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Exkurs: Gegenständlichkeit und Moral

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 96-108)

Spätestens seit Ende des Jahres 1954 kombinierte Grass in seiner Lyrik Schilderungen alltäglicher Objekte aus disparaten Zusammenhängen miteinander. Gleiches gilt für die ab Mitte 1955 im Zusammenhang mit den Gedichten entstandenen Zeichnungen. In die Periode dieses Umbruchs fällt die Debatte zwischen dem Kunstkritiker Will Grohmann und dem Akademiedirektor Karl Hofer. Die innerhalb des Künstlerbundes bereits seit Jahren geführte Diskussion um die Geltung von gegenstandsloser und figurativer Kunst geriet 1955 ins Zentrum der öffentlichen Aufmerk-samkeit.

Der Kunsthistoriker Will Grohmann war 1948 von Dresden nach Westberlin gezogen und von Karl Hofer an die HfBK berufen worden. Neben seiner Lehrtätigkeit verfasste Grohmann, der be-reits in der Weimarer Republik publizistisch als Vermittler der Avantgarden in Erscheinung getre-ten war, Kritiken für Die Neue Zeitung – ein von den amerikanischen Besatzern herausgegebenes Blatt. In seinen Artikeln trat Grohmann in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre immer deutlicher als Förderer der gegenstandslosen Kunst in Erscheinung.265

Hofer dagegen stand dieser Kunst kritisch gegenüber. Er befürchtete die Entwicklung des Non-figurativen zu einer beliebigen, „reinen unmenschlichen Artistik“ und vertrat damit eine konserva-tive Position, die mit den Ausführungen Hans Sedlmayrs vergleichbar ist. Hofer brachte seine Meinung ab 1950 in Reden und Essays zum Ausdruck.266 Obzwar seine Einstellungs- und Ausstel-lungspolitik als Hochschuldirektor und Präsident des Künstlerbundes von seiner persönlichen Hal-tung weitgehend unbeeinflusst blieb, lösten seine öffentlichen Äußerungen angesichts der von ihm bekleideten Ämter Befremden unter den gegenstandslos arbeitenden Künstlern aus. Der Kon-flikt eskalierte 1954/1955 mit dem Übergang auf die Presse-Bühne:267

In einer Ausgabe der Zeitschrift Constanze wurde Hofer 1954 mit der angeblich im Rahmen eines Interviews gefallenen Bemerkung zitiert: „Als ich dahinter kam, wie einfach es ist, gegen-standslos zu malen, hat mich diese Art Malerei nicht mehr interessiert.“268 Tatsächlich handelte es sich um einen stark gekürzten und zugespitzten Auszug aus Hofers Biografie Aus Leben und Kunst von 1952.269 Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay und Fritz Winter traten nach der Veröffentli-chung aus dem Künstlerbund aus und wurden in dieser Entscheidung nachdrücklich und nicht uneigennützig von Will Grohmann unterstützt.270 Sowohl Hofers Bemühungen, eine Richtigstel-lung in der Constanze zu erwirken als auch sein Versuch, die Künstler zur Rückkehr zu bewegen, scheiterten. 1955 verfasste er für die Zeitschrift Der Monat einen Aufsatz zur „Situation der bil-denden Kunst“. Der seit Jahrzehnten zwischen ideologisch-politischen Fronten stehende und auf-grund dessen von den Vorgängen besonders empfindlich getroffene Hofer beklagt darin nicht nur die Intoleranz der Nonfigurativen gegenüber den Figurativen, sondern greift zugleich die „Skriben-ten“ der gegenstandslos arbeitenden Künstler und damit vor allem Will Grohmann polemisch an,

265 Vgl. Bode (2013).

266 Zitiert nach Fischer-Defoy (2004), S. 284.

267 Vgl. Kat. Ausst. Leipzig (2004), S. 162–171.

268 Die Ausgabe wurde am 12.11.1954 veröffentlicht.

269 Hofer (1952).

270 Vgl. zu den Auseinandersetzungen innerhalb des Deutschen Künstlerbundes, insbes. zwischen Hofer und Baumeister: Fischer-Defoy (2004).

