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EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK

Sehlustfeindliche Schwätzer

Im postum publizierten Berliner Journal hat Max Frisch im Frühjahr 1973 Rezen-sionen als „lesenswert wie Börsenkurse“ bezeichnet. In der kurzen Notiz geht er von der feuilletonistischen Rezeption des gerade erschienenen Arbeitsjournals von Bertolt Brecht aus, um in weiterer Folge die Erwartungshaltung der Kritik allgemein skeptisch in den Blick zu nehmen: „Was genau unter Privat zu ver-stehen ist, muss keiner von ihnen definieren; man weiss schon so ungefähr, was verlangt ist, was hingegen ganz und gar schmählich, und handkehrum ihr Ent-zücken: Man darf wieder Ich sagen, weil Peter Handke es gewagt und gekonnt hat.“ 1 Der Schweizer Schriftsteller – auf den Wunschloses Unglück „den grössten Eindruck gemacht“ hatte, weil der „Virtuose“ Handke nun „plötzlich […] etwas zu melden“ habe, sodass er, Frisch, sich „nicht mehr frage, warum ich lese“ 2 – spielt mit dem Vergleich von Literaturkritik und Börsenkurs auf gleich zwei vermeint-liche Probleme der Branche an: zum einen auf die eingeschliffenen Muster und Ressentiments der Literaturkritik, die sich um die Reflexion ihrer Analysekate-gorien nicht ausreichend kümmere und deshalb kaum erkenntnisfördernde oder gar lesenswerte Texte hervorbringe; zum anderen auf das ökonomische Kalkül (Stichwort Bestsellerliste), das in einem kapitalistisch organisierten Kulturbetrieb hinter weiten Teilen des Literaturjournalismus stehe. Beide Vorwürfe begleiteten und begleiten die Geschichte der Literaturkritik seit langer Zeit.3 Sie zählen, wie sich an vielen Beispielen zeigen lässt, zum fixen Repertoire, zum Generalbass

1 Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle unter Mitarb. v. Margit Unser.

Berlin: Suhrkamp 2014, S. 80.

2 Ebd., S. 27. Handke indes zeigte sich, geht man nach einer Notiz von Siegfried Unseld, wenig später von Frischs Erzählung Montauk wenig begeistert: „Sehr kritische Äußerung über die gespielte Ehrlichkeit von Frischs ‚Montauk‘.“ (Siegfried Unseld: Reisebericht Paris, 20./21. November 1975. In: Peter Handke/S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor.

Berlin: Suhrkamp 2012, S. 296)

3 Vgl. Oliver Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2005, S. 31 f.: „Zu den immer wieder gegen die Kritik erhobenen Vorwürfen gehören Käuflichkeit bzw. Korruption, fehlende ästhetische Maßstäbe, Parteilichkeit, illegitime Machtanmaßung, die Vernichtung von Autorenexistenzen, der elitäre Ausschluss breiter Publikumsschichten, popu-listische Simplifizierung, die Dominanz ästhetischer, ethischer oder politischer Maßstäbe.“ Zur

„Kritik der Institution Literaturkritik“ vgl. grundlegend Wolfgang Albrecht: Literaturkritik.

Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 85 – 97.

gegen die Literaturkritik

Sehlustfeindliche Schwätzer

einer ‚Kritik der Kritik‘. Legionen von Autorinnen und Autoren haben sich ihr auf die eine oder andere Weise und mit wechselnder Vehemenz angeschlossen.

Thomas Bernhard und Peter Handke sind nicht nur in konkreten Einzel-fällen als Anwälte und Verteidiger ihrer Veröffentlichungen aufgetreten, sondern haben darüber hinaus grundlegende Einwände gegen das ‚Handwerk‘ der Kriti-kerzunft im Allgemeinen artikuliert. Wiederholt beklagten die beiden Autoren die uninspirierte und unsensible Rezeption ihrer Bücher im deutschsprachigen Feuilleton: „Schauen Sie sich die Leute an, die drüber schreiben“, rät Bernhard 1986 dem Journalisten Werner Wögerbauer, um dann aus seiner Antipathie keinen Hehl zu machen und ein physiognomisches Zerrbild der „primitive[n]“

Kritiker zu entwerfen:

