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Organisatorische Maßnahmen

4.2.  Maßnahmenspezifische Empfehlungen

4.2.1.  Organisatorische Maßnahmen

Die grundsätzlich empfehlenswertesten organisatorischen Maßnahmen sind auf Grundlage der zusammenfassenden Empfehlungen durch die Experten:

 M.1.1: Verschiebung bzw. Staffelung von Arbeitszeiten,

 M.1.2: Flexibilisierung von Arbeitszeiten,

 M.1.3: Verschiebung bzw. Staffelung von Unterrichtszeiten an Schulen.

Die Auswirkungen von Eingriffen in etablierte zeitliche Strukturen durch organisatorische Maßnahmen sollten immer sorgfältig geprüft und mit den Betroffenen abgestimmt werden.

Für die diskutierten organisatorischen Maßnahmen zum Abbau der Spitzenbelastungen ist der Abbau von gleichzeitigen Aktivitäten ein wesentlicher Ansatz. Nicht von jedem wird die Gleichzeitigkeit der Aktivitäten unbedingt als ein Nachteil bewertet, oft wird diese sogar als eine soziale Errungenschaft bewertet, die allerdings zwangsläufig mit Nachteilen, wie zum Beispiel Nachfragespitzen verbunden ist; keinesfalls kann es Ziel sein, monetäre Ersparnisse zu erreichen, um im Endergebnis subjektiv schlechter zu leben.208

Zwar ist eine Tendenz der zunehmenden Individualisierung (ehemals gemeinschaftlicher) Aktivitäten und Pluralisierung von Lebensstilen als Ursache oder Reaktion veränderter Zeitstrukturen feststellbar.209 Ein weiterer Abbau der Gleichzeitigkeit von Aktivitäten sollte aber berücksichtigen, dass es etablierte und erhaltenswerte Zeitstrukturen geben kann. Dies können kollektive Zeitstrukturen, wie zum Beispiel die Arbeitszeitorganisation zur optimalen Gestaltung betrieblicher Prozesse, oder auch individuelle Zeitstrukturen, zum Beispiel zur Ermöglichung gemeinsamer Zeiten in Familien, sein. In Bezug auf Familien sollte eine Zeitordnung angestrebt werden, die allen Mitgliedern der Familie einen fast identischen Zeitplan bietet; eine Zeitordnung, die der Gesellschaft Vorteile bringen, aber das Leben der Familie erschwert, wäre nicht sinnvoll.210 Solche Aspekte sind grundsätzlich bei Maßnahmen zur Beeinflussung der Zeitwahl von ÖPNV-Nutzern zu beachten, aber insbesondere bei der Umsetzung von organisatorischen Maßnahmen und hier vor allem bei Maßnahmen, die eine Verschiebung zeitlicher Fixierungen durch eine Verschiebung bzw. Staffelung der Arbeitszeiten (M.1.2) und Verschiebung bzw. Staffelung der Schulzeiten (M.1.3) verfolgen. Von diesen Maßnahmen ist zwar die höchste Wirksamkeit zu erwarten, aber die Akzeptierbarkeit durch die Betroffenen wird in vergleichsweise geringem Maße gegeben sein, da vielmehr als bei anderen Maßnahmen unerwünschte Eingriffe in kollektive und subjektive Zeitstrukturen durch den Zwang zur zeitlichen Reorganisation verbunden sein können.

Auch ist darauf zu achten, dass die Abfahrts- und Ankunftszeiten von ÖPNV-Verbindungen möglicherweise auf die Arbeitszeiten und Unterrichtszeiten im Einzugsbereich abgestimmt sind und dass eine Verschiebung oder Staffelung der Arbeitszeiten oder Schulzeiten in diesem Fällen Zeitverluste für die ÖPNV-Nutzer zur Folge haben können.

Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten ist der Verschiebung bzw. Staffelung von Arbeitszeiten vorzuziehen.

Unter Umständen besteht die Möglichkeit, zwischen einer Flexibilisierung (M.1.1) oder einer Verschiebung bzw. Staffelung (M.1.2) von Arbeitszeiten auszuwählen. Um, wie zuvor erläutert, keinen Zwang zur individuellen zeitlichen Reorganisation zu erzeugen, die mit Konflikten zum Beispiel mit der familiären Zeitorganisation verbunden sein kann, sollten in diesem Fall Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten einer Verschiebung oder Staffelung von Arbeitszeiten vorgezogen werden.

