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Nonnen: Verkörperte Ideologiekritik

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 136-160)

III. MOTIVWANDERUNGEN IM UMKREIS DER ‚DANZIGER TRILOGIE‘

2. Nonnen: Verkörperte Ideologiekritik

Sind Hühner und Vögel in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre besonders häufig in Grass’ bild-künstlerischem Œuvre vertreten, so gilt dasselbe für Nonnen zwischen 1955 und 1963.333 Sein Umgang mit diesem Motiv bietet das vielleicht schlüssigste Beispiel dafür, wie der Schriftsteller und Grafiker die äußere Erscheinung einer Figur zur komprimierten Darstellung ideologiekritischer Zusammenhänge nutzte. In Texten und Grafiken realisierte er sie als Zeichen zur Repräsentation von Widersprüchen der katholischen Sittenlehre, der ästhetischen Askese und der katholischen Kirche als einer der Ideologie des „Dritten Reichs“ in die Hände spielenden Organisation.334

Nicht alle Nonnen-Manifestationen in Zeichnungen, Manuskripten und Publikationen sind da-tiert und viele von ihnen dürften dem Veröffentlichungsdatum der literarischen Werke zufolge parallel oder in kurzen Abständen nacheinander entstanden sein. Zum ersten Mal griff der Schrift-steller das Motiv im Rahmen des Theaterspiels Hochwasser (UA 1957) auf. Die erste handschriftli-che Fassung der entsprehandschriftli-chenden Passage entstand am 7. August 1955.335 Ab dem 9. September 1956 integrierte Grass das Nonnenmotiv in seinen poetologischen Essay „Die Ballerina“ (1956).336 Geistliche und Tänzerin werden darin gleichermaßen als Sinnbild einer auf alle künstlerischen Ausdrucksformen bezogenen Ästhetik der Askese gestaltet. Weitere Anmerkungen zu diesem Begriff hielt Grass in seinem Arbeitstagebuch am 28. Oktober 1956 fest.337 Sein programmatisches Gedicht „Askese“ ist demnach wahrscheinlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstanden, wurde jedoch erst 1960 im Gedichtband Gleisdreieck veröffentlicht.338 Passend zur Maxime der ästheti-schen Enthaltsamkeit fertigte Grass 1957 kontrastarme Bleistiftzeichnungen von Vinzentinerinnen an.

Zwischen 1956 und 1958 schrieb er darüber hinaus den Einakter Noch zehn Minuten bis Buffalo (UA 1958), in dem sich bereits die auf zwei Kapitel verteilte Nonnenpassage der Blech-trommel (1959) mit den darin virulenten ästhetischen Diskursen ankündigt.339 Ein Jahr nach dem Debütroman publizierte Grass im Gedichtband Gleisdreieck den Zyklus „Zauberei mit den Bräuten Christi“, der viele der hier angesprochenen Aspekte in verdichteter Form enthält. Diese Texte wurden zusammen mit drei Fettkreidezeichnungen des Autors veröffentlicht.340

Im Gegensatz zum Komplex der Vögel fällt die intensivste bildkünstlerische Behandlung der Nonnen nicht in die Anfangs-, sondern in die Schlussphase der Auseinandersetzung mit diesem

333 Vgl. das Motivverzeichnis dieser Arbeit sowie die Zusammenstellung der bis 1986 publizierten Nonnen-Grafiken bei Hille-Sandvoss (1987), S. 114–124.

334 Das Kapitel folgt weitgehend dem Aufbau und den Thesen meines 2013 publizierten Aufsatzes zum Non-nenmotiv im Werk von Günter Grass. Während der 2013 veröffentlichte Text die literarischen Quellen aus-führlicher behandelt, widmet der vorliegende den bildkünstlerischen Arbeiten mehr Aufmerksamkeit.

Vgl. Krason (2013b).