Das sind nur ordinäre, primitive Kasperln, geschmacklose außerdem, die keine Ahnung von dem haben, was sie beschreiben und lesen. Keine Ahnung, mit was sie eigentlich umgehen. Wenn’s heiß wird, ziehn s’ den Rock aus, sitzen mit dicken Bäu-chen und Hosenträgern verschwitzt da, sind ganz vulgär, saufen eine Flasche nach der andern, net, verbrüdern sich mit Krethi und Plethi. Das ist eine üble Meute. Wurscht, wie sie heißen. (TBW 22.2, 293)4

Zwei Jahre zuvor hatte Bernhard die biedere Existenz literarischer Autoren in ähnlichem Duktus mit den Mitteln der Satire gezeichnet: „Es wird doch fast nur wertloses Zeug g’schrieben, von Leuten, die irgendwo in einer Gemeinde-wohnung sitzen, eine Rente haben, und da stehen die Hauspatschen, und dann haben sie Zettelkästen, und dann machen sie halt Bücher, so wie Näherinnen nähen.“ (TBW 22.2, 268 f.) Dieses Bild ließ er kurz darauf seinen Protagonisten Reger, den er durchaus gerne als Sprachrohr eigener Agenden in Anspruch nahm, in Alte Meister (1985) in leichter Variation wiederholen: „Sie sitzen in Wiener

4 Die Passage findet sich auch in Kurt Hofmann: Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Wien:

Löcker 1988, S. 99 f. Bernhards Beschreibung des dickbäuchigen und trinkfreudigen Kritikertypus korrespondiert mit Goethes berühmtem Spott-Gedicht auf die Rezensenten von 1774, in dem das lyrische Ich einen „Kerl zu Gast“ hat, der sich zunächst „satt“ frisst, um anschließend „[ü]ber mein Essen zu raisonnieren“: „Die Supp hätt können gewürzter sein, / Der Braten brauner, firner der Wein. / Der tausend Sackerment! / Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent.“ (Johann Wolfgang Goethe: [Da hatt ich einen Kerl zu Gast]. In: J. W. G.: Sämt liche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarb. mit Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 1.1: Der junge Goethe. 1757 – 1775. Hg. v. Gerhard Sauder. München: Hanser 1985, S. 223 – 224, hier S. 223 f.) Zu Goethes Gedicht vgl. auch Kap. IV, Abschnitt „Schnüffeln und Verreißen“. – Auf die wiederholte Denunziation „körperfixierter Dumpfheit“ (im Gegensatz zur „genialische[n] Ein-samkeit“ des Schriftstellers) in Bernhards Werk hat Franz M. Eybl: „Wenn das Werk lacht, weint der Dichter“. Thomas Bernhards poetologische Maskeraden. In: Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. v. Robert Leucht u. Magnus Wieland. Göttingen: Wallstein 2016, S. 157 – 174, hier S. 162, hingewiesen.

Gemeindewohnungen oder in kärntnerischen Gelegenheits- und Verlegenheits-huben oder in steiermärkischen Hinterhöfen und schreiben Mist, den epigonalen, stinkenden, kopf- und geistlosen österreichischen Schriftstellermist, sagte Reger, in welchem die pathetische Dummheit dieser Leute zum Himmel stinkt, so Reger.“

(TBW 8, 137) Selbstaussagen des Autors und fiktionale Texte greifen hier wie an zahlreichen anderen Schauplätzen des Bernhard’schen Œuvres ineinander;

sie wirken an der Denunziation und Abwertung konkurrierender Akteure im literarischen Feld mit, wobei die entsprechenden Invektiven wiederum der dis-tinktiven Werkpolitik des Autors zuarbeiten.

In allen drei zitierten polemischen Texten geht Bernhard vom Vorwurf provin-zieller, ästhetisch rückständiger Kleingeistigkeit aus und unterstellt, dass äußere Erscheinung und Lebensstil von Autoren und Kritikern mit der Qualität ihrer intellektuellen und künstlerischen Hervorbringungen korrespondieren. Diese Rhetorik der „soziale[n] Diskriminierung“ und „Klassenverachtung“, aus der Pierre Bourdieu zufolge eine Vielzahl polemischer Texte im künstlerischen Feld ihren Impuls bezieht,5 ist bei Bernhard überaus aufschlussreich, hatte er sich doch selbst aus materiell bescheidenen, zudem alles andere als bildungsbürgerlich-intellektuellen Verhältnissen stammend im Literaturbetrieb etabliert. Die Pole-miken gegen das Kleinbürgerlich-Provinzielle 6 sind stets auch als Kommentare zur eigenen, zwar zunächst mühsam, aber schließlich erfolgreich verlaufenen Karriere, zur Sozialisation des 1931 geborenen Autors im Feld der Nachkriegs-literatur Salzburgs, Österreichs und schließlich des gesamten deutschsprachigen Raums zu verstehen.