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indem er den Kunstkritiker und seine Kreise mit Goebbels und dem „Nazistaat“ vergleicht. Für einen zweiten Abdruck im Tagesspiegel wurde auch dieser Text des Hochschuldirektors zusätzlich radikalisiert, nämlich um relativierende Passagen gekürzt. Zudem änderte die Redaktion den Titel in: „Der Mut, unmodern zu sein“, womit sie dem Verfasser bereits einen rückwärtsgewandten Standpunkt zuschrieb. Grohmann, der zumindest phasenweise selbst unter dem „Dritten Reich“

gelitten hatte, formulierte eine scharfe Replik unter der Überschrift „Respekt vor den Tatsachen“, die in derselben Zeitung erschien. Es folgten zwei weitere Artikel von beiden Seiten, wobei der rhetorisch gewandtere Kritiker gestärkt aus der Fehde hervorging. Hofer zog entsprechende Kon-sequenzen und gab seinen Direktorenposten auf. Kurz nach dem Rücktritt starb er an den Folgen eines dritten Schlaganfalls.271

Die Studierenden der HfBK registrierten den schon seit Jahren schwelenden Konflikt zwischen den Positionen der Gegenständlichkeit und Gegenstandslosigkeit erst mit der Veröffentlichung von Hofers Beitrag im Monat, hatten seine Brisanz jedoch auch nach Hofers Tod noch nicht in ihrem ganzen Ausmaß erfasst.272 Proteste löste die Wahl des neuen Hochschuldirektors, des Ar-chitekten Karl Otto aus, der zuvor Direktor der Kunstgewerbeschule in Hannover gewesen war.

Grass beteiligte sich an der Organisation eines Studentenstreiks. An die Motive erinnerte er sich 1989 wie folgt:

Wie nach einem Mann wie Hofer, der in jedem Fall Maßstäbe setzte, solch eine Null kommen konn-te, so empfanden wir es. […] Da mag sicher auch mit eine Rolle gespielt haben, jedenfalls was mich betraf, daß dieser Otto von den Formgebern her kam und wir Angst hatten, daß mit einem Mann dieser Art wir deformiert werden in so eine Zulieferungswerkstatt für die formgebende Industrie. […]

es war ein großes Durcheinander, eine große Wut gegen diese Entscheidung […], ich weiß nur, daß wir alle aufgewühlt waren und diesen Otto verhindern wollten.273

Stärker mit den Inhalten der Debatte konfrontiert wurde Grass, als seine für die Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes im Jahr 1956 eingereichten Zeichnungen mit der Begründung abge-lehnt wurden, sie seien zu gegenständlich.274 Obwohl Hartung seinem Meisterschüler selbst die Bewerbung nahegelegt hatte und nach dem Tod Hofers zum Vorsitzenden des Künstlerbundes ernannt worden war, konnte er sich in der Jury nicht erfolgreich für dessen Arbeiten einsetzen.

Die in Düsseldorf präsentierte Schau, in der auch Werke von Hartung und Schrieber gezeigt wur-den, berücksichtigte zwar figurative Arbeiten, jedoch vor allem solche von arrivierten älteren Künstlern. Unter den jüngeren bildeten Vertreter des Tachismus einen bewusst gesetzten Ausstel-lungsschwerpunkt, der, wie das Presseecho bescheinigte, die jüngsten Tendenzen der zeitgenössi-schen Kunst spiegelte.275

271 Der Ausgang des Berliner Kunststreits wirkte sich positiv auf die Popularität gegenstandsloser Ausdrucks-formen bei den Kunstschaffenden aus. Einen Überblick über den Verlauf der Debatte bieten in ausführliche-rer Form zahlreichen Dokumentationen. Ich stütze meinen kurzen Abriss auf Kat. Ausst. Leipzig (2004), S. 128–171 und Kat. Ausst. Berlin (1987), S. 161–201.

272 In einem Gespräch mit Christine Fischer-Defoy am 22.11.1989 sagte Grass, er sei als Student nicht auf die Idee gekommen, dass Hofer über dem Konflikt gestorben sein könnte: „er war ein alter Mann, und es ist mir eigentlich auch erst später bewußt geworden, daß das so einen Zusammenhang hatte.“ Vgl. Fischer-Defoy (1992), S. I-6.