Die bessere organisatorische Umsetzbarkeit, insbesondere unter Berücksichtigung der Akzeptier-barkeit der Maßnahme durch die ÖPNV-Nutzer, spricht außerdem für die Flexibilisierung der

208 de Waele (1976).

209 FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen) (2006b).

210 de Waele (1976).

Arbeitszeiten, zum Beispiel in Form von Gleitzeitregelungen: „Es ist wesentlich leichter, den Abbau der Verkehrsspitzen über die gleitende Arbeitszeit zu erreichen als über das starre System mit festen Anfangs- und Schlusszeiten.“211 Die Befragung der Experten stützt diese Einschätzung.

Bezüglich der Wirksamkeit ist allerdings die Verschiebung bzw. Staffelung von Arbeitszeiten im Vorteil: „Die Verschiebung starrer Arbeitsbeginnzeiten hat nach vorliegenden Modellberechnungen einen durchgreifenderen Effekt auf den Abbau von Verkehrsspitzen als die Einführung von Gleitzeitregelungen.“212 Auch diese Einschätzung kann durch die Expertenbefragung bestätigt werden.

Auch wenn die Flexibilisierung der Arbeitszeiten einer Verschiebung oder Staffelung fester Arbeitszeiten vorzuziehen ist, sollte letztere Maßnahme als Alternative in Betracht kommen, falls eine Flexibilisierung zum Beispiel aufgrund innerbetrieblicher Abläufe nicht möglich ist.

Gegebenenfalls ist auch eine Kombination der beiden Ansätze in Erwägung zu ziehen.

Unterrichtszeiten sollten nur moderat verschoben bzw. gestaffelt werden.

Da die Eingriffe in die Freizeitgestaltung und das zeitliche Disponieren in den Familien von dem Ausmaß der zeitlichen Verschiebung abhängt, dürfte eine geringfügige Verschiebung der Unter-richtszeiten bei einer Schulzeitstaffelung von allen Betroffenen deutlich besser akzeptiert werden als eine großzügige Verschiebung.

Beispielsweise wurde die Verschiebung des Unterrichtsbeginns um eine Stunde auf 9:00 Uhr an der John-Lennon-Schule in Berlin im März 2009 abgelehnt. Sowohl die Schulkonferenz als auch die Schüler haben sich mehrheitlich gegen eine Verschiebung von 8:00 auf 9:00 Uhr ausgesprochen.213 Vermutlich war die Bereitschaft zu gering, die Freizeitgestaltung der entsprechenden Verschiebung des Unterrichtsendes anzupassen. Die John-Lennon-Schule wäre die erste Schule in Deutschland gewesen, die eine solche Veränderung der Unterrichtszeiten eingeführt hätte.

Der zeitliche Rahmen für die Verschiebung oder die Staffelung muss nicht notwendigerweise sehr groß sein. „Wegen des hohen prozentualen Anteils der Schüler an den Fahrgästen im ÖPNV würden auch gestaffelte Schulanfangszeiten – selbst wenn diese nur um Viertelstunden differieren – einen nicht zu unterschätzenden positiven Einfluss auf die Kostenentwicklung der Verkehrsunternehmen ausüben können.“214 Eine Verschiebung des Schulbeginns um 15 bis 30 Minuten würde die Spitzenzeit bereits spürbar entlasten.215 In Hannover wurden beispielsweise seit den 1960er Jahren Erfolge mit der Herausnahme des Schülerverkehrs aus dem morgendlichen Spitzenverkehr durch Verlegung der Schulanfangszeiten auf 8:00 Uhr oder 8:15 Uhr erzielt.216

211 Lehmann (1972b).

212 Brög et al. (1984).

213 Haruna (25.02.2009).

214 VÖV (Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe), Deutscher Städtetag (1990).

215 VÖV (Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe) (1982).

216 Lehmann (1972b).

Ein Politikfeld „Zeitpolitik“ sollte etabliert werden und durch eine Koordinierung kollektiver Aktivitäten einen Beitrag zum Abbau von Verkehrsspitzen leisten.