Wer „über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt“, rekapituliert Bourdieu 1983 eine Aussage von Karl Marx, der habe auch „Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann“.7 Im Bewusstsein seiner eigenen sozialen und familiären Herkunft hat Bernhard, das bezeugen seine heftigen Attacken gegen Proletariat, Provinzialität und Kleinbürgertum, zeitlebens mit der soziologischen Einsicht

5 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frank-furt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 360. Zum Vorwurf der „Kleinbürgerlichkeit“ gegen bestimmte Akteure, Praktiken und Kunstrichtungen vgl. Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 168. Zur allgemeinen kulturgeschichtlichen Dimension siehe den fol-genden Sammelband: Kleinbürger. Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins. Hg. v.

Thomas Althaus. Tübingen: Attempto 2001.

6 Vgl. Karl Wagner: „Er war sicher der Begabteste von uns allen“. Bernhard, Handke und die österreichische Literatur. Wien: Picus 2010, S. 22 f.; Alfred Pfabigan: Motive und Strategien der Österreichkritik des Thomas Bernhard. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur. Hg. v. Johann Georg Lughofer. Wien u. a.: Böhlau 2012, S. 35 – 48, hier S. 44.

7 Pierre Bourdieu: Mit den Waffen der Kritik … In: P. B.: Satz und Gegensatz. Über die Verant-wortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach 1989, S. 24 – 36, hier S. 26 f.

gerungen, wonach eine weitgehende „Analogie“ zwischen „Lebensstil und künst-lerischem Stil“ 8 besteht. Er hat sich in diesem Zusammenhang mit Nachdruck dagegen zur Wehr gesetzt, von den Ausgangsbedingungen seines Milieus im selben Maße determiniert und gehemmt zu werden, wie er dies am Beispiel sei-nes Großvaters Johansei-nes Freumbichler hatte beobachten können; auch in dieser Hinsicht kann Freumbichler als „wichtige Folie für Bernhards Schreiben“, konkret für dessen Entwurf von Autorschaft, gelten.9 Die Faszination des Enkels für die Lebenswelt der Aristokratie und des intellektuellen Großbürgertums ist die Kehr-seite und negative Entsprechung seiner Distinktion vom vielbeschworenen „Her-kunftskomplex“ (TBW 9, 158), an dem sich Bernhard beharrlich abgearbeitet hat.

Die Images des vulgären, dickbäuchigen Kritikers auf der einen und des kleinbürgerlichen Zettelkastenautors auf der anderen Seite, die Bernhard in den zitierten Interviews spielerisch und mit erkennbarer Lust an der Denunziation lanciert hat, arbeiten mit an einer umfassenden Abwertung der literarischen bzw. literaturkritischen Praxis der Geschmähten. Bernhards Polemiken tragen, zumal in den späteren Jahren seines Schaffens, oft das Gewand der Satire, büßen im Zuge der humoristischen Zuspitzung ihre konkrete Treffsicherheit aber noch stärker als bisher ein. Namentlich seine Vorhaltungen gegenüber der Institution der Literaturkritik, die im Folgenden rekapituliert werden sollen, offenbaren selbst dort, wo sie von einer gewissen Akribie der Auseinandersetzung zeugen, eine (bei Bernhard hinlänglich bekannte) Neigung zur undifferenzierten Verallgemeine-rung und Übertreibung.10 Ein gerade fertiggestelltes Theaterstück warte, so der Autor im Dezember 1981 in einem Brief an Siegfried Unseld, in dem er die bei Suhrkamp verlegte Werkgeschichte seines Œuvres als „vollkommen überflüssige Scheusslichkeit“ bezeichnet, „darauf, wie alle anderen, völlig missverstanden zu werden. Ich habe mich mit der Dummheit der Beurteiler abgefunden.“ 11 Knapp vier Jahre später hat sich Bernhards Aggression gegen im Grunde alle anderen

8 Ebd., S. 27.

9 Bernhard Judex: Der Schriftsteller Johannes Freumbichler. 1881 – 1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater. Wien u. a.: Böhlau 2006, S. 223.

