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Ich bin hier. Weiter kein Wort; auchdas verdienenSie nicht. R. L.

An David Veit aus Breslau, 3. 9. 1794324

An dieser Stelle wird eine Stadt erwähnt, obwohl und weil sie in den Auseinan-dersetzungen in der Salongesellschaft 1794/95nichtzum Thema wurde und im doppelten Sinne als Unort der Salongesellschaft gelten muss. Im Sommer 1794 unternahm Rahel Levin Varnhagen mit ihrer Mutter Chaie und ihrer Schwester Rose eine gemeinsame Reise zu Verwandten nach Breslau.325Dieser Aufenthalt

322 Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel und Henriette Mendelssohn an Rahel Levin Varnhagen, 13. 9. 1792, in: KFSA, Bd. 23, S. 64. Hervorhebung im Original.

323 Ein Vorschlag, den seine Mutter vehement ablehnte: „Alles was ich Dir zu gefallen thun kann, geschieht gern und macht mir selbst Freude – aber eine solche infame Mordmaschine zu kaufen – das thue ich um keinen preiß – wäre ich Obrigkeit, die Verfertiger hätten an ein Halseisen gemusst.“ Catharina Elisabeth Goethe an Johann Wolfgang von Goethe,

23. 11. 1793, in: Albert Köster (Hrsg.): Briefe von Goethes Mutter, Leipzig 1908, S. 119.

324 Rahel Levin Varnhagen an David Veit, 3. 9. 1794 in: GW VII/I, S. 223. „das verdienen“ im Druck gesperrt.

325 In Breslau wohnte der wohlhabende Kaufmann Lipmann Meyer, ein Neffe von Levin Markus, und damit Vetter von Rahel, der wegen des großen Altersunterschiedes „Onkel“

genannt wurde. Er war u. a. Ober-Gemeindeältester der Breslauer jüdischen Gemeinde. Vgl.

die genealogischen Recherchen von Paul Jacobi in einem Brief an Carola Stern 1992, zit.

nach: ERLV II, S. 607, Anm. 1.

fand in den Briefen an ihre Salonbekannten kaum Niederschlag. Eben dieser Umstand aber bzw. die Tatsache, dass Rahel Levin Varnhagen ihre Eindrücke von der jüdischen Bevölkerung Breslaus ihren Bekannten gegenüber nicht, ihrer Familie gegenüber aber ausführlich und mit merkbarer Distanz berich-tete, ist für das Selbstverständnis einer Berliner Jüdin um 1800 bemerkens-wert.326

Im Folgenden soll kurz skizziert werden, welchem ihrer Briefpartner gegen-über Rahel Levin Varnhagen was thematisierte und was nicht. An David Veit ist aus dieser Zeit nur obiger Einzeiler[!] überliefert, der kürzeste Brief der gesamten Korrespondenz und einziger seiner Art. Allerdings haftet ihm noch ein eigenwilliger Nachsatz an: „N. S. Nun hör ich’s Sie habendocheinen schle-sischen Accent. Ich bin acht Tage hier, vierzehn im Gebirge und wiederum vierzehn hier; den achtzehnten reis’ ich nach Hause. Verdienen Sie’s“?327Veit stammte aus Breslau, weshalb sie seinen Akzent dort wiederzuerkennen ver-mochte, und weshalb sie vielleicht auch davon ausging, ihm aus dieser Stadt nichts berichten zu müssen. Warum er es aber nicht „verdient“ haben könnte, bleibt, wie Bosold zu recht anmerkt, reine Spekulation. In den Briefen, die sie ihm nach der Rückkehr aus Breslau schrieb, nahm sie keinen Bezug auf ihre dortigen Erlebnisse, sondern wechselte gleich wieder zu ihren gemeinsamen Themen. An Gustav von Brinckmann schrieb sie in dieser Zeit zwar „Lassen Sie sich immer meine Briefe mitteilen, sie sind auch für Sie“, auch mit Navarro D’Andrado wurde die Korrespondenz fortgesetzt, aber eigene, persönliche Kommentare aus Breslau sind weder an diese beiden noch an irgendwelche anderen Bekannten überliefert.328Auffällig ist noch, dass Brinckmann seine Billets nach Breslau, die auch nur kleine Neuigkeiten aus Berlin enthielten, durchweg auf französisch schrieb, ebenso wie Rahel Levin Varnhagen Kom-mentare zu ihrer Gastfamilie oft ins Französische setzte, mit der expliziten Begründung, dass sie deren Neugier fürchtete: „[…] j’ecris les horreurs en franç: parceque je crains les curieux“.329

