Sensorium: „Seine Intelligenz arbeitet prompt und zuverlässig wie eine nicht allzu komplizierte Maschine“, so der Publizist und Schriftsteller Franz Schonauer 1965, „doch graphisch dargestellt, ergäbe das Gesamtresultat seiner kritischen Bemühungen eine erstaunlich flache Kurve.“ 18 Bei seinem Angriff auf Reich-Ranicki und dessen „Kritikschablo nen“ 19 konnte Handke demnach – nicht nur im Kreis seiner Altersgenossen, die sich wie er vom literarischen Establishment und dessen Akteuren abzuheben suchten – „mit dem stillen Einverständnis zahlreicher vorsichtigerer Kollegen und Kolleginnen rechnen“.20 Mit den Jahren, in denen die Popularität des Kritikers zusehends über den engeren Kreis des Literaturbetriebs hinaus anwuchs, sollte sich, so der US-amerikanische Germanist Peter Demetz, das „Reich-Ranicki bashing“ gar zu einem „popular sport“, ja zu einem „established literary genre“ entwickeln, das gerade „among the younger generation“ Zustimmung und Verbreitung fand.21 Indes ist erneut zu betonen, dass, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Hans Christoph Buch und Peter Handke zwei Anwärter im literarischen Feld – Jahr-gang 1942 bzw. 1944 – ihre jeweilige Aversion gegen den ‚Großkritiker‘ von gegensätzlichen ästhetischen wie ideologischen Positionen aus artikulier-ten: Während Buch seine Vorbehalte gegen Reich-Ranickis literaturkritisches

„System[ ] der ‚schönen Stellen‘“ 22 mit einer „materialistische[n] Kritik am

16 Hans Christoph Buch: Kritik der kritischen Kritik. Über Roland Barthes. [1969] In: H. C. B.:

Kritische Wälder. Essays – Kritiken – Glossen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1972, S. 69 – 75, hier S. 70.

17 Vgl. Wittstock: Marcel Ranicki (Anm. 15), S. 17. – Wittstock etwa schreibt von Reich-Ranickis Ziel einer „möglichst effektvolle[n], publizistisch wirksame[n] Kritik“ (ebd., S. 177).

Dazu auch ders.: Die Demokratisierung der Literaturkritik. In: Marcel Reich-Ranicki: Kritik als Beruf. Drei Gespräche, ein kritisches Intermezzo und ein Porträt. Hg. v. Peter Laemmle.

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002, S. 135 – 138.

18 Franz Schonauer: Marcel Reich-Ranicki: Literarisches Leben in Deutschland. In: Neue deutsche Hefte (1965), H. 108, S. 161 – 167, hier S. 164.

19 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (Anm. 2), S. 203.

20 Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? (Anm. 4), S. 53.

21 Peter Demetz: On Marcel Reich-Ranicki. In: German Literature, Jewish Critics. The Brandeis Symposium. Hg. v. Stephen D. Dowden u. Meike G. Werner. Rochester: Camden House 2002, S. 289 – 302, hier S. 289.

22 Buch: Kritik der kritischen Kritik (Anm. 16), S. 71.

Strukturalismus“,23 namentlich an Roland Barthes, verbindet, fungieren für Handke gerade Barthes’ Mythen des Alltags als kulturtheoretischer Bezugspunkt, ja der Semiotiker selbst als Kronzeuge und intellektuelle Instanz für seine Atta-cke gegen Reich-Ranicki. Im Natürlichkeits-Essay zitiert Handke zustimmend eine Passage des Kapitels „Stumme und blinde Kritik“ aus den Mythen des All-tags, die 1964 in deutscher Übersetzung von Helmut Scheffel in der „edition suhrkamp“ erschienen waren und die Handke ein Jahr darauf in einer „Bücher-ecke“-Sendung 24 vorgestellt hatte:

„Warum erklärt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder Verständnislosig-keit?“ schreibt Roland Barthes in den Mythen des Alltags: „… es geschieht gewiß nicht aus Bescheidenheit; niemand fühlt sich wohler als jemand, der bekennt, daß er nichts vom Existenzialismus begreift, und niemand ist selbstsicherer als ein ande-rer, der verschämt eingesteht, daß er nicht das Glück habe, in die Philosophie des Außerordentlichen eingeweiht zu sein …“: das trifft, mit veränderten Themen, auf Reich-Ranicki zu.25

23 Ebd., S. 69.

24 Vgl. Peter Handke: „Bücherecke“ vom 11. 10. 1965. In: P. H.: Tage und Werke. Begleitschreiben.

Berlin: Suhrkamp 2015, S. 240 – 248, hier S. 240 – 243.

