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I. Theoretische Grundlagen

3. Die Arbeit sozialpädagogischer Fachkräfte in Kinder- und Jugendwohngruppen . 42

3.2 Aufgaben und Ziele der Fachkräfte

3.2.2 Pädagogische Beziehungsarbeit

Bindungen, Beziehungen und das Bedürfnis nach sozialer Einbettung stellen ein emotionales Grundbedürfnis menschlichen Lebens dar. Wird der Bedarf an sozialer Einbettung von Kindern erfüllt, so entwickeln sie einen gesunden Selbstwert, Stabilität, Widerstandsfähigkeit und soziale Kompetenzen. Der britische Kinderpsychiater, Psychoanalytiker und Bindungsforscher John Bowlby stellte jedoch fest, dass Kinder und Jugendliche immer wieder frühkindliche Entbehrungen und Traumata erleben, welche entscheidend für die existentiellen und soziokulturellen Erfahrungen sind.

Das psychische Sicherheitsbedürfnis von Kindern und Jugendlichen ist mit der Sicherheit von Bindungen und der Sicherheit des Explorierens stark verankert, da das Bindungsverhalten die Basis für soziale, emotionale und kognitive Entwicklung bildet.

Eine sichere Bindung ist daher ein zentraler Schutzfaktor für die seelische Gesundheit

48 | S e i t e sowie für die Charakter- und Identitätsbildung. Ist das Sicherheitsbedürfnis der Kinder in verschiedenen Situationen gestillt, können sie explorieren, spielen und sich weiterentwickeln. In hingegen für Kinder unsicheren Situationen sowie in Situationen, die nicht einfach zu bewältigen sind, folgt der Wunsch nach Schutz und Fürsorge im Sinne des Bindungsverhaltens. Werden Kinder beispielsweise mit einer Misshandlung, Vernachlässigung oder sonstigen starken Gefährdung durch wichtige Bezugspersonen konfrontiert, geraten diese in ein nicht lösbares Dilemma, da die Person, die eigentliche Schutz und Sicherheit darstellen soll, nun Schmerzen zufügt und ein Mangel an emotionaler Zuwendung entsteht. In diesem Fall kann das Kind nicht lernen, bindungsrelevantes, stabilisierendes und strukturierendes Verhalten zu entwickeln, woraus ein gestörtes Verhältnis zur persönlichen Umwelt resultiert. Kinder ohne sichere Bindungsstruktur erleben in der Kindheit daher häufig eine Doublebind-Situation, da sie einerseits das Bedürfnis haben, sich der Bezugsperson zu nähern und andererseits sich mit dieser nicht sicher, sondern bedroht fühlen. Dies kann beim Kind einen unlösbaren Bindungskonflikt mit folglich innerlichen Spannungen sowie hohem Stressempfinden auslösen und wird als desorganisierte Bindungsklassifikation verstanden. Kinder, die bereits in frühen Lebensjahren über einen längeren Zeitraum traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, entwickeln sehr wahrscheinlich im weiteren Leben desorganisierte Bindungsverhaltensweisen, welche sich im weiteren Lebensverlauf auch zu einer Bindungsstörung verfestigen können (vgl. Hanselmann/ Weber 1986, S. 23ff.;

Flosdorf 1988a, S. 111ff.; Ludewigt/ Otto-Schindler 1992, S. 37; Schleiffer 2014, S. 15ff.;

Gahleitner 2017, S. 80ff.).

Grundsätzlich haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene jedoch für jede Beziehung andere Bindungsmuster. Diese Bindungsmuster weisen eine individuelle Spezifität, Tragfähigkeit, Kontinuität und emotionale Qualität auf, wodurch Erinnerungen an bisherige Interaktionen und daraus resultierende Erwartungen beziehungsweise Beziehungsziele an sich selbst und auch an andere enthalten sind. Darüber hinaus stehen zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt sozialpädagogischer Arbeit, wodurch anhand von gezielter pädagogischer Beziehungsarbeit neue Bindungen mit individuellen Bindungsmustern gebildet und initiiert werden sollen. Im Aufbau von vertrauensvollen sozialen Beziehungen können somit neue, korrigierende Bindungsmuster entwickelt werden, welche effektive Selbstheilungsprozesse auslösen und dadurch zu einer Stärkung

49 | S e i t e des Selbstwertes führen (vgl. Lotz 2003, S. 16; Loch 2014b, S. 152; Schleiffer 2014, S. 233ff.; Gahleitner 2017, S. 85ff.).