326 Im BdA erschienen nur stark gekürzte und veränderte Fassungen. Der erste vollständige Abdruck eines schlesischen Briefes bei Isselstein 1993, S. 54–59. Eine ausführliche Analyse der „Schlesischen Reise“ für das Selbstverständnis Rahel Levin Varnhagens bietet Bosold 1996, S. 178–194. Dass die Briefe eigentlich undruckbar seien, wie Bosold meint, kann ich nicht bestätigen, vielmehr macht der jetzt erfolgte Druck, die zahlreichen Unterstreichungen und Ausrufezeichen, die Aufregung(en) dieser Reise sinnfällig, vgl. ERLV III, S. 16–43.

327 Rahel Levin Varnhagen an David Veit, 3. 9. 1794 in: GW VII/I, S. 223.

328Rahel Levin Varnhagen an Gustav von Brinckmann, 26. 8. 1794, in: GW I, S. 98. Nach den überlieferten Briefen Navarros ging es in Levin Varnhagens Briefen an ihn nicht um Reiseerfahrungen. Bosold 1996, S. 180.

329 Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 16.

Als Quelle für diese Reise bleiben neun Briefe an ihren Bruder Markus Theodor, die bei genauerem Hinsehen zugleich auch an andere Familienmit-glieder gerichtet waren, zu denen hier auch Friederike Liman zählte.330 Diese Briefe können ihrem Detailreichtum und Umfang nach als kleine Reiseberichte oder besser Reisetagebücher gelesen werden, wie auch die Verfasserin selbst sie als „Jurnale“ sah und darum bat, diese aufzuheben.331 Bereits der erste Brief an die Familie vom 8. 8. 1794 enthielt Bemerkungen zu Reisewegen und Gesellschaft, zur freundlichen Aufnahme im Haus ihres Onkels und – von Varnhagen im Buch des Andenkensum ganze Seiten gekürzt – ihr Erstaunen oder Entsetzen über das Leben in der Stadt: „Denk dir Hans eine prolongirte Probesgaße aber die heuser nach dem Himel zu spitzig und millonarden Böh-men, und welche’?! wie man sie bey unsniesiht.“ Im selben Brief findet sich eine Beschreibung der Geräuschkulisse, ebenfalls von Varnhagen nicht gedruckt: „[…] dass sich eine Menge Böhmen zanken […]“ und der Hinweis,

„dass die Böhmen alle Morgen in Mistischer Sprache die sie heilige nenen ihm bis in sein Wolkenpalais hinein schreien; denk nicht dass es übertrieben ist“.332 Der Begriff „Böhmen“ war nicht auf eine geografische Herkunft bezo-gen, sondern auf traditionell lebende Juden.333 In der Korrespondenz Rahel Levin Varnhagens aus Breslau wurde er stereotyp für die dort lebenden Juden verwandt, immer in Assoziation mit „geschrey“ und Menschenmasse. Die ety-mologische Erklärung des Begriffs ist in der Forschung nicht ganz geklärt.

Carola Stern vermutet eine Ableitung vom hebräischen behema, Tier oder Ochse. Birgit Bosold verweist auf den jiddischen Begriff „a wilde B’heime“, worunter ein primitiver Mensch zu verstehen sei.334 Entsprechend diesen

330 Die Zählungen sind unterschiedlich, die ERLV III zählt sieben Briefe aus Breslau.

331 „[…] verwart meine Briefe den daß sind meine Jurnale […]. Franz thu Du’s.“ Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin – und eben Friederike Liman (Franz), 11. 8. 1794, in: ERLV III, S. 28.