25 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (Anm. 2), S. 205 f. Die zitierte Passage fin-det sich in Roland Barthes: Mythen des Alltags. Deutsch v. Helmut Scheffel. Frankfurt a. M.:

Suhrkamp 1964, S. 33: „Warum erklärt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder ihre Verständnislosigkeit? Es geschieht gewiß nicht aus Bescheidenheit, niemand fühlt sich wohler als jemand, der bekennt, daß er nichts vom Existentialismus begreift, niemand ist ironischer und niemand ist also selbstgewisser als ein anderer, der verschämt eingesteht, daß er nicht das Glück habe, in die Philosophie des Außerordentlichen eingeweiht zu sein“. – Zu Handkes Beschäftigung mit den Mythen des Alltags vgl. bereits N. N.: Handke: Unerschrocken naiv. In:

Der Spiegel, Nr. 22, 25. 5. 1970, S. 174 – 190, hier S. 187; später Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braumüller 1984, S. 88 – 92; Otto Lorenz:

Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrate-gien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 195 f.; Carsten Zelle: Parteinahme für die Dinge. Peter Handkes Poetik einer literarischen Phäno menologie (am Beispiel seiner Journale, 1975 – 1982). In: Euphorion 97 (2003), H. 1, S. 99 – 117, hier S. 102. – Auch in einer 1969 erschienenen Kritik hat Handke explizit auf Barthes’

Mythen des Alltags hingewiesen: „Godard zeigt, daß auch die Dinge und Phänomene Sprache sind, daß sie etwas ‚sagen‘, wie Roland Barthes es schon in den ‚Mythen des Alltags‘ formulierte, als er das Plakat beschrieb, das einen Afrikaner unter der Trikolore zeigte“ (Peter Handke: Ah, Gibraltar! Die 19. Internationalen Filmfestspiele Berlin 1969. In: DIEZEIT, Nr. 28, 11. 7. 1969). – Peter Hamm: Der neueste Fall von deutscher Innerlichkeit: Peter Handke. In: konkret, Nr. 12, 2. 6. 1969, S. 42 – 45, hier S. 45, hatte kurz zuvor die Mythen des Alltags gegen Handke in Stellung gebracht: „Was theoretisch zu dem kleinbürgerlich elitären Bewußtsein, das sich in solchen Zeilen ausplappert, zu sagen wäre, hat Roland Barthes in seinen ‚Mythen des Alltags‘ unten den Stichworten ‚Das Weder-Noch‘ und ‚Die Tautologie‘ beschrieben; […] er hilft sich, ob er politisch oder literarisch argumentiert, immer wieder mit ‚jener mythologischen Figur, die

Versucht Handke, seine Einwände gegen den Kritiker durch die Berufung auf Barthes’ einschlägige Beobachtungen zu plausibilisieren und zu stützen, sind die Arbeiten von Barthes und Reich-Ranicki für Hans Christoph Buch Symptome eines ähnlichen Problems.26

Dass den Angriffen gegen Reich-Ranicki mitunter antisemitische Ressenti-ments beigemischt waren, die den Holocaust-Überlebenden in besonderer Weise trafen, gehört – das darf an dieser Stelle nicht unterschlagen werden – zur

Dass den Angriffen gegen Reich-Ranicki mitunter antisemitische Ressenti-ments beigemischt waren, die den Holocaust-Überlebenden in besonderer Weise trafen, gehört – das darf an dieser Stelle nicht unterschlagen werden – zur