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PAUSE MIT UNTERBRECHUNGEN (1963–1969)

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 193-200)

In den Hundejahren wurde der Einbruch politischer Wirklichkeit in das Leben eines Künstlers lite-rarisch ausführlich behandelt. Nach Abschluss der ‚Danziger Trilogie‘ stand bis zum Wahlsieg der SPD bei den Bundestagswahlen von 1969 das politische Engagement in Grass’ Leben im Vorder-grund.439 Unmittelbar dahinter blieb das Schreiben mit Theaterspielen präsent, die von dem zeit-genössischen politischen Geschehen und dem Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Politik geprägt wurden: POUM – oder die Vergangenheit fliegt mit (1965), Die Plebejer proben den Auf-stand (UA 1966) und Davor (UA 1969). Zudem publizierte Grass den Gedichtband Ausgefragt (1967) und den Roman örtlich betäubt (1969). Die bildende Kunst rückte dagegen in den Hinter-grund. Für das Zeichnen wurde es, so erinnert der Schriftsteller in seinem Werkstattbericht, „nicht mehr still genug“.440 Veröffentlicht wurden lediglich einige Bleistiftzeichnungen zur Lyrik, Buch-umschläge zu den oben genannten Publikationen, zu der amerikanischen Ausgabe von Reinhard Lettaus Sammlung absurder Kurzgeschichten Obstacles (1965)441 sowie dreizehn Federzeichnun-gen zu Ingeborg Bachmanns Ein Ort für Zufälle (1965).

Warum also überhaupt eine Auseinandersetzung mit den Jahren 1963 bis 1969 im bildkünstle-rischen Schaffen von Günter Grass? Zum einen, weil die ersten Zeichnungen des Grafikers zu einem fremden Text und damit zu einer von ihnen losgelösten Poetologie ihre Beschaffenheit noch klarer zeigen, als die Bilder, die in Verbindung mit seiner eigenen Literatur entstanden sind.

Zum anderen bestätigt Grass’ zeitweiliger Rückzug aus der grafischen und plastischen Bilderwelt, der mit einer Enthaltsamkeit von fantastischen Einfällen, bilderzeugenden Stilfiguren und Bezügen zur bildenden Kunst in seinen Texten einherging,442 den engen Zusammenhang von Kunst und Literatur in seiner Werkstatt. Darüber hinaus bilden das politische Engagement und die mit ihm in Verbindung stehende Auseinandersetzung mit Vernunft und Aufklärung eine wichtige Grundlage für die im nächsten Kapitel beleuchteten Motivkomplexe. Ein aufklärerischer Anspruch ist bereits in Grass’ Literatur der Sechzigerjahre erkennbar und wird gegen Ende des Jahrzehnts durch eine starke Betonung der empirischen Erfahrung ergänzt, die im Tagebuch einer Schnecke in einer er-neuten Hervorhebung des Sehens und in der Integration der bildenden Kunst in sein Werk zum Ausdruck kommt.

439 Bereits im Zuge seiner Wahlkampfreise im Frühjahr und Sommer 1969 begann Grass mit der Arbeit am Tagebuch einer Schnecke und setzte sie nach dem Wahlsieg intensiv fort, während er sich politisch lediglich an einzelnen Projekten beteiligte. Der bewusste Rückzug aus dem politischen Geschehen erfolgte 1972 und wurde von Grass in einer Rede auf einer Tagung der Sozialdemokratischen Wählerinitiative in Bonn am 16./17. Dezember 1972 verkündet. Vgl. Köbel (2013), S. 979–984. Zu Grass’ Bemühungen, seit 1969 aktiv an der Regierungsarbeit mitzuwirken, vgl. ebd., S. 1109–1119.

440 Grass (2014), S. 131.

441 Die deutsche Erstausgabe wurde 1962 unter dem Titel Schwierigkeiten beim Häuserbauen, 21 Geschich-ten über absurde – oder besser gesagt normale Situationen, die ins Absurde kippen veröffentlicht.