273 Ebd., S. I-5 f.

274 Vgl. Grass (2014), S. 63.

275 Vgl. Maiser (2007), S. 236–240 und Kat. Ausst. Düsseldorf (1956).

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Für Grass führte die Entscheidung zum Rückzug aus dem Kunstbetrieb. Er wendete sich zu-nächst verstärkt Gedichten und Theaterspielen zu und fertigte begleitend zu diesen Arbeiten Zeichnungen an.276 Die zweitaufwendigere Bildhauerei geriet von da an für Jahrzehnte ins Hinter-treffen. Im August 1956 verließ er Berlin zusammen mit seiner ersten Ehefrau Anna Grass Rich-tung Paris, wo die Tänzerin sich dem klassischen Ballett widmen und er an seinem ersten Roman arbeiten wollte (X 632).277 Erst in der französischen Hauptstadt, aus der zeitlichen und geografi-schen Distanz heraus, schrieb er über den Berliner Kunststreit und zwar bezeichnenderweise im Rahmen eines poetologischen Essays.

„Der Inhalt als Widerstand“ (XI 16–22) lautet der Titel des Textes, der sich im Zusammenhang mit der Debatte als Auflehnung gegen die zeitgenössischen Tendenzen der Gegenstandslosigkeit lesen lässt. Veröffentlicht wurde der Aufsatz im Mai 1957 in den Akzenten des Freundes und För-derers Walter Höllerer und gliedert sich in drei Teile: Während die erste essayistische Passage vor dem Hintergrund des Diskurses um Gegenständlichkeit und Gegenstandslosigkeit in der bildenden Kunst das Verhältnis von Form und Inhalt in allen Künsten behandelt, wendet sich der zweite, in dramatischer Form verfasste Teil mit dem Untertitel „Ein misstrauischer Dialog“ gegen die von Grass selbst bis 1953/1954 vertretene, auf Naturbeschreibungen, unterbewusst gesteuerte Me-chanismen und kühne Genitivmetaphern setzende Poesie.278 Der dritte Teil der Abhandlung, „Der Phantasie gegenüber“, beschäftigt sich essayistisch mit dem Gegensatz von Fantasie und Realis-mus, in dessen Spannungsfeld sich die neuen Texte des Verfassers bewegten.

Der für den Zusammenhang des Kunststreites mit der Poetologie von Günter Grass interessan-te ersinteressan-te Textinteressan-teil reibt sich zu Beginn an einem Satz aus Wassily Kandinskys 1937 publizierinteressan-ter Schrift Zugang zur Kunst:

Kandinsky sagte: „Die richtig herausgeholte Form drückt ihren Dank dadurch aus, daß sie selbst ganz allein für den Inhalt sorgt.“ (XI 16)

Form und Inhalt wurden von Grass in dieser Aussage als identisch begriffen. Dieses Äqui-valenzverhältnis wird im Text durch eine Umstellung des Satzes in Frage gestellt:

Schütteln wir ihn, den Satz; seinem Sinn nach müßte er es vertragen: „Ein richtig herausgeholter Inhalt drückt seinen Dank dadurch aus, daß er selbst ganz allein für die Form sorgt.“ Da nun auch diese Umkehrung nicht so recht stimmen will, da sich über Form und Inhalt, Inhalt und Form nicht in einem Satz sprechen läßt, […] soll hier versucht werden, zwischen mehreren Satzzeichen Mißtrauen auszubreiten, ja Mißtrauen zwischen Form und Inhalt zu säen. (XI 16)

Darauf folgt die Gegenposition des Verfassers: Im ersten Schritt wird der Inhalt als Herausforde-rung für den sich schriftlich oder bildkünstlerisch ausdrückenden Künstler beschrieben. Das über-bordende gestalterische Talent des Schriftstellers, Malers oder Bildhauers wird durch diesen

„Widerstand“ diszipliniert. Der kreative Schaffensprozess stellt sich dabei als handwerkliche An-strengung dar, die darauf abzielt, einem bestimmten Inhalt eine bestimmte Form zu verleihen. Zur

276 Vgl. Abdruck bei Grass (2014), S. 66–73, die Zeichnungen befinden sich im Besitz des Günter Grass-Hauses. Ursprünglich hatte Grass eine Veröffentlichung der Federzeichnungen im Rahmen einer Veröffent-lichung seiner ersten drei Theaterspiele geplant.