„Traumatische Erfahrungen, deren Auswirkungen sowie die individuell verfügbaren Umgangsmuster mit traumatischen Erfahrungen wirken unmittelbar in die Gestaltung von allen sozialen Beziehungen der Betroffenen hinein“ (Loch 2014b, S. 151). Kinder übertragen das Erlebte demnach oftmals auf ihr soziales Umfeld und schaffen somit eine Reinszenierung des Erlebten, wodurch es eine hohe reflexive Auseinandersetzung beziehungsweise eine hohe Reflexionsbereitschaft und -fähigkeit der Fachkräfte für eine professionelle Beziehungsgestaltung bedarf. In solchen Momenten ist vor allem die Nähe, das Einfühlen und das Verstehen vonseiten der Fachkräfte für die Begleitung der Kinder und Jugendlichen von großer Notwendigkeit. Da die Kinder und Jugendlichen jedoch häufig ein sehr ambivalentes Bedürfnis nach Nähe aufweisen, müssen die Fachkräfte neben Nähe und Bindung gleichzeitig eine professionelle Distanz wahren (vgl. Loch 2014b, S. 151f.).

Bindungsprozesse sind elementar mit Vertrauensprozessen verbunden, wobei Vertrauen jedoch ein schwer greifbares Phänomen darstellt. Vertrauen bildet sich durch Geborgenheit, Sicherheit, Schutz, Zuwendung und Verlässlichkeit und fungiert als unverzichtbare Grundlage für soziale Austauschprozesse. Das Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre und die Aufrechterhaltung von Vertrauen erweist sich als eine wichtige professionelle Herausforderung in der sozialpädagogischen Arbeit. Im Alltag wird unter Vertrauen meist die Zuversicht verstanden, dass sich eine zwischenmenschliche Beziehung positiv und in Richtung der individuellen Werthaltungen, Erfahrungen und Vorstellungen weiterentwickelt. In persönlichen Beziehungen haben Vertrauensprozesse die Aufgabe Erwartungen zu stabilisieren und dadurch Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen. Aus psychologischer Perspektive wird Vertrauen als soziale Einstellung gesehen und erleichtert auf diese Weise soziale Interaktion (vgl. Hanselmann/ Weber 1986, S. 25; Gahleitner 2017, S. 98ff.).

Die pädagogische Beziehungsarbeit bildet in der sozialpädagogischen Arbeit von Fachkräften in Kinder- und Jugendwohngruppen unumstritten eine fundamentale Basis für jegliche zwischenmenschliche Interaktionen und eine adäquate Ausgestaltung der pädagogischen Prozesse. Beziehungen sind eng an Emotionen gebunden, wodurch sie das

50 | S e i t e Denken, Fühlen und Handeln grundlegend beeinflussen. Professionelle Beziehungs- und Bindungsangebote bilden somit sozial-emotionale Unterstützung, um ein psychisches Sicherheitsgefühl entstehen zu lassen und fördern die Selbstentfaltung der Kinder und Jugendlichen. Vonseiten der Fachkräfte ist es unabdingbar, die pädagogische Bindung als professionelle Beziehung und als Übergangsbeziehung zu gestalten, um die persönlichen Grenzen von Privat- und Berufsleben zu wahren, sowie dem Kind das Ankommen, Verbleiben und den Abschied zu ermöglichen. Hierbei gilt es auch auf den Aspekt eines ausgewogenen Nähe-Distanz-Verhältnisses zu verweisen, welches in weiterer Folge im Kapitel 3.3.1 näher ausgeführt wird. Die professionelle Beziehung im Sinne von einem Subjekt-Subjekt-Verhältnis gestaltet sich demnach als offener Verständigungsprozess wechselseitiger Veränderung und ist an gewissen Zielen orientiert (vgl. Lotz 2003, S. 16ff.; Giesecke 2015, S. 105ff.; Loch 2014b, S. 154f.).

Für eine gelingende, professionelle Beziehung zwischen Fachkraft und Kind bedarf es, wie bereits erwähnt, allem voran Vertrauen als grundlegende Basis. Raser nennt als zusätzliche Komponenten tragfähiger Beziehungen „(…) Disziplin, Grenzen, Zuwendung, Lenkung, Struktur, Liebe, Belehrung, Respekt, Sozialisierung, Spaß, Freude“ (Raser 1999, S. 15). Zudem kommt der Persönlichkeit sowie auch der Haltung der Fachkraft eine hohe Bedeutung in der Beziehungsgestaltung zu. Hierbei kristallisieren sich insbesondere Authentizität und Transparenz, Akzeptanz und ehrliche Wertschätzung, Verlässlichkeit sowie Sensibilität für individuelle Wünsche, Interessen und Werte der Kinder und Jugendlichen als wesentliche Aspekte heraus. Auch Offenheit gegenüber individuellen Lebensvorstellungen sowie Eingeständnisse eigener Fehler und Schwächen, Interesse und Aufmerksamkeit gegenüber Ängsten und Problemen der Kinder und Jugendlichen sowie grundsätzliche Stärkung und Zuspruch des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls bilden essenzielle Faktoren für eine gelingende Beziehungsarbeit (vgl. Normann 2003, S. 138ff.; Gehrmann 2015, S. 66ff.).