442 Wie Cepl-Kaufmann in ihrer weiterhin grundlegenden Studie zu Wechselbeziehungen von Literatur und Politik in Grass Gesamtwerk aus dem Jahr 1975 herausarbeitete, gehen „die zunehmende Aufnahme aktu-ell politischer Themen und die Zunahme politischer Tätigkeit“ in Grass zwischen 1965 und 1972 veröffent-lichten Werken „einher mit der Reduktion des Fiktionsgrades und dem Ansteigen des Abstraktionsgrades“.

Vgl. Cepl-Kaufmann (1975), S. 140.

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Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle (1965)

Bachmanns Erweiterung ihrer 1964 gehaltenen Büchner-Preis-Rede „Deutsche Zufälle“ reflektiert drei Jahre nach dem Bau der Mauer das „beschädigte Berlin“ wie ein Zerrspiegel. Das nationalso-zialistische Erbe gelangt darin immer wieder an die Oberfläche des städtischen Lebens.443 Bei ihrem zwischen Essay und „Prosagroteske“ changierenden Text444 handelt es sich jedoch weniger um eine Analyse der herrschenden gesellschaftlichen und politischen Zustände, als um eine Dar-stellung der zerstörerischen Auswirkungen einer grundlegenderen „Disharmonie“ des Ortes Berlin auf seine Bewohnerinnen und Bewohner, die zugleich Patienten einer Heilanstalt sind. Das buch-stäblich Verrückte der Perspektive der so Betroffenen vermittelt der abwechselnd erlebende und beobachtende Erzähler,445 indem er bekannte Berliner Schauplätze und tagespolitische Ereignisse verfremdet.446 Die Schriftstellerin nahm mit diesem Text auf die Thematik des Wahnsinns in Georg Büchners Lenz Bezug und schuf zugleich eine Ankündigung ihres „Todesarten“-Projekts, das ver-schiedene Formen der Gewalt am Individuum, „sublime Verbrechen der modernen Gesellschaft“, umkreisen sollte.447 Bachmanns ursprünglicher Einstieg in die Rede wurde auf der Rückseite des Buches abgedruckt und charakterisiert es als:

Topografie und Diagnose eines Krankheitsbildes. Zufälle, die sich nicht nur aus jetzigen Eigenarten der Einzelnen ergeben, sondern schon viel früher kollektiv von ihnen ausgegangen sein können und nun förmlich von außen den Rückweg antreten nach innen, als ‚alte‘ Zufälle, als Verformung, als Wahn, in der Perspektive des Lenz – so wie ihn Georg Büchner beschrieb –, der auf dem Kopf ging.448 Die Publikation des Textes als Quartheft durch Klaus Wagenbach sollte dessen im Vorjahr gegrün-deten Berliner Verlag unterstützen. Die Rede wurde von der Autorin um vier berlinspezifische Passagen ergänzt, so dass sie abschließend aus sechsundzwanzig Abschnitten bestand.449 Für eine separate Veröffentlichung war die Schrift dennoch recht kurz, weshalb Bachmann, der Verleger und Grass beschlossen, der Publikation Zeichnungen des Schriftstellers beizufügen.450 Alle Betei-ligten erarbeiteten gemeinsam die gestalterische Komposition des Bandes. In der Veröffentli-chung betonen im Umfang variierende Leerzeilen, Leerseiten und Grass’ Zeichnungen die Gliede-rung der Prosa in eigenständige Teile.451 Miteinander verbunden sind die Schilderungen durch die Wiederholung einzelner Themen, Motive und Figuren sowie gerade durch die den Text kontinu-ierlich durchziehende Diskontinuität.452

Grass’ dreizehn Federzeichnungen illustrieren die alogisch aufgebauten Handlungsstränge nicht, sondern präsentieren sich, lediglich auf einzelne Motive und Strukturen des Textes

443 Vgl. Bannasch (2002), S. 178.

444 Zu der in der Rezeption immer wieder problematisierten Gattungsfrage vgl. Däufel (2013), S. 9–32. Den wegweisenden Terminus der „Prosagroteske“ führte für Ein Ort für Zufälle ein: Bartsch (1982), S. 81 f., S. 84.