Eine zeitliche Koordinierung von Taktgebern, also großen Institutionen, die durch ihre Zeitgestaltung den Rhythmus der Nachfrage nach öffentlichen Mobilitätsdienstleistungen wesentlich mitbestimmen, erfolgt in aller Regel nicht.217

Ziel einer Koordination muss der „Abbau der Gleichzeitigkeit des Verkehrs“218 sein. Im Rahmen einer regionalen oder kommunalen „Zeitpolitik“ kann durch die Einflussnahme auf Zeitordnungen ein Beitrag zum Abbau von Verkehrsspitzen geleistet werden. Anfang der 1990er Jahre wurde in Italien die „Zeitpolitik“ als Politikfeld definiert mit dem Ziel, Zeitaspekte in die Reform der öffent-lichen Verwaltung einzubeziehen; so wurde ein Gesetz verabschiedet, dass durch Koordinierung der Anfangs- und Endzeiten kollektiver Aktivitäten die Mobilität verbessern sollte.219 Dieses Gesetz verpflichtet die Städte in Italien ab einer bestimmten Größe außerdem, „Zeitbüros“ oder „Zeitord-nungspläne“220 einzuführen, die unter anderem zur Harmonisierung von Zeitstrukturen beitragen sollen. Mittlerweile wurde dieses Politikfeld auch auf andere europäische Staaten übertragen.221 Erste Ansätze einer „Zeitpolitik“ entstanden in Deutschland in Bremen, Hamburg und Hanau.

Nach MÜCKENBERGER ergeben sich auf der kommunalen Ebene unter anderem folgende Aufgaben einer Zeitpolitik:222

 Koordination von Arbeitszeiten, Transportzeiten und sozialen Zeiten,

 Koordination von Schul- und Betreuungszeiten,

 Abstimmung von Behördenzeiten und Behördendienstleistungen untereinander und mit Nutzerbedürfnissen.

Im Jahr 2002 wurde die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) gegründet; Ziel der Gesellschaft ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse für die alltägliche Zeitgestaltung, für öffentliche Auseinandersetzungen und politische Entscheidungsprozesse nutzbar zu machen.223 Seit 2003 besteht an der Universität Hamburg eine „Forschungsstelle Zeitpolitik“, im Bereich Sozialökonomie angesiedelt ist. Als Handlungsfeld einer städtischen Zeitgestaltung wird zum einen die Staffelung von Anfangszeiten, um Verkehrsspitzen zu entzerren und zum anderen sogenannte Mobilitätspakte zwischen den öffentlichen und privaten Akteuren einer Stadt genannt; die Mobilitätspakte versuchen, durch die Kombination von traditionellen verkehrspolitischen Ansätzen mit zeitlichen Aspekten und durch die Einbeziehung der privaten Zeitgeber die Verkehrsprobleme zu entschärfen.224

217 Henckel (2001).

218 Herz (1972).

219 FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen) (2006b).

220 „Zeitordnungs- oder auch Zeitleitpläne sind ein gesetzliches Instrument zur Koordinierung und Harmonisierung der Stadtzeiten in Italien. Bei der Ausarbeitung des Zeitordnungsplanes müssen insbesondere die Auswirkungen auf den Verkehr, die Luftverschmutzung und die Lebensqualität der BürgerInnen Berücksichtigung finden. Der Zeitordnungsplan wird letztendlich vom Gemeinderat auf Vorschlag des Bürgermeisters bzw. der Bürgermeisterin angenommen und muss von der kommunalen Verwaltung umgesetzt werden.“Mairhuber, Atzmüller (2009).

221 FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen) (2006b).

222 Mückenberger (2000).

223 DGfZP (Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik) (2009).

224 Universität Hamburg (2009).

Ein wichtiger Ansatz für die zeitliche Koordinierung im Rahmen einer „Zeitpolitik“ wäre die Einrichtung einer „neutralen Stelle“225 bzw. einer „Koordinierungsstelle“226. Die Verantwortlichkeit und die Mitglieder einer solchen Koordinierungsstelle sollten in Abhängigkeit von den zu koordinierenden Taktgebern bestimmt werden. Naheliegend ist z. B. bei einer Koordinierungsstelle für die Abstimmung von Arbeitszeiten, dass die Industrie- und Handelskammern, als Interessens-vertreter der Arbeitgeber, eine führende Rolle übernehmen.