10 Vgl. dazu bereits Sigurd Paul Scheichl: Nicht Kritik, sondern Provokation. Vier Thesen über Thomas Bernhard und die Gesellschaft. In: Annali. Studi Tedeschi 22 (1979), H. 1, S. 101 – 119;

später, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Josef Donnenberg: Thomas Bernhards Zeitkritik und Österreich. In: Literarisches Kolloquium Thomas Bernhard. Materialien. Hg. v. Johann Lachinger u. Alfred Pittertschatscher. Weitra: Bibliothek der Provinz 1994, S. 53 – 72. Willi Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen &

Neumann 1990, S. 204, hat für Bernhards Polemiken ganz allgemein festgestellt: „Das Bern-hardsche Schimpfen glänzt durch seine Rhetorik, die Inhalte sind sekundär und austauschbar, was in zunehmender Tendenz für die späteren Werke überhaupt gilt.“

11 Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 17. 12. 1981. In: T. B./S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v.

Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 644.

Akteure im literarischen Feld auf die folgende Formel kondensiert, die strukturell von ferne an die doppelte Polemik – als Autoren- und Kritikerschelte – des jungen Peter Handke in Princeton erinnert: „Lauter kitschiger und kopfloser Schmar-ren wird gedruckt“, so Bernhards Brief an seinen Verleger vom 1. August 1985,

„das ist über so viele Jahre schon deprimierend. Die Schriftsteller sind kunstlose Dummköpfe und die Kritiker sentimentale Schwätzer.“ 12

Handkes Einwände gegen die Literaturkritik erweisen sich bereits auf den ers-ten Blick als differenzierter – gerade sein früher Essay Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (1968) argumentiert, ungeachtet seiner polemischen Agenda, auf hohem literaturtheoretischem Niveau.13 Im Gegensatz zu Bernhard seltener auf pauschale Diffamierungen beschränkt, konstatierte Handke gleichwohl seit langer Zeit und in immer neuen Anläufen ein fundamentales Unvermögen vieler Kriti-ker, literarische Texte in ihrer spezifischen künstlerischen Logik zu begreifen. Das

„Kultur geschwätz deutscher Feuilletonisten“ 14 reizte ihn bei vielen Gelegenheiten zum entschiedenen Widerspruch. Zudem hat Handke ein ums andere Mal gegen die Literaturkritiker den Vorwurf der Unsinnlichkeit erhoben, die mit einer Unfähig-keit zur vorurteilsfreien Lektüre einhergehe: „Sehlustfeindlich“ zu sein, hat er in diesem Sinne Mitte der 1980er Jahre dem „Feuilleton“ in toto attestiert.15 Handkes Neologismus korrespondiert mit einer Klage, die der Autor in gleich mehreren Notaten seiner Journalbände festgehalten hat: „So viele, die über Bücher schreiben (sich auslassen?), machen diese, gerade die wesentlichen, fürs erste unleserlich“.16

Die literaturkritische Kommentierung von Büchern eröffne, so Handke, ihm und anderen Lesern in vielen Fällen keine Zugänge zum Text, keine Wege zu dessen individueller Aneignung, sondern verhindere oft das unbefangene Erleb-nis der Lektüre: „Manchmal denke ich auch, daß das Lesen eine Sache von Leu-ten geworden ist, die den anderen das Lesen immer mehr unmöglich machen“, schreibt Handke am 7. Mai 1974 an Hermann Lenz. Während der Lektüre von Franz Nabls Die Ortliebschen Frauen sei ihm, so Handkes Brief an Lenz, bewusst

12 Bernhard an Unseld, 1. 8. 1985. In: ebd., S. 726.

13 Vgl. Norbert Christian Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart.

Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. N. C. W. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 45 – 63, hier S. 53: „Jenseits der Polemik […] besticht Handkes metakritische Diagnose durch ihr sprach-liches und intellektuelles Niveau sowie durch ein literaturtheoretisches Problembewusstsein, das man in Reich-Ranickis Rezensionen vergeblich suchen wird.“

14 André Müller: Im Gespräch mit Peter Handke. Weitra: Bibliothek der Provinz 1993, S. 54 f.

15 Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982 – 1987). Salzburg, Wien:

Residenz 1998, S. 284.