445 Vgl. Bannasch (2002), S. 178.

446 Zur Aufschlüsselung von realen Ereignissen aus dem politischen Berlin vgl. Schlinsog (2005), S. 124–133.

447 Vgl. Bannasch (2002), S. 176 und Schlinsog (2005).

448 Bachmann (1965), Buchumschlag, Rückseite.

449 Vgl. Däufel (2013), S. 63.

450 Vgl. Wagenbachs Nachwort zur Ausgabe von 1999: Bachmann (1999).

451 Vgl. Däufel (2013), S. 105.

452 Vgl. ebd., S. 112–117.

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nehmend, als selbständiger visueller Kommentar.453 Bei den gezeichneten Motiven handelt es sich teilweise um solche, die der Grafiker bereits im Umkreis der ‚Danziger Trilogie‘ und insbesondere zu den Vorzügen der Windhühner (1956) und Gleisdreieck (1960) zur Darstellung gebracht hatte.

Sie weisen auf die in den ersten Gedichtbänden schreibend und zeichnend behandelten Themen der existentiellen Bedrohung sowie den in Berlin besonders spürbaren Ost-West-Konflikt zurück.454 Durch motivische Rückgriffe auf das eigene Werk und beibehaltene Konzeptionssche-mata betonte Grass die Eigenständigkeit seiner Arbeiten gegenüber Bachmanns Text und setzte diesem eigene, gleichsam grafisch dargebotene Metaphern entgegen.

Exemplarisch seien zwei Darstellungen angeführt, die Motive realisieren, die in dieser Arbeit weiter oben bereits behandelt wurden. Die erste zeigt einen in Stacheldraht verfangenen Stelz-vogel, der gleich zu Beginn des Textes die von außen und innen eingeschränkte Freiheit eines Sub-jekts repräsentiert (Abb. 119). Das Vogelmotiv figuriert in den Vorzügen als Sinnbild der zweckfreien Kunst und Künstler und ist auch unabhängig von dieser Referenz als Symbol der unabhängigen Entfaltung verständlich. In der Federzeichnung von 1965 hält der mit diversen Grenzziehungen im öffentlichen Raum assoziierbare Stacheldraht die Beine und die Flügel des Tieres unter Androhung von Schmerzen in Schach. Die Haltung des Vogels vermittelt zudem eine Bewegungsunfähigkeit, die aus seinem Streben in entgegengesetzte Richtungen resultiert:

Während Körper und Fußgelenke der Figur zur linken Bildseite hingewendet sind, ist der Hals des Tieres scharf nach rechts gebogen.