332 Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 16, 18.

333 Ein „Ghetto“ bzw. ein vorgeschriebenes Wohngebiet gab es, wie in Berlin, auch in Breslau nicht, wohl aber eine Wohngegend, die Juden vornehmlich besiedelten, in der Altstadt, vor allem um den ehemaligen Karlsplatz, der im Volksmund auch „Judenplatz“ hieß.

Gegen Ende der Regierungszeiten Friedrichs II. lebten etwa 2.500 Juden in Breslau, in absoluten Zahlen also Berlin vergleichbar, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Breslaus aber eine viel größere jüdische Gemeinde. Auch nach einer neuen Judenordnung von 1790 war die jüdische Gemeinde von internen Kämpfen zwischen liberalen und traditionellen Gruppierungen geprägt. Gerhard Scheuermann: Die jüdische Gemeinde, in ders.: Das Breslau-Lexikon, Dülmen 1994, o. S.

334 Stern 1994, S. 21, Bosold 1996, S. 186. Dabei fügt Bosold hinzu, dass der jiddische Begriff über verschiedene etymologische Zwischenstufen aus dem hebräischen entstanden

abwertenden Konnotationen finden sich in den Briefen aus Breslau Hinweise auf den „böhmenhaß“ einer vornehmeren Jüdin in Breslau, beziehungsweise auf „antiböhmen“.335

Sicher nicht ohne Grund wählt Carola Stern die Reise nach Breslau als Einstieg in ihre berühmte romanhafte Biografie Rahel Levin Varnhagens: An dem Kontrast zwischen einem „orthodoxen, sinnlichen, schmutzigen“ Breslau zum „gradlinigen, aufgeklärten“ Berlin lässt sich sinnfällig darstellen, wie groß die Distanz zwischen einer modernen Jüdin und dem strenggläubigen Juden-tum um 1800 gewesen sein muss.336Anders als Bosold, die zwischen den Zei-len der Familienbriefe vor allem Abscheu zu lesen glaubt, sieht Stern ihre Protagonistin aber auch fasziniert von dieser fremden Lebenswelt. Nicht die Befolgung der Religionsgesetze habe sie gestört, sondern nur die unmoderne Lebensart.337Dafür sprechen die sehr lobenden Äußerungen im zweiten Brief aus Breslau, in dem sie schöne Gärten und schöne Häuser pries. Zu ihrer positi-ven Stimmung mag auch eine französische Konversation mit einem Soldaten oder ein Besuch bei einer ehemaligen Berliner Bekannten beigetragen haben, die ähnlich wie in Berlin „in einer guten Straße“ „recht gut meublirt“ und

„ganz modern und simpel“ wohnte, sogar „in einem Hause so groß wie Her-zens“. Allerdings zeichnete sich eben diese Freundin durch „böhmenhaß“

aus.338

Neben dem Lärm war es vor allem der Schmutz, der Rahel Levin irritiert zu haben scheint. Bereits an ihrem Reisegefährten, dem jüdischen Gelehrten Haltern, hatte sie seine unkultivierten Umgangsformen beklagt, wie „dieses Bepatsche aller Lebensmittel“.339Die imBuch des Andenkensüberlieferte Ver-sion der Reise, die allgemein als Ausdruck von Stress nach vier Tagen geteilter Postkutsche deutbar wäre, liest sich im Original verschärfter, denn Varnhagen hatte das allzu Eklige (im folgenden kursiv) gekürzt: „[…] dies ewige Gerede,

ist. Vgl. auch die Deutungen zu „behéjme“ (als 1. Haustier, 2. Dummer Mann oder Dumme Frau und 3. Arbeitstier) in: Leo Rosten: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie, München 2003, S. 80 f.

335Allerdings ist der Böhmenhass aus der Druckfassung des BdA gekürzt. Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 11. 8.1 794 und 26. 8. 1794, in: ERLV III, S. 25 und S. 35.