16 Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 – Juli 1990. Salzburg, Wien:

Jung und Jung 2005, S. 57.

geworden, „was doch alles an Wichtigem und eigentlich Unverlierbarem […]

verloren geht“, weil das Feuilleton nur die ausgetretenen Pfade der hinlänglich kanonisierten und mit Aufmerksamkeit gewürdigten Literatur beschreite, aber keinen Sinn für Entdeckungen und vorderhand ‚Abseitiges‘ mehr habe.17 Die Literaturkritik mache, wie der Autor moniert, nicht aufmerksam auf Bücher und Autoren, schon gar nicht auf vergessene oder noch nicht entdeckte: „Das Problem ist, daß die, die über Bücher schreiben, diese schon längst nicht mehr brauchen“, so Handke im Journal Am Felsfenster morgens, das in den Jahren, in denen der Autor mit seiner Tochter Amina am Salzburger Mönchsberg wohnte, entstanden ist.18 Für seine eigene Tätigkeit als Rezensent hingegen, die in Kapi-tel V in den Blick genommen wird, formulierte er wiederholt den Anspruch, etwas über die besprochenen Bücher „zu schreiben, das wirklich Lust zum Lesen macht“, wie er Lenz im März 1975 aus Paris mitteilt.19 Mit „Lust“ und mit der sinnlichen Erfahrung von Lektüre konnte er die Riege der etablierten Kritiker und ihre Texte nicht in Verbindung bringen.

Handkes Diagnose, wonach die „schlechte[ ] Sprache“ des Journalismus eine

„weltverschließende[ ] Macht“ darstelle,20 wird indes stets durch das Positivbild eines ernsten und freien Lesens sowie eines immer wieder aufs Neue begeister-ten Sprechens und Schreibens über Literatur begleitet: „Es gibt noch Bücher zu lesen jenseits der Zeitungen.“ 21 Die „Serie von negativen Bestimmungen“, mit der das Zeitunglesen bei Handke im Laufe der Jahrzehnte belegt wird, steht, so Karl Wagner, in „scharfe[m] Kontrast zum Selbsterlebnis im Lesen“.22 Die Lektüre im emphatischen Sinn – das „Lesen als Mitbuchstabieren, Entdecken, Welt- und

17 Peter Handke an Hermann Lenz, 7. 5. 1974. In: P. H./H. L.: Berichterstatter des Tages. Briefwech-sel. Hg. u. mit einem Nachtwort versehen v. Helmut Böttiger, Charlotte Brombach u. Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay v. Peter Hamm. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 2006, S. 49.

18 Handke: Am Felsfenster morgens (Anm. 15), S. 14.

19 Handke an Lenz, 14. 3. 1975. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 17), S. 68 f.

20 So der Nachvollzug der Handke’schen Position bei Roland Borgards: Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert. München: Fink 2003, S. 41.

21 Peter Handke: Was ich nicht sagte. Eine Entgegnung auf die Kritik am Heinrich-Heine-Preis.

[2006] In: P. H.: Tage und Werke. Begleitschreiben. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 32 – 34, hier S. 33 f.

Vgl. auch das folgende Notat in Peter Handke: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M.:

Suhrkamp 1983, S. 41: „Wenn ich Goethe lese, habe ich auch Lust zu den eigenen Sachen (auch diese nachzulesen); er macht sie nicht nichtig, wie das so viele Zeitungssätze tun“. Vgl. dazu Thorsten Carstensen: „Ich muß zu Meinesgleichen!“ Lesen, Ahnenkult und Autorschaft bei Peter Handke.

In: Die tägliche Schrift. Peter Handke als Leser. Hg. v. T. C. Bielefeld: transcript 2019, S. 9 – 40, hier S. 26: „Das Lesen wirkt in Handkes Texten als Gegenmittel zu jener beschleunigten Übermittlung von Nachrichten, als deren Sinnbild der Autor immer wieder die Tageszeitung angeführt hat.“

22 Karl Wagner: Handkes „Der Roman des Lesens“. In: Texttreue. Komparatistische Studien zu einem masslosen Massstab. Hg. v. Jürg Berthold u. Boris Previšić. Bern u. a.: Lang 2008, S. 173 – 181, hier S. 177. Zu Handkes Lektüre-Emphase vgl. auch ders.: Handke als Leser. In: lesen.heute.