335 Akademie der Künste, Berlin, Günter-Grass-Archiv, Nr. 1755, S. 92.

336 Ebd., S. 202–225. Erstabdruck: Akzente, 1956, S. 532–539, dann als Einzeldruck bei der Friedenauer Presse: Grass (1963) sowie in den Werkausgaben (XI 8–15).

337 Akademie der Künste, Berlin, Günter-Grass-Archiv, Nr. 1755, S. 234. Die Passage ist nur teilweise entzif-ferbar.

338 Grass (1960), S. 56.

339 Vgl. Stolz (2010), S. 86; Variante zum Theaterspiel abgedruckt in: ebd., S. 211–227. Vgl. zum Verhältnis der alternativen Dramenfassung und der Blechtrommel: Neuhaus (2010), S. 14.

340 Vgl. Grass (1960).

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Motiv: Zwischen 1960 und 1963, parallel zur Manuskriptarbeit an der Novelle Katz und Maus (1961) und an den Hundejahren (1963), entstand eine Serie großformatiger Tuschezeichnungen zu den Geistlichen. Ausstellungen dieser Arbeiten fanden 1961 und 1962 in Berlin statt, in der Kreuz-berger Galerie „zinke“ und in der Akademie der Künste.341

Die Beschäftigung des Schriftstellers und bildenden Künstlers mit den „Bräuten Christi“ steht mit den kirchenkritischen Tendenzen um 1960 in engem Zusammenhang. Die katholische Kirche war in Westdeutschland auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehr präsent, musste jedoch allmählich ihre opportunistische Haltung im „Dritten Reich“ und ihre konservativen Sitt-lichkeits- und Moralvorstellungen rechtfertigen. Unter den Schriftstellern waren es besonders Heinrich Böll und Carl Amery, die die Institution angriffen. Mit ihren Auffassungen konnte sich Grass noch vor der Veröffentlichung von Bölls kirchenkritischem Roman Billard um halbzehn (1959) und Amerys Streitschrift Die Kapitulation oder der Katholizismus heute (1963) im Rahmen der Treffen der Gruppe 47 vertraut machen. Er selbst beschäftigte sich nicht nur als katholisch getaufter und erzogener Zeitgenosse mit dem Thema.342 Seine Auseinandersetzung hatte, wie seit der Publikation von Beim Häuten der Zwiebel (2006) bekannt ist, besondere Ereignisse im engsten Familienkreis zum Anlass:

Kniende, fliegende, hüpfende und Richtung Horizont gegen den Wind kreuzende, als Äbtissinnen dominierende und zu eucharistischen Kongressen versammelte, einzelne und paarweis bis auf die Flügelhaube entkleidete Nonnen verdanke ich dem Unglück meiner Schwester, die glaubensfromm der organisierten Heuchelei auf den Leim ging und als Novizin Raffaela den Gelübden entgegenbang-te […]. (X 579)

Waltraut Grass war 1953 in ein Aachener Kloster eingetreten, jedoch schnell enttäuscht von dem geringen Stellenwert, den die soziale Arbeit im Orden hatte und von den dort herrschenden rigi-den Verhaltensregeln. Da die zuständige Novizenmeisterin starken Druck auf die Dreiundzwanzig-jährige ausübte, konnte sie sich erst mit der Unterstützung ihres Bruders zum Austritt durchrin-gen. Dieser biografische Hintergrund wird nicht nur in Form allgemeiner Religionskritik in Grass’

Werke Eingang finden, sondern auch in Form eines unmittelbaren Hinweises: Der in Hochwasser erwähnten Oberin gab er denselben Namen wie der realen Aachener Geistlichen.