277 Vgl. ebd., S. 63.

278 Vgl. Hartung (1984), S. 156.

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Veranschaulichung dient das Beispiel des figurativ arbeitenden Bildhauers Aristide Maillol, der mehrere Künstlergenerationen und, wie oben bereits erörtert, auch Karl Hartung und Ludwig Gabriel Schrieber prägte:

Und eine Tugend mehr nennen heißt, jener zu gedenken, die sich da abplagten und gegen den Inhalt schrieben, malten oder sich, wie Maillol, Jahr für Jahr dasselbe rundliche Mädchen ansahen, um der formenden Hand zu helfen, um eine Kniescheibe deutlich zu machen und einen Halswirbel so einzu-betten, daß nur die wahren Halswirbelfetischisten ihn entdecken.– (XI 16)

Im zweiten Schritt werden Form und Inhalt als die beiden unverzichtbaren Bestandteile eines literarischen oder visuellen Kunstwerks beschrieben, die sich zeitlich und proportional in einem angemessenen Verhältnis zueinander befinden müssten, damit ein ästhetisches Produkt zustan-de kommen kann. Der Moment zustan-der Inspiration wird dabei allegorisch als Attentat dargestellt:

Form oder Formgefühl hat man, trägt es wie eine Bombe im Köfferchen, und es bedarf nur eines Zünders – nennen wir ihn Story, Fabel, roter Faden, Sujet oder auch Inhalt –, um die Vorbereitungen für ein lange geplantes Attentat abzuschließen und ein Feuerwerk zu zeigen, das sich in rechter Höhe, bei günstiger Witterung entfaltet; mit dem dazugehörigen Knall, einige Sekunden nachdem das Auge etwas zu sehen bekam. Denn – und alle Attentäter, auch jene literarischer Herkunft, mögen mir hier zustimmen – bleibt der Zünder oder der Inhalt zu lange im Köfferchen, wird voreilig, vorzeitig entschärft, ist das Verhältnis zwischen Bombe und Zündung unverhältnismäßig, kurz, wird mit Kanonen auf Spatzen oder mit Spritzpistolen auf Pottwale geschossen, lacht das noch zu benen-nende Surrogat der vormals so leicht zu belustigenden Götter. (XI 16 f. Hervorhebung V. K.)

Der Inhalt aktiviert also demnach erst das Formgefühl und dieser „Anschlag“ kann erst gelingen, wenn „das Auge etwas zu sehen“ bekommt, der bildende Künstler oder Dichter also visuell ange-regt wird.

In einem dritten Schritt werden Konstellationen beschrieben, in welchen das Verhältnis von Form und Inhalt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Zunächst werden kurz die „Formverächter“

genannt, die dem Inhalt eine zu große Bedeutung beimessen. Der Inhalt wird im Folgenden als ein besonders schwer zu entdeckendes Objekt umschrieben – schwer zu entdecken, weil es auf den ersten Blick allzu alltäglich scheint:

Ein echter Inhalt, das heißt ein widerspenstiger, schneckenhaft empfindlicher, detaillierter, ist schwer aufzuspüren, zu binden, obgleich er oftmals auf der Straße liegt und zwanglos tut. Inhalte nutzen sich ab, verkleiden sich, stellen sich dumm, nennen sich selbst banal und hoffen dadurch, der peinlichen Behandlung durch Künstlers Hand zu entgehen. (XI 17)

Die „inhaltsfeindlichen“ Künstler, denen sich ein gutes Drittel des Textes widmet, hätten ihre Ein-stellung aus Frustration heraus erworben: Sie seien entweder nicht in der Lage gewesen, einen Inhalt ausfindig zu machen oder nicht fähig, ihn angemessen zu behandeln. Auf diese stereotype konservative Polemik – im Grunde formulierte Grass hier eine weitere Radikalisierung der in der Constanze verzerrt abgedruckten Meinung Hofers – folgt eine als direktes Zitat markierte Persifla-ge der Ansprüche und Positionen jener Künstler, die unschwer als die „GePersifla-genstandslosen“ zu er-kennen sind:279

279 Vgl. Hermand (1986), S. 413–416, S. 476–483.

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Wenn Künstlers Hand eine Zeitlang gesucht hat, doch leer blieb oder Gefundenem nicht geschickt genug war, schimpft Künstlers Mund über Inhalte, und Künstlers Kopf erinnert sich ureigenster, for-maler Fähigkeiten und Qualitäten. „Es kommt nicht auf das Was an nur auf das Wie. Der Inhalt stört nur, ist Konzession, fürs Publikum, die Kunst will die Form an sich, die Kunst ist zeitlos, muß Raum und Zeit überwinden, hat schon überwunden, nur die im Osten, die machen noch auf sozialen Rea-lismus […].“ – Was kann man nicht alles machen, wenn man Phantasie hat. Neue Perspektiven, Kons-tellationen, Strukturen, Aspekte, Akzente; und alles noch nie dagewesen. (XI 17)