453 Vgl. ebd., S. 131.

454 Vgl. ebd., S. 131–139.

Abb. 119, Ingeborg Bachmann, Ein Ort für Zufälle, mit 13 Zeichnungen von Günter

Grass, Berlin 1965, S. 6

Abb. 120, Ingeborg Bachmann, Ein Ort für Zufälle, mit 13 Zeichnungen von

Günter Grass, Berlin 1965, S. 31

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Das zweite Beispiel zeigt eine Krankenschwester, die einen Hummer unter ihrer Brust hält (Abb. 120). Das Motiv erinnert an die oben behandelte Erzählung „Meine grüne Wiese“, in der sich die weibliche Hauptfigur, ein junges Mädchen in einem weißen Kleid, von den Scheren eines Krebstiers tödlich verletzen lässt. Die Zeichnung gemahnt entsprechend an die zu diesem Text entstandenen „Pepita“-Zeichnungen sowie an Passagen aus der Blechtrommel, in welchen Kran-kenschwestern eine ambivalente – zwischen einschläfernder Geborgenheit und sexueller Anzie-hungskraft schwankende – Wirkung auf Oskar ausüben wie auch an eine ähnlich konnotierte Federzeichnung von 1957, die eine Krankenschwester mit einem Aal zeigt.455 Die auffällige Run-dung des Frauenkörpers, die die über Rücken und Nacken und bis in den Haaransatz hinein geführte Linie generiert, findet in der ovalen Wölbung des Tierkörpers ein Echo, so dass die gesundheitsfördernde Angestellte und das mit scharfen Scheren ausgestattete Krustentier eine neue, in sich widersprüchliche Einheit bilden.

Im Kontrast zu Grass’ eigenen literarischen Motiven und Metaphern beruhen die Sprachbilder Bachmanns nicht auf eng zusammengeführten Gegensätzen. In Ein Ort für Zufälle kommt das Motiv des Vogels nicht vor. Krankenschwestern spielen zwar eine wichtige Rolle, da doch Berlin in diesem Text als Heilanstalt präsentiert wird, und ihre berufliche Funktion im Widerspruch zu ihrem als grausam geschilderten Verhalten steht456 – dieser Gegensatz wird jedoch nicht, wie so oft in Grass’ Motivwelt, anhand ihrer Erscheinung demonstriert.457

Der grundlegende Zusammenhang zwischen Text und Bild ergibt sich deshalb aus den über-geordneten Themen, im Fall der angeführten Beispiele: der erzwungenen Eingrenzung sowie dem Spannungsverhältnis von Verletzung und Heilung. Die Vereinbarkeit der Grassʼschen Kompositio-nen mit Bachmanns Prosa belegt die universelle Aussagekraft der Zeichnungen. In Kombination mit Ein Ort für Zufälle erhalten sie einen auf Berlin bezogenen Akzent.

455 Vgl. die Federzeichnung Krankenschwester mit Aal, 1957 in Grass (2014), S. 83; vgl. dazu den entschei-denden Hinweis bei Däufel (2013), S. 137 f.

456Vgl. Bachmann (1965), S. 30, auf der der Zeichnung gegenüberliegenden Seite: „Die Patienten, denen Spaziergang verordnet ist, wollen trotzdem hinunter ans Wasser, aber die Schwester befiehlt allen, stehen-zubleiben, steigt allein über den Baum, sieht nach, hebt die Äste, schaut, ob Blut an den Ästen ist, ob der Baum jemanden getötet hat.“

457 Ein gutes Beispiel sind die in der Blechtrommel aus Oskars Perspektive beschriebenen Krankenschwes-tern: Ihre weiße Arbeitskleidung wird mit den Rotkreuzbroschen kontrastiert, die sie an ihren Häubchen tragen. Der Erzähler entwickelt aus diesem visuellen Gegensatz die Assoziation von Heilung und Schlaf auf der einen Seite und erotischer Leidenschaft auf der anderen. (III 199 –201)

Abb. 121, Ingeborg Bachmann, Ein Ort für Zufälle, mit 13 Zeichnungen von Günter Grass, Berlin 1965, S. 60 f.

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Umgekehrt wirken Grass’ Bilder auf die Rezeption des Textes ein. Unterstützt allein die Lokalisie-rung der Prosahandlung in Berlin den politischen Charakter seiner Arbeiten, so heben zahlreiche seiner Zeichnungen, die den Widerspruch der Teilung von etwas im Grunde Unteilbarem betonen, den politischen Kontext stärker hervor, in dem die Prosa angesiedelt ist.458 Auch im Fall jener Bild-gruppe ist der Bezug der Grafiken zum Text nicht illustrativ: Eine prominent in der Mitte des Bandes auf einer Doppelseite platzierte Zeichnung zeigt zum Beispiel ein ruhendes Kamel mit zwei Höckern, die im oberen Bereich in Berliner Stadtkulissen übergehen (Abb. 121). Das Bild folgt auf den dreiundzwanzigsten Abschnitt, auf die einzige Passage, die eine Erlösung von Berlin ver-spricht, denn auf den Rücken von Zirkuskamelen gelangen die Patientinnen und Patienten aus der Stadt:

