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2 Behinderung, Diversität, „Förderbedürftigkeit“ oder Inklusion?

4.3 Relevante Begrifflichkeiten des soziologischen Neoinstitutionalismus

4.3.4 Organisationales Feld

Wie Akteur*innen und Ebenen, die Einfluss auf das Verständnis von „Förderbedürftigkeit“

nehmen, identifiziert werden können, wurde mit dem Konzept des „organisationalen Feldes“, ursprünglich durch einen Artikel von DiMaggio und Powell (1983), in die neoinstitutionalis-tische Organisationstheorie eingebracht. Dieses Konzept nimmt bei der Beschreibung und Er-klärung von Institutionen und deren Wandel eine zentrale Stellung ein (Walgenbach & Meyer, 2008; Koch, 2009), da es als primäre Analyseebene den Rahmen skizziert, in dem eine empiri-sche Analyse möglich wird. Das ursprünglich starre Konzept, das Wandel theoretisch verhin-derte, weil es sich lediglich auf bereits bestehende Organisationen bezog, wurde im Laufe der Zeit u.a. von Meyer und Rowan und vielen weiteren Autor*innen erweitert (Walgenbach &

Meyer, 2008), so auch von Scott (1994), der die „kulturelle Felddimension“ (in Koch, 2009, 125;

Hervorh.i.O.) in die Diskussion einbrachte. Es geht damit nicht nur um weitere Akteur*innen in Form anderer Organisationen im Sinne eines gemeinsamen Feldes, sondern um Bedeutungs-systeme wie „Symbole, Werte, Normen, Normalitätsvorstellungen, Akteurskategorien“ (Scott, 1994, 207 in: Koch & Schemmann, 2009, 125). Diese untergliedert er in zwei sich gegenseitig konstituierende Dimensionen eines Feldes – in „die kulturell-symbolische Dimension und die soziale Struktur von Akteursrelationen“ (ebd.), die für das Verständnis des Feldes unabdingbar sind.

Im Zuge der Definition des organisationalen Feldes, vielmehr der Begriffsbestimmung der „ins-titutionellen Umwelt“ (Koch, 2009, 123) bzw. des „Issue-Feldes“ (Walgenbach & Meyer, 2008, 74) geht es im Rahmen der Betrachtung des Wandels im historischen Verlauf nicht ausschließ-lich um die Feststellung anderer Organisationen, die in der Umwelt von Schulen existieren und Einfluss auf sie ausüben. Es gilt zu analysieren, welche Akteur*innen und Organisationen sich am Diskurs um „Förderbedürftigkeit“ und die Diversität der Schülerschaft beteiligen und die-sen mit strukturieren. Der Ausgangspunkt liegt dabei in der historischen Analyse auf der regu-lativen Säule, die Scott in Bezug auf die Identifikation unterschiedlicher Kriterien von organi-sationalen Feldern unter „Art des Steuerungs- und Kontrollsystems“ (ebd.) bzgl. des Einflusses mächtiger Akteur*innen wie der Politik fasst. Anhand der nationalen Bildungsgesetze wird das organisationale Feld rund um den Begriff der „Förderbedürftigkeit“ von Schüler*innen analy-siert (s. Kapitel 6.1 bis 6.3).

Um die Wahrscheinlichkeit institutionellen Wandels einschätzen zu können, formulierte Scott (1994) drei Dimensionen, die Variationen organisationaler Felder definieren: der „Geltungs-bereich von Glaubenssystemen“ (Scott, 1994, in: Becker-Ritterspach & Becker-Ritterspach, 2006, 129), „die Natur des Herrschafts- oder Governancesystems“ (ebd.) und der „Strukturie-rungsgrad des Feldes“ (ebd.). Dieser auf Mesoebene, zwischen Organisation und Gesellschaft, verortete Feldbegriff ermöglicht ein Verständnis des Verhaltens einer Organisation zu einer Ins-titution, d.h. für die vorliegende Studie, wie sich die Schulen gegenüber der politischen Vorgabe zur Berücksichtigung von Diversität verhalten, wie stark der „Strukturierungsgrad des Feldes“

(s. Tabelle 2) ist.

Die folgende Tabelle (Tabelle 2) zeigt anhand der Spalten zu Dimensionen, Kriterien und Merkmalen organisationaler Felder, inwiefern sich diese voneinander unterscheiden können und ermöglicht damit eine Einschätzung hinsichtlich Institutionalisierungsgrad und davon ab-geleitet den Möglichkeiten für institutionellen Wandel (s. Kapitel 8.3.1.4 und 8.3.2.3).

Tab. 2: Dimensionen, in denen organisationale Felder Unterschiede aufweisen können (in An-lehnung an Walgenbach & Meyer, 2008, 76–77 sowie Scott 1994 in: Becker-Ritters- pach & Becker-Ritterspach, 2006, 129–130.)

Vorstel-lungssysteme, belief systems Variation der Systeme bzgl. Eindeutig-keit, Klarheit, Grenzen Grund-annahmen = Ursache für Konflikt und Wandel)

– Ausmaß institutionalisierter Vor-stellungen

– Enge der Verknüpfung eines Vor-stellungssystems mit Aktivitäten

– Grad „der Exklusivität des Vorstel-lungssystems“. Hier geht es um die Frage, „in welchem Verhältnis die Regel und Glaubenssysteme zum Strukturen => je stärker, desto weniger Autonomie (Beispiele für Eigenschaften des Staates:

„Ausdehnung, Zentralisierung, Hierarchisierung, partizipative Strukturen“)

– Nach Scott: Bedeutung des Nationalstaates

Entscheidend nach Scott:

1. „Einfluß (sic!) der generellen Herrschaftsstruktur des Staates auf

Diese wirken regulierend und können dominant sein.

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Relevante Begrifflichkeiten des soziologischen Neoinstitutionalismus

Dimensionen Kriterien Merkmale

3. „Strukturierungsgrad des

Feldes“ „Je höher der Grad der Strukturation

des Feldes, desto größer ist das Ausmaß der Strukturgleichheit und desto unwahrscheinlicher ist institutioneller Wandel“

Indikatoren für zunehmende Struktu-ration sind:

– „ein zunehmendes wechselseitiges Bewußtsein (sic!) unter den Teil-nehmern, dass sie ein gemeinsames Bedeutungssystem teilen“.

– „zunehmende Konvergenz hinsicht-lich der institutionellen Logiken, die die Aktivitäten eines Feldes anleiten oder bestimmen“

– „eine zunehmende Interaktion unter den Organisationen eines Feldes“

– „zunehmende Isomorphie struk-tureller Formen innerhalb von Populationen eines Feldes“

– „zunehmende strukturelle Äquiva-lenz organisationaler Sets innerhalb eines