Ein anderer Grund für Grass’ aufkeimendes Interesse an den „Bräuten Christi“, war sein Gefal-len an der Tracht einer bestimmten Ordensgemeinschaft, so die Erinnerungen des Schriftstellers in Beim Häuten der Zwiebel: Die voluminösen und von bretonischen Hauben abgeleiteten traditi-onellen Kopfbedeckungen der Vinzentinerinnen fielen ihm 1954 in einem Kölner Krankenhaus sowie ab 1956 in Paris auf. Sie regten Grass besonders als Grafiker zu Assoziationen an.343 In den Kreide- und Tuschezeichnungen setzte er sich dann ab 1960 vor allem mit den Schwarz-Weiß-Kontrasten von Ordensgewändern und mit ihrer Volumenbildung auseinander.

Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wurde auch bei der Darstellung dieses Motivs der Ver-gleich zwischen der sichtbaren Gestalt der Nonne in ihrem Habit und anderen mit ihr

341 Vgl. Kat. Ausst. Berlin (1979), insbes. S. 20–24 und o. A.: Eintrag in der Rubrik „Personalien“. In: Der Spiegel 10 (7. März 1962), S. 96.

342 Vgl. Neuhaus (1988).

343 Vgl. ebd., S. 442.

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ren Gegenständen wichtig. Der Dichter und Grafiker nahm ihre Erscheinung zum Ausgangspunkt, um das Motiv mit verschiedenen Bedeutungen aufzuladen. Während er sich zunächst zeitgleich in verschiedenen Medien den Themen der sittlichen Enthaltsamkeit und der ästhetischen Askese widmete, wurden diese ab 1958 zusammengeführt und mit einer Kritik am Verhalten der Kirche während des Zweiten Weltkrieges verbunden. Die Kombination von Zeichnungen und Texten ma-chen diese Zusammenhänge ebenso deutlich wie die eingebetteten Ekphrasen bildkünstlerischer Nonnendarstellungen in der Prosa.

Religion und Ästhetik: die Nonne als Sinnbild der Askese

Zwei frühe Texte deuten bereits darauf hin, in welche Richtung sich Grass’ langjährige Beschäfti-gung mit der „Braut Christi“ bewegen sollte. In den die Nonne betreffenden Passagen beider Werke wird der Begriff der Askese unter Berücksichtigung von jeweils anderen Aspekten fokus-siert. Während der Schriftsteller ihn im Dreiakter Hochwasser (UA 1957) in seiner religiös-sittlichen Komponente thematisierte, erhob er Enthaltsamkeit im Essay „Die Ballerina“ zu einer ästhetischen Maxime. Literarisch und bildkünstlerisch schritt Grass damit die gesamte Spannweite der Begriffsbedeutung aus: von dem aus dem Griechischen abgeleiteten „technischen oder künst-lerischen Verfertigen“ über die bei Xenophon und Epiktet thematisierte leibliche Ertüchtigung bis hin zu Entsagung und Verzicht im Dienste der Tugend und des Glaubens.344

Das im Januar 1957 an der neuen bühne der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main uraufgeführte Theaterspiel fingiert Gespräche der Bewohnerinnen und Bewohnern eines mehrstöckigen Hauses, das durch erhöhten Wasserstand kurzzeitig von dem Rest der Welt ab-geschnitten ist. Die Art des titelgebenden Naturphänomens und der Name des Hausvaters,

344 Vgl. Hauser (1971).

Abb. 91, Die Ballerina, Berlin 1963, 2. Auflage, 1965, Umschlag, Titelbild

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Archibald Noah, machen hinter dem Wohnhaus die Arche und hinter dem Hochwasser die Sintflut erkennbar. Zu den in diesem allegorischen Sinne Erretteten zählt das Rattenpaar Perle und Strich, das sich die Zeit auf dem Dach mit dem Erzählen von Geschichten vertreibt. Eine davon handelt von der Nonne Alfons Maria.345 Wie Strich berichtet, zieht sich die Geistliche regelmäßig in den Klosterkeller zurück, um dort ungestört ihre nackten Beine betrachten zu können. Die erfolglose Unterdrückung der eigenen Körperlichkeit wird mit dieser Geschichte hervorgehoben und ins Lächerliche gewendet:

STRICH: […] Die kam nämlich manchmal runter, schloß ab von innen, immer hübsch vorsichtig, dann hob sie sich die Kutte hoch, schnapp, schnapp, ließ die Wollsocken runter und guckte sich ihre Beine an. Ich sag dir, wenigstens zehn Minuten saß die immer so und guckte.