Die Kranken haben nur auf die Kamele gewartet, gehen auf die Kamele zu, stellen sich unter ihren Schutz. Die Felle riechen inbrünstig nach Wüste, Freiheit und Draußen, jeder geht mit seinem Kamel und kommt ungehindert weiter, querfeldein geht’s, durch den Forst, man schwimmt mit dem Kamel durch die Gewässer. Das Kamel scheut kein Wasser, es hört keinen Pfiff, keinen Rettungswagen, keine Sirene, keine Nachtglocke, keinen Schuß. Noch einen Forst, dann wieder ein Forst. Im Sand wird das Kamel immer schneller. Ein letzter Forst. Man ist draußen.459

Es folgen eine leere Doppelseite, die die im Text vermittelte Befreiung unterstreicht, und Grass’

Zeichnung auf der nächsten Doppelseite. Seine Darstellung greift das Tiermotiv zwar auf, gestaltet es jedoch nicht als Sinnbild der Freiheit, sondern vorrangig als solches des geteilten Berlins: Das Kamel bewegt sich nicht, es hat es sich vielmehr bequem gemacht und die Stadt mit den für sie typischen freigestellten Brandmauern auf zwei Höcker verteilt in sich aufgenommen. Diese Um-deutung kann nicht allein als Repräsentation der Teilung verstanden werden, sondern darüber hinaus auch als Verdichtung des von Bachmann aufgebauten Kontrastes von Wüste (Utopie) und Berlin (Dystopie) sowie als Aufhebung jedes Erlösungsgedankens. Zur Prosa steht die Grafik damit nur kurzzeitig im Widerspruch: In Ein Ort für Zufälle ist die Flucht nach „draußen“ lediglich ein Ausflug in die märkische Wüste. Bereits mit dem nächsten Abschnitt befinden sich die Leserinnen und Leser wieder in Berlin: „Der Holzstoß ist errichtet am Kurfürstendamm, Ecke Joachimstaler-straße.“460

458 Bachmann (1965), S. 49, S. 53, S. 60 f., S. 67.

459 Ebd., S. 57 f.

460 Ebd., S. 63.

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Ein weiteres grafisches Sinnbild veranschaulicht die im Text präsente Kritik am rasanten west-deutschen Konsumfortschritt. Es ist besonders bemerkenswert, weil es eine Komposition präsen-tiert, mit der sich Grass noch Jahre später eingehend beschäftigen sollte. Das Bild zeigt über eine Rolltreppe gleitende Raupen (Abb. 122) und bereitet auf diese Weise die ab 1968 zum Tagebuch einer Schnecke geschaffenen Zeichnungen und Sprachbilder vor, die den „Stillstand im Fortschritt“

emblematisch ins Bild setzen. Das Schleichen der Raupen konterkariert die schnellere Bewegung der Rolltreppe.

In Bachmanns Prosa verschwimmen die Grenzen zwischen Krankenhaus und KaDeWe, in das nun alle Kranken respektive Konsumentinnen und Konsumenten drängen: Nachdem die große Euphorie verklungen ist, hören die Leute

wenigstens auf zu johlen und sind nur noch lustig, die Dekoration wird abgerissen und von den obersten Stockwerken geworfen, die Rolltreppen sind verklemmt, die Lifts sind schon ganz vollge-stopft mit Schals und Kleidern und Mänteln, die alle mitsollen, aber die dicken Kassiererinnen stecken mitten drin, sind am Ersticken und rufen: das muß alles bezahlt werden, das werdet ihr noch bezahlen!461

Im beigefügten Bild wurde folglich eine eigenständige Ausdrucksform der Fortschritts- und Kon-sumkritik entworfen, die lediglich im Motiv der Rolltreppe einen Berührungspunkt mit dem Text aufweist.