336Stern 1994, S. 17–25. Ähnlich beginnt auch Hilde Spiel ihre Biografie Fanny von Arnsteins mit der Reise der Braut von Berlin in das reichere, aber wenig aufgeklärte Wien.

Vgl. Spiel 1962, S. 9 ff.

337 „Mögen dem ,Onkel‘ die jüdischen Religionsgesetze ungleich mehr bedeuten als den Verwandten in Berlin – daran stört sich Rahel nicht. […] Sie nimmt Anstoß an der Lebensart.

Nichts im Haus lässt etwas von dem modernen Lebenszuschnitt des Berliner jüdischen Bürgertums erkennen.“ Stern 1994, S. 21.

338 Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 11. 8. 1794, in: ERLV III, S. 25.

339Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 20.

dies Nahsitzen,dieses Gestinke nach Schweiß, und Schmuhls Schnupftuch dieses Rotz in die Hände reiben, (als wünsche man sich)dieses Bewundern, dass man so wenig Schnupftücher braucht […]“.340 Ebenso wie sie an Haltern „diese triviale entsetzliche Moral“ und seine mangelnden Umgangsformen ablehnt, irritieren sie am Haus ihres Onkels die – akustische – Nähe zu traditionellen Gesängen, die Flöhe und unkultiviertes Betragen der Mitwohnenden.341

Mit Bildern einer engen Gasse, spitzen Giebeln und handelnden Juden scheint die Atmosphäre des Schtetls heraufbeschworen bzw. womöglich, wie Bosold argumentiert, das Bild des „Ostjuden“ vorweggenommen.342Dazu passt die ablehnende Haltung gegenüber den baulichen und hygienischen Verhält-nissen im Hause des Onkels, in dem auch das Fehlen eines Klaviers bedauert wurde, als Symbol des kultivierten Lebens. Andererseits betonte die Besuche-rin immer wieder ihre Hochachtung vor der Person des Onkels, seiner Gastfrei-heit und seinem Bemühen, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.343 Die beiden überlieferten Briefe ihres Bruders Liepmann, später Ludwig Robert, der 1794/95 bei dem Vetter in Breslau in die kaufmännische Lehre ging, klangen, im Vergleich, auch nicht wirklich entsetzt, eher amüsiert.

Er sei sehr gut aufgenommen worden und habe gute Gespräche mit dem Onkel geführt, auch über die Religion. Zwar werde in Breslau „überhaupt viel davon gesprochen“, aber man konnte auch mit dem Onkel darüber scherzen, dass der Berliner Lehrling die „Schuhl“ direkt gegenüber seinem Zimmer hatte, gemeint war die Privatsynagoge im Hause.344 Die Tante sei gut frisiert und höflich. Anscheinend hatte er anderes erwartet, denn er fügte hinzu: „[…] ob dieses zuvorkommende und höfliche nur schein ist kann ich in dieser kurzen Zeit nicht beurteilen“.345

Die Irritation blieb. Als Rahel Levin Varnhagen nach 14 Tagen Rundfahrt in schöner Landschaft wieder in Breslau ankam, überfielen sie Beklemmungen:

340 Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 20, im Vgl. mit BdA I, S. 82. In der BdA-Version fehlen auch die Unterstreichungen.

341 „[…] dabey war eine colonie flöhe auf meinem leibe glüklich, die sich ihn seit voriger Nacht zur Insul ihrer freiheit und gleichheit ausgesucht haben.“ Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 17; und über den Reisebegleiter Haltern, den sie nur das „Biest“ nannte: „[…] was meint ihr dazu wenn einer immer in Geselschaft sitzt und sich mit einen Ohrlöffell die Ohren reine macht es zu Kloß wirbelt und dan in die Hände schmiert?“ Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 23. 8. 1794, in ERLV III, S. 33.

342 Bosold 1996, S. 188 ff.

343 „[…] indessen muß ich weiter treumen und nach mein clavir fragen dahieß es wäre keins zu haben […] Der oncle versichert ichwürdeeins bekomen, indeßenhabich keins.“

Rahel Levin Varnhagen an Marcus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 17.