Mit dieser Kritik schließt sich der Kreis zum Eingangsverweis auf Kandinsky, in dessen Tradition sich die „inhaltsfeindlichen“ Künstler sahen.280 Zugleich wird die Erörterung zum Verhältnis von Form und Inhalt mit den eindeutigen Verweisen auf die Nonfigurativen innerhalb eines bestimm-ten Diskurses positioniert. Das Plädoyer für eine Kunst und Literatur, die die Form und die dem Leben entnommenen Inhalte gleichermaßen als eigenständige Aspekte des Kunstwerks wichtig nimmt, erweist sich damit als Reaktion auf den in Berlin ausgetragenen Konflikt.281

Die Koppelung einer poetologischen mit einer kunsttheoretischen Auseinandersetzung hat gemeinsam mit der Verwendung von Allegorie und Personifikation noch einen anderen Effekt:

Grass’ Poetologie wird anschaulich und die Selbstauskunft des Dichters darüber hinaus zum Exempel für ihre stilistische Umsetzung. Der abstrakte Begriff des Inhalts nimmt als rundliches Mädchen, als Halswirbel, als Bombenzünder und als Straßenmüll Gestalt an. Zwar wird er noch nicht explizit als Gegenstand benannt, aber als solcher beschrieben und behandelt. Wenn der Inhalt als Widerstand bezeichnet wird, kündigt sich darin, in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes („Widerstand“ als etwas, das etwas Anderem entgegensteht), bereits der Gegenstand an.

In einem kurzen Text aus dem Jahr 1958, erschienen im Sammelband Lyrik unserer Zeit.

Gedichte und Texte, führte Grass diese noch ausstehende begriffliche Substitution zu Ende. In dem kurzen Beitrag „Über das Schreiben von Gedichten“ (XI 23) wird der Inhalt nicht nur durch verschiedene Objekte repräsentiert, sondern explizit und ausschließlich als Gegenstand bezeich-net. Zudem fügte Grass der poetologischen Bedeutungsebene dieser Veröffentlichung auch eine produktionsästhetische hinzu: Ausführungen über das Beschreiben, Zeichnen oder Modellieren eines Inhalts werden nicht mehr vergleichend nebeneinandergesetzt, sondern als einander bedin-gende Arbeitsabläufe in der Werkstatt des mehrfachbegabten Künstlers und Dichters angeführt.

Sie werden nun auch genauer spezifiziert, denn der Dichter gibt Objekte nach eigener Aussage nicht mimetisch wieder, sondern unterzieht sie einer Analyse, nimmt sie auseinander, um sie in einer neuen, spannungsreichen Konstellation wieder zusammenzufügen. Die Zielsetzung dieses Programms, im Zusammenhang mit welchem zum ersten Mal auch der Terminus „Realismus“

fällt, ist eine ideologiefreie Darstellung des Wahrgenommenen:

In meinen Gedichten versuche ich, durch überscharfen Realismus faßbare Gegenstände von aller Ideologie zu befreien, sie auseinanderzunehmen, wieder zusammenzusetzen und in Situationen zu bringen, in denen es schwerfällt, das Gesicht zu bewahren, in denen das Feierliche lachen muß, weil die Leichenträger zu ernste Miene machen, als daß man glauben könnte, sie nehmen Anteil.

280 Vgl. ebd., S. 402.

281Vgl. Mertens (2005), S. 87. Zu dieser Erkenntnis kam bereits Mertens, schloss daraus jedoch, bei „Der Inhalt als Widerstand“ handele es sich „nicht um die poetische Selbstreflexion eines beginnenden Schrift-stellers, als die der Aufsatz oft verstanden wurde“, sondern um ein politisches Statement. Dem ist zu wider-sprechen, da der ästhetische Diskurs und die poetologischen Ausführungen aller drei zur Veröffentlichung gehörenden Texte sie, wie oben beschrieben, maßgeblich kennzeichnen.