Verglichen mit den Zeichnungen zu den Vorzügen der Windhühner und Gleisdreieck enthalten Grass’ Bilder von 1965 seltener expressiv oder kubistisch anmutende Formbildungen. Sie konzent-rieren sich mehrheitlich auf eine mimetische Wiedergabe der einzelnen Gegenstände, nehmen jedoch die Fantastik der Prosa durch spannungsreiche Kombinationen und ihre grotesken Über-treibungen in Form von irrealen Maßstabsverhältnissen der dargestellten Objekte auf.462

461 Ebd., S. 16.

462 Vgl. Bannasch (2002), S. 178.

Abb. 122, Ingeborg Bachmann, Ein Ort für Zufälle mit 13 Zeichnungen von Günter Grass, Berlin 1965, S. 17

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Bachmanns Text ähnelt hinsichtlich dieser Wirklichkeitsverfremdung Grass’ Lyrik und Kurzprosa der Fünfzigerjahre. Da seine eigenen Gedichte aus den Jahren 1966 und 1967 wie auch die zu ihnen entstandenen Zeichnungen einen wesentlich realistischeren Charakter haben, erscheint seine grafische Auseinandersetzung mit Ein Ort für Zufälle als Reminiszenz an eine vertraute, aber für das eigene literarische Werk zeitweise verabschiedete Ausdrucksweise.

Grass’ Interesse für Ein Ort für Zufälle hing nicht nur mit der Wertschätzung diesem Text ge-genüber und der Freundschaft zu Bachmann zusammen, die die Jahre 1963 bis 1965 in Berlin ver-brachte.463 Der politische Kern ihrer Prosa – deutsche Teilung, mangelnde Vergangenheitsbewälti-gung und KonsumüberwältiVergangenheitsbewälti-gung in Berlin – beschäftigte ihn ebenso wie sie. In das ereignisreiche Jahr 1961 fiel der Beginn seiner politischen Aktivität, die ihren Anlass zunächst im Ost-West-Konflikt und der Errichtung der Mauer hatte.

Grass’ politisches Engagement in den Jahren 1961 bis 1965

Im Rahmen des fünften Schriftstellerkongresses der DDR in Ostberlin, im Mai 1961, hatte Grass die Einschränkung des Zugangs zu internationaler Literatur in der DDR kritisiert.464 Kurz nach Be-ginn des Mauerbaus, am 14. August 1961, verfasste er einen offenen Brief an Anna Seghers in ihrer Funktion als Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes in der DDR, worin er sie dazu aufforderte, gegen die sich weiter konkretisierende Teilung des Landes zu protestieren. Ein Schreiben an die Institution des Deutschen Schriftstellerverbandes setzte er gemeinsam mit Wolfdietrich Schnurre auf und überreichte es gemeinsam mit ihm persönlich in Ostberlin an den ersten Sekretär der Vereinigung, Erwin Strittmatter.465

Grass’ Eintritt ins Wahlkampfgeschehen ist ebenfalls auf das Jahr 1961 datiert. Seinem Enga-gement ging die Sympathie für Willy Brandt voraus. Der Kanzlerkandidat der SPD wurde von Adenauer in dessen Regensburger Wahlrede vom 14. August 1961 hinsichtlich seiner Integrität und Glaubwürdigkeit angegriffen. Indem der amtierende Bundeskanzler von „Brandt alias Frahm“

sprach, wies er abfällig auf die Emigration des SPD-Politikers während des Zweiten Weltkrieges hin, die mit dem selbstgewählten Namenswechsel von Frahm zu Brandt einherging, sowie implizit auf dessen außereheliche Geburt.466 Grass stieß dieser Ausfall zutiefst ab und ließ ihn noch vor dem ersten persönlichen Kontakt zu Brandt Partei für den Politiker ergreifen.