PERLE: Wird halb so schlimm gewesen sein.

STRICH: Schlimm? Weiß waren die, weiß wie ʼne Made. Von unten bis dahin wo‘s aufhört, und lauter Sommersprossen drauf. […] Später sind dann die Pfaffen runtergekommen mit so ein paar blassen Chorknaben und haben geweihräuchert und geweihwassert. War ʼne verdammte Schande.

PERLE: Warum denn?

STRICH: Du kannst fragen. Von wegen mir natürlich. Haben gedacht, ich wäre so eine Art Geist, der den Nönnchen unter die Kutten saust. […]

PERLE: Und die mit den Sommersprossen?

STRICH: Die hatten sie doch schon vorher versetzt, was weiß ich, wohin. Muß wohl dolle Dinger ge-dreht haben. Man hört ja oft die dunkelsten Geschichten über Klöster. (II 36 f.)

Positiv wird die angestrebte Enthaltsamkeit der Nonne dagegen in Grass’ frühem poetologischen wie kunsttheoretischen Essay „Die Ballerina“ angeführt, den der Autor in Walter Höllerers Auftrag für die Novemberausgabe der Akzente von 1956 schrieb. Der Text setzt sich in fünf Abschnitten mit dem Verhältnis von Natur und Kunst auseinander. Stellvertretend für alle Künste wird darin der Ausdruckstanz dem klassischen Ballett gegenübergestellt. Kunst müsse sich, so die Schlussfol-gerung der Argumentation, nach Grundsätzen und Regeln vollziehen, um die wahrnehmbare Rea-lität angemessen zu repräsentieren und diese nicht etwa „möglichst natürlich“ imitieren. Die Dis-ziplin der Balletttänzerin wird mit der Askese der Nonne verglichen:

Die Ballerina lebt, einer Nonne gleich, allen Verführungen ausgesetzt, im Zustand strengster Askese.

Dieser Vergleich darf deshalb nicht überraschen, da alle auf uns gekommene Kunst stets Ergebnis konsequenter Beschränkung und nie genialischer Maßlosigkeit war. Auch wenn zeitweise Ausbrüche ins Unerlaubte zu denken gaben und geben, der Kunst sei alles erlaubt, erfand sich immer, und gera-de gera-der beweglichste Geist, Regeln, Zäune, verbotene Zimmer. (XI 11)

Die Bedeutung der Passage wurde von Grass noch fünf Jahre später in einer separaten Ausgabe des Essays hervorgehoben, indem er den Textauszug auf die Innenseite des Umschlages platzieren ließ und den literarischen Vergleich in einer Tuschezeichnung umsetzte, die als Titelbild Verwen-dung fand (Abb. 91). Die Gegenüberstellung von grafischem und literarischem Bild erfolgt damit in vergleichbarer Weise wie zuvor in den Vorzügen der Windhühner, wo das gleichnamige Gedicht auf die vordere Innenklappe des Umschlags gesetzt worden war. Die Zeichnung zur separaten Ballerina-Publikation zeigt eine Nonne in einer Ballettpose, der Arabeske, und irritiert durch die

345 Vgl. bezüglich der Namensgebung zu Ehren des heiligen Alfonso Maria de Liguori: Stolz (2010), S. 76.

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Widersprüchlichkeit zwischen klassischem körperbetontem Tanz und der ihn ausführenden, von ihrem wallenden Gewand verhüllten Schwester.