Selbsterforschen“ 23 – bleibt dem abseits der ‚Aktualitäten‘, abseits der schnell-lebigen Artikel zum Tag veröffentlichten Buch vorbehalten. Wenn der Autor am 14. November 1986 notiert: „Noch einmal zum Zeitunglesen: das Lesen versäu-men“,24 verweist er damit nicht nur auf ein Problem der Zeitökonomie – mehr Zeitungslektüre bedeutet weniger Zeit für das Lesen von Literatur –, sondern trifft auch eine Unterscheidung zweier miteinander unvereinbarer Lektüre-weisen: eine strikte, zum Manichäischen tendierende Differenzierung, die für Handke – bis heute – eine wichtige Rolle spielt: „Unheimlich und unappetitlich sind die Allesleser (die Zeitschriften genauso lesen wie Bücher, Bücher genauso wie Zeitungen)“.25 Mit Nachdruck hat Handke nicht erst im Kontext der Dis-kussionen um seine Haltung zum Jugoslawien-Krieg, sondern schon früher auf dem „Unterschied zwischen journalistischer und literarischer Sprache“ 26 bzw.

auf dem „Unterschied zwischen Journalismus und Schriftstellertum“ 27 beharrt.

Insbesondere der ‚Aktualitätszwang‘ des Journalismus steht dabei, wie die For-schung gezeigt hat, mit Handkes Ideal des „Schärfen[s] der Aufmerksamkeit für die Einzelheiten durch die verlangsamte Lektüre“ in Widerspruch.28 „Die Zeitun-gen sind, haben von vornherein eine Aktualität“, hält er in diesem Sinne im Juni 1988, unterwegs im Friaul, an der Grenze zu Jugoslawien, fest; „das Buch, auch

perspektiven. Hg. v. Eduard Beutner u. Ulrike Tanzer. Innsbruck u. a.: StudienVerlag 2010, S. 140 – 149.

23 Peter Handke: Fragment zu Friederike Mayröcker. [2009] In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 21), S. 47 – 48, hier S. 47.

24 Handke: Am Felsfenster morgens (Anm. 15), S. 418.

25 Handke: Phantasien der Wiederholung (Anm. 21), S. 85.

26 Peter Handke: Ein Brief. [2006] In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 21), S. 41 – 42, hier S. 41 f. – Auch an einer zentralen Stelle gegen Ende der vieldiskutierten Winterlichen Reise (1996) hat Handke den Unterschied zwischen literarischer und journalistischer Welterschließung hervor-gehoben: „Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten.“ (Peter Handke:

Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 133)

27 Rosina Katz-Logar: „Literatur ist wie ein Schlager“. [Gespräch mit Peter Handke.] In: Kleine Zeitung, 17. 5. 2007. Vgl. auch Adolf Haslinger: In treusorgender Ironie. In: Peter Handke/A. H.:

Einige Anmerkungen zum Da- und zum Dort-Sein. Ehrendoktorat an Peter Handke durch die Universität Salzburg. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2004, S. 13 – 34, hier S. 24: „Was ihn dabei zum Gegenentwurf reizt, ist […] die von Meinungen, Stellungnahmen, Informationen ver-stellte Welt, jene der täglichen Schrift, des Journalismus und des gedankenlosen, ahnungslosen Geplappers.“ Noch in seinem bislang letzten Journalband notiert Handke 2011: „Meinungen, Meinungen, immer nur Meinungen! Auf die Almen mit euch, damit ihr das Erzählen lernt“

(Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie.

2007 – 2015. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2016, S. 148).

28 Heiko Christians: Der Roman vom Epos. Peter Handkes „Poetik der Verlangsamung“. In: Hof-mannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 10 (2002), S. 357 – 389, hier S. 382.

bloß ein Satz, ein Absatz, eine Seite, dagegen ist etwas zu Aktualisierendes – zu Erarbeitendes“.29 Das ‚Aktuelle‘ aus Politik und Zeitgeschehen und das erst nach und nach ‚Zu-Aktualisierende‘ der Literatur stehen bei Peter Handke seit jeher in einem spannungsreichen Verhältnis.

Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers)

Was Bernhard und Handke jedenfalls eint, ist ein schwieriges, von vielerlei Fak-toren beeinflusstes Verhältnis zum Medium der Zeitung. Dabei spielt das Inte-resse an der journalistischen Wahrnehmung und Kommentierung des eigenen Schreibens – die Suche nach dem eigenen Namen, nach Rezensionen eigener

Was Bernhard und Handke jedenfalls eint, ist ein schwieriges, von vielerlei Fak-toren beeinflusstes Verhältnis zum Medium der Zeitung. Dabei spielt das Inte-resse an der journalistischen Wahrnehmung und Kommentierung des eigenen Schreibens – die Suche nach dem eigenen Namen, nach Rezensionen eigener