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Oft kommt mir mein anderer Beruf entgegen und erlaubt, den zu fixierenden Gegenstand von allen Seiten zu zeichnen. Erst dann erfolgt die Niederschrift des Gedichts. Die Aufgabe des Versemachens scheint mir darin zu bestehen, klarzustellen und nicht zu verdunkeln; doch muß man manchmal das Licht ausknipsen, um eine Glühbirne deutlich machen zu können. (XI 23)

Eine ethische Dimension gegenständlichen Arbeitens, wie sie 1950 bereits von Grass’ Lehrer Otto Pankok und vehementer von Hans Sedlmayr unter religiösen Vorzeichen dargelegt worden war, entfaltete Grass selbst in diesen essayistischen Texten noch nicht. Seine literarischen Werke brin-gen jedoch diese Ebene seiner Ästhetik ab 1959 zum Ausdruck. Konzentriert formulierte Grass diesen Zusammenhang in dem Gedicht „Diana oder die Gegenstände“, das er in seinem zweiten Gedichtband Gleisdreieck (1960) zusammen mit einer Fettkreidezeichnung publizierte (Abb. 59).282

Über eine Doppelseite erstreckt sich die Darstellung einer monumentalen, in ihren Proportionen gestauchten Frauenfigur. Ihren Körper richtet sie in Schrittstellung nach rechts, ihrem ausge-streckten linken Arm folgend. In ihrer übergroßen linken Hand hält sie eine Armbrust. Ihren Kopf wendet die Göttin zurück zu dem über ihrer Schulter hängenden Köcher, nach dem sie mit ihrer Rechten greift. Obgleich die Darstellung sich eindeutig an der berühmten Diana von Versailles orientiert (Abb. 60), entspricht die gezeichnete Frauenfigur nicht dem antiken griechischen Ideal.

Nicht die Schönheit und Eleganz eines athletischen Frauenkörpers wird betont, sondern die Ent-schlossenheit und die Massivität, die sich in Dianas markanter Geste realisiert und die durch die abstrahierende Gestaltung der Glieder und die energische Umrisszeichnung hervorgehoben wird.

Hinsichtlich des Stils erinnert die Darstellung an Frauengestalten der neoklassischen Phase im Werk Picassos wie seine Deux femmes courant sur la plage / Zwei laufende Frauen am Strand aus dem Jahr 1922 (Abb. 61).283

282 Vgl. Stolz (1994), S. 56.

283 Zu dem in seinem Widerspruchsreichtum vergleichbaren Klassizismus Picassos vgl. Cowling (1988):

Picassos Hinwendung zu antiken Formen ab 1914 wurde stets durch Übertreibungen und Verzerrungen konterkariert. Cowling deutet seinen „Kolossalstil“ schlüssig als Ausdruck von antikischer Melancholie ange-sichts der Kriegstragödie und als Teil seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Konzept des Dionysischen.

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Abb. 61, Pablo Picasso, Zwei laufende Frauen am Strand, 1922, Öl auf Leinwand

Abb. 59, Gleisdreieck, Darmstadt 1960, S. 72 f.

Abb. 60, Nach Leochares, Artemis, Göttin der Jagd, genannt „Diana von

Versailles“, erste Hälfte des zweiten Jh. n. Chr. (Kopie, Original: 340–320 v.

Chr.), Marmor

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Grass’ Gedicht nimmt in der ersten und vierten Strophe in Form einer Ekphrasis unmittelbar auf die griechische Darstellung Dianas und damit auch auf seine eigene Zeichnung Bezug und begrün-det mit ebendieser ästhetischen Materialisierung der Jagdgöttin, weshalb gerade sie, im Gegen-satz zu anderen Ideen, für ihn „gegenständlich“ sein kann:

DIANA ODER DIE GEGENSTÄNDE Wenn sie mit rechter Hand

über die rechte Schulter in ihren Köcher greift, stellt sie das linke Bein vor.

Das Gedicht vollzieht nach, wie das lyrische Ich der in der Plastik anschaulich gewordenen Göttin zur Beute wird. Dianas Eigenschaften werden abwechselnd zu Standpunkten des lyrischen Ichs thematisiert, sodass Ähnlichkeiten zwischen beiden deutlich werden: Genauso wie das lyrische Ich zeigt sich auch die Göttin ausschließlich von „Gegenständen der Natur“ beeindruckt; ihnen wird

Das Gedicht vollzieht nach, wie das lyrische Ich der in der Plastik anschaulich gewordenen Göttin zur Beute wird. Dianas Eigenschaften werden abwechselnd zu Standpunkten des lyrischen Ichs thematisiert, sodass Ähnlichkeiten zwischen beiden deutlich werden: Genauso wie das lyrische Ich zeigt sich auch die Göttin ausschließlich von „Gegenständen der Natur“ beeindruckt; ihnen wird

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 96-108)