Ist die Askese der Geistlichen vor allem durch ihre sexuelle Enthaltsamkeit gekennzeichnet und die der Tänzerin durch ihre körperliche Disziplin, wird die Selbstbeschränkung des Schriftstellers im „Ballerina“-Essay konkret als ein Verzicht auf abgegriffene Beschreibungen und als eine Kon-zentration auf das sinnlich Wahrnehmbare charakterisiert. Der Dichter sollte sich zu seinem Ge-genstand verhalten wie ein Briefmarkensammler zu seinem „begehrten Viereck“, das er

[…] prüfend ins Licht hält, um Zahnung und Wasserzeichen deutlich zu haben. Krone und Lächeln der bunten Königin, so wohlgelungen die Miniatur sein mag, beeinflussen niemals sein wertendes Auge.

(XI 8)

Wenn die handwerkliche Vervollkommnung des Kunstwerks ferner mit der moralischen Vervoll-kommnung des Geistes verglichen wird (XI 12), erhebt Grass die Kunst zu einer antimetaphysi-schen Ersatzreligion. Weiterverfolgt wird damit eine Linie, die bereits in einigen Gedichten des ersten Gedichtbandes ihren Ausgangspunkt hatte, maßgeblich in dem Gedicht „Credo“ (I 41).346

Die poetische Selbstdisziplinierung nimmt in dem Gedicht „Askese“ – wie Grass selbst rückbli-ckend bemerkt, mit einiger Verzögerung – auf Adornos Diktum von 1951 Bezug. Anstelle der häu-fig als Verbot interpretierten Aussage, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, bietet Grass’ Gedicht Gebote, die das „Schreiben nach Auschwitz“ (so der Titel der 1990 von Grass gehaltenen Frankfurter Poetik-Vorlesung, XII 239-261) auszeichnen sollten. Der mutmaßlich 1957 entstandene und 1960 veröffentlichte Text fordert einen skeptischen Umgang mit Religion und Nationalismus. Dazu nutzt er eine Metaphorik, die sowohl dem Bereich der bildenden Kunst als auch dem des handschriftlichen Schreibens entlehnt ist:347

347 Vgl. Günter Grass deutete den Text aus dem Abstand von über dreißig Jahren heraus wie folgt: „Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.

Und obendrein verlangte dieses Gebot Reichtum neuer Art: Mit den Mitteln beschädigter Sprache sollte die erbärmliche Schönheit aller erkennbaren Graustufungen gefeiert werden. Das hieß, jene Fahne zu streichen und Asche auf Geranien zu streuen. Das hieß, mit spitzem Blei, der von Natur her für Grauwerte steht, quer über jene Wand, ‚wo früher pausenlos das grüne Bild das Grüne wiederkäute‘, als mein Gebot das Wort Askese zu schreiben.“ (XII 246)

139 Und an die Wand, wo früher pausenlos

das grüne Bild das Grüne wiederkäute, sollst du mit deinem spitzen Blei Askese schreiben, schreib: Askese.

So spricht die Katze: Schreib Askese. (I 90)

Mit einem Bleistift soll also die Reinheit der Farbe Weiß und damit die Unschuld in Zweifel gezo-gen werden. Die durch die Farbe Rot gekennzeichneten Motive der Leidenschaft, des vom Mohn geförderten Schlafes und des Schmerzes sowie die nationalen Symbole und die mit Geranien assoziierbare Idylle seien entsprechend zu „streichen“. Mit den „Bräuten“, die in diesem Gedicht mit dem Bleistift bearbeitet werden sollen, können nun sowohl die weltlichen gemeint sein als auch Nonnen, die Grass in anderen Gedichten als „Bräute Christi“ (I 86 f.) bezeichnete und wel-chen er sich 1957 zeichnend gewidmet hat. Wie im Gedicht „Askese“ wird ihre Unschuld auch in den grafischen Darstellungen in Zweifel gezogen. Die in Hochwasser formulierte Satire über die missglückte Verneinung des sommersprossigen Nonnenfleisches bringt Grass auch in diesen Zeichnungen zum Ausdruck.

Bei den erhaltenen Blättern aus diesem Zeitraum handelt es sich um vier Darstellungen einer jungen Nonne mit der traditionellen Haube des St. Vinzenz-Ordens auf dem Kopf. Einige von ihnen sind im Archiv des Günter Grass-Hauses zugänglich, andere befinden sich in Privatbesitz oder wurden in Bildbänden abgedruckt.348 Gemäß der in „Askese“ mit dem Vokabular des zeichnenden und schreibenden Künstlers zum Ausdruck gebrachten Enthaltsamkeit sind die mit Bleistift ge-zeichneten Porträts äußerst kontrastarm. Stets handelt es sich um denselben, durch eine längliche Gesichtsform und volle Lippen gekennzeichneten Typ. Das hier abgedruckte Brustbild zeigt ein Mädchen seitlich mit ihrem Oberkörper zu Betrachterinnen und Betrachtern positioniert, ihnen ihr Gesicht im Dreiviertelprofil zuwendend (Abb. 92). Die leicht gesenkten äußeren Augenwinkel, der nach innen gekehrte Blick, die geschürzten Lippen und der gerundete Rücken lassen die Dar-gestellte betrübt oder zumindest lethargisch wirken. Die im Verhältnis zum schmalen Gesicht und dem schlanken gebeugten Körper sehr große, hohe und weit ausladende Haube scheint wie eine Bürde auf ihr zu lasten.349

348 Vgl. das Verzeichnis der erhaltenen Nonnendarstellungen im Motivverzeichnis.

349 Vgl. Hille-Sandvoss (1987), S. 114 f.

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Abb. 94, Vinzentinerin, 1957, Bleistift Abb. 92, Schwester Agneta, 1957,

Bleistift und Kohle

Abb. 93, Maria Wichłacz-Musielak,

Vinzentinerin Jean Gabriel Batke mit Flügel-haube, 1961, Fotografie

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Es fällt auf, dass die jungen Frauen in Grass’ Nonnen-Porträts ihre Haube, im Gegensatz zur übli-chen Tragweise der Kopfbedeckung (Abb. 93), weit in die Stirn geschoben haben. Auf diese Art ist der Haubenzylinder fast in seiner ganzen Höhe, ohne Verkürzung sichtbar und kann aufgrund dieser besonderen Abweichung als Phallussymbol und damit als Sinnbild der unterdrückten Sexualität interpretiert werden. Freuds Traumdeutung, in welcher der Hut an sich in diesem Sinne verstanden wird, könnte Grass hier als Anregung gedient haben.350 Zu männlichen Gliedern erwei-terte Kopfbedeckungen und verformte Köpfe hatte der Grafiker zudem später in noch eindeutige-rer Form in andere Darstellungen eingebracht, um den Geschlechtstrieb der thematisierten Figu-ren sichtbar zu machen. Mit den Nonnen ist Grass’ Darstellung des Heiligen Antonius vergleichbar, die er 1960 zu dem Gedicht „Anton“ schuf, das im Lyrikband Gleisdreieck veröffentlicht wurde.

Der Oberkopf des Heiligen ähnelt darin dem männlichen Genital, während im Gedicht das Schei-tern der Sublimierung fleischlicher Lust behandelt wird.351

Die Verbindung einer weiblichen Figur mit der Andeutung eines Gliedes kann einerseits als Manifestation der unterdrückten Sehnsucht nach dem Geschlechtsverkehr mit einem Mann ver-standen werden oder andererseits als eine, dem Vorurteil gemäß, durch das Klosterleben beför-derte Neigung zur Bi- oder Homosexualität. Die phallisch konnotierte Darstellung der Flügelhaube wäre demnach als Ausdruck einer angenommenen Vermännlichung der Nonne zu deuten. Für diese Interpretation spricht, dass Grass der Aachener Oberin Alfons Maria in seinem Erinnerungs-buch aufgrund ihres Namens als „bisexueller Instanz“ gedachte (X 580). In Lithografien aus dem Jahr 1981 zu dem Kapitel „Vatertag“ des Butt stellte er die lesbischen Protagonistinnen der Passa-ge mit Pilzhüten auf dem Kopf dar, deren Spitzen die Form männlicher Glieder haben.352 Der Titel der exemplarisch behandelten Zeichnung, Schwester Agneta, macht die erste Deutung einer Ver-körperung unterdrückter Sexualität durch die Haubenform wahrscheinlich. „Agneta“ lautet der Name der Figur einer verführten Novizin in der Blechtrommel, deren Rolle im nächsten Unterkapi-tel näher erörtert werden wird.

Eine Assoziation der Haube mit einem ganz anderen Objekt, mit einem Segelschiff, kann sich für den Grafiker bei der Betrachtung der Kopfbedeckung im Profil ergeben haben (Abb. 94). Der Zylinder der Haube erinnert in der Seitenansicht an einen Schiffsmast mit gesetztem Segel, unter welchem sich der Schiffsrumpf befindet. Eine weibliche Personifikation eines militärischen Schif-fes, die mit der Nonnenfigur in Verbindung steht, hatte der Schriftsteller und Künstler in anderen Arbeiten entworfen, die zwischen 1957 und 1959 entstanden sind. Sie sollen im Folgenden be-handelt werden.

350 Vgl. zum Hut als Phallussymbol: Freud (1914), S. 137; dass die Bildwelt von Günter Grass häufig Verweise auf die Psychoanalyse enthält, erwähnte bereits: Joch (1997), S. 19.

351 Vgl. Grass (1960). Zur Interpretation von „Anton“ vgl. Stolz (1994), S. 76 f., ferner zu Kopfbedeckungen im bildkünstlerischen Grass-Werk: Dreher (1982), S. 123.

352 Ohsoling (2007a), L 16. Vgl. S.353, Abb. 192 dieser Arbeit.

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Ästhetik und Ethik: die Nonne als Gegenstand der Kunst und des (un)moralischen Handelns In einem Manuskript des unveröffentlichten Gedichts „Mit Wind“ (ca. 1957),353 in einer Variante des Einakters Noch zehn Minuten bis Buffalo (1958) und in der Blechtrommel (1959) beschäftigte sich Grass mit Figuren, die zwischen Nonnen und Schiffen changieren. Vor allem die alternative Theaterspielfassung thematisiert die Nonne erstmals zugleich als sexuelles Wesen und als Reprä-sentantin der katholischen Kirche im Sinne einer Organisation, die sich im „Dritten Reich“ mit dem herrschenden Regime arrangiert hat. Die Schlussfassung des Stücks selbst bereitet die Figur der Nonne zudem als Gegenstand der ästhetischen Reflexion vor. In der Blechtrommel werden diese drei Aspekte zusammengeführt. Die gattungs- und medienspezifischen Eigenschaften der Vorgän-gerwerke, ihre dramatische und grafische Form, werden bei dieser Transformation berücksichtigt.

Die frühen Theaterspiele und Zeichnungen tragen damit entscheidend zum dichten Geflecht in-termedialer Beziehungen in Grass’ Debütroman bei.

Die obere Hälfte des Gedichtmanuskripts „Mit Wind“ nimmt der zehnzeilige lyrische Text ein (Abb. 95). Die untere Hälfte füllt das Bildnis einer jungen Frau. Ihr als Dreiviertelporträt

Die obere Hälfte des Gedichtmanuskripts „Mit Wind“ nimmt der zehnzeilige lyrische Text ein (Abb. 95). Die untere Hälfte füllt das Bildnis einer jungen Frau. Ihr als Dreiviertelporträt

Im Dokument Günter Grass und die bildende Kunst (Seite 136-160)