Im Mai 1961 hatte Brandt Hans Werner Richter darum gebeten, unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern anzufragen, wer zu einem vertraulichen Gespräch bereit wäre, bei dem es um einen intensiveren Austausch zwischen den Geistesschaffenden und der Politik, und insbesondere um eine Unterstützung der SPD durch die Intellektuellen im bevorstehenden Wahlkampf gehen sollte. Richter, der als politisch engagierter Gründer der Gruppe 47 für diese Mittlerrolle

463 Grass (2014), S. 131: „Da wohnten wir schon in Berlin-Friedenau. Ab Beginn der sechziger Jahre und weit in dieses Jahrzehnt hinein war Berlin ein literarischer Ort. […] Uwe Johnson wohnte um die Ecke, Enzens-berger nicht weit entfernt. Fremd und verletzt kam, immer wie auf der Flucht, Ingeborg Bachmann auf kur-zen Besuch vorbei. (Sie bewohnte salonartige Räume in jener inzwischen aufgemöbelten Villa im Grune-wald, Königsallee, in deren Keller Anna und ich Anfang der fünfziger Jahre gehaust hatten.).“

464 Vgl. Kölbel (2013), S. 1066.

465 Vgl. Schlüter (2010), S. 23 und Essig (2000), S. 288.

466 Vgl. Kölbel (2013), S. 1079.

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niert war,467 wendete sich zunächst nicht an Grass, weil er bei dem nach der Veröffentlichung der Blechtrommel als Bürgerschreck verschrienen Dichter mehr anarchistisches Potenzial als realpoli-tisches Interesse vermutete.468 Nachdem Grass von dem ohne ihn in Bonn geführten Gespräch erfuhr, beschwerte er sich bei Richter und wurde zur Fortsetzung des Dialogs im September ein-geladen. Als sich Brandt am Ende dieser zweiten Runde erkundigte, wer sich im Wahlkampf für die SPD engagieren würde, etwa durch Korrekturen von Wahlreden, war Grass der einzige Freiwil-lige. Er machte im Folgenden Verbesserungsvorschläge für Brandts Texte und begleitete ihn auf einzelnen Wahlkampfreisen.469

Auch wenn Brandt im Oktober 1961 Adenauer unterlag, war Grass’ politisches Interesse nach-haltig geweckt: Im Bundestagswahlkampf von 1965 verstärkte er seinen Einsatz. Gemeinsam mit Richter und Wagenbach initiierte er den „Wahlkontor“, an dem eine Gruppe deutscher Schriftstel-ler derselben Generation, darunter Peter Härtling und Hubert Fichte, mitwirkte. Ihr Ziel war es, der SPD mit Verbesserungsvorschlägen und Ideen für Reden und Werbekampagnen unter die Arme zu greifen und eine stabilere Brücke zwischen „Macht und Geist“ (Weber) zu schaffen, ohne sich von der Partei vereinnahmen zu lassen. Grass beteiligte sich zudem erstmals durch Wahlre-den, in welchen er ohne Absprache mit der SPD auch eigene Schwerpunkte setzte.470

Grundtenor seiner Ansprachen war ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger, ihre gesell-schaftliche Verantwortung als Wählende wahrzunehmen und sich bei ihrer Entscheidung ihres Verstandes zu bedienen. Grass legitimierte sein politisches Wirken als Intellektueller, indem er

Grundtenor seiner Ansprachen war ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger, ihre gesell-schaftliche Verantwortung als Wählende wahrzunehmen und sich bei ihrer Entscheidung ihres Verstandes zu bedienen. Grass legitimierte sein politisches Wirken als Intellektueller, indem er

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 193-200)