344 Ludwig Robert an Rahel Levin Varnhagen, vor August 1794, in: ERLV II, S. 9.

345 Ludwig Robert an Rahel Levin Varnhagen, vor August 1794, in: ERLV II, S. 9.

[…] wie ward mir aber, wieder in dieser engen Straße ein zu kriechen und in dieses Hause […]. Mir wurde so angst und bange daß ich mich eine Stunde lang vor der Thür aufhielt […]. vor Böhmen schäm ich mich nicht, man sich nicht, nun die sind so einen Abend in der engen Gaße, und in solcher Menge, daß ich diese Straße ohne Ubertreibung und auf meiner Ehre mit keiner von den unsrigen in der Art vergleichen kann, Sieber u Nagel-Gaße sind zwar enger aber nicht so Volkreich, nicht so ausschließend Böhmen reich.346

Wenn es auch „Böhmen“ in Berlin gab, hatte man mit diesen keinen Kontakt.

Hannah Arendt sieht in der Reaktion Rahel Levin Varnhagens auf ihre „obliga-ten jüdischen Provinzverwand„obliga-ten“ vor allem Scham wirken, die sie zugleich als absoluten Verzicht auf Zugehörigkeit deutet. „Keine Taufe, keine Assimila-tion, keine noch so reiche und adlige Heirat hätte eine so radikale Wirkung haben können wie diese Scham“.347

Ob Scham,348Ekel oder Faszination die wesentliche Reaktion der Berliner Levins auf die Lebensverhältnisse der Juden in Breslau war, bleibt letztendlich eine Frage der Interpretation. Es scheint aber bezeichnend, dass, wie hier im speziellen Fall aus und nach Breslau, in den meisten Briefen zwischen der jüdischen Gastgeberin und ihren nichtjüdischen Salonbekannten allgemein

„das Jüdische“, die jüdische Herkunft oder die jüdische Emanzipation nicht thematisiert wurde. Anders als Bosold scheint mir kein absichtsvolles Ver-schweigen vor ihren Gästen am Werk, da zwei gut vernetzte Diplomaten die Reise zumindest in vermittelter Form kennenlernten: „[…] theile ihm in auszug mein Unglück mit ich will es haben“.349Die grundsätzliche Abwesenheit des Themas, die sich für die meisten Briefe zwischen jüdischen und nichtjüdischen Salonbeteiligten zumindest in den frühen 1790er-Jahren konstatieren lässt, deutet womöglich auf mangelndes Interesse an der Herkunft als Unterschei-dungsmerkmal. Man sah sich nicht in Bezug zu den „Böhmen“, sondern zählte sich zu den aufgeklärten Berlinern. Umgekehrt ist der spätere Wiedereinzug der Kategorie „jüdisch“ in die Briefwechsel um 1800 ein Zeichen dafür, dass in der Gesellschaft vermehrt unsichtbare Schranken wieder hochgezogen wurden.

Und die Thematisierung „des Jüdischen“ in den Briefen einiger nichtjüdischer Gäste untereinander deutet daraufhin, dass die jüdische Herkunft einiger Salonbeteiligter nicht so irrelevant war, wie diese es sich vielleicht gewünscht hätten.

346 Rahel Levin Varnhagen an Markus Levin, 30. 8. 1794, in: ERLV III, S. 34.

347 Arendt 2001, S. 227.

348 Inwieweit Scham auch progressive im Sinne von befreiende Konsequenzen haben kann, diskutiert, auch am Beispiel von Hannah Arendts Rahel-Biografie, Jill Locke: Shame and the Future of Feminism, in: Hypatia, 22/F, Herbst 2007, S. 146–162.

349 Rahel Levin Varnhagen an Marcus Levin, 8. 8. 1794, in: ERLV III, S. 21.

Was zählt, ist die erschriebene und in diesem Falle erschwiegene Nähe zu den „modernen“ Menschen in Berlin. Nicht nur in preußischen Meilen gemes-sen, lag 1794 Weimar dichter an der Jägerstraße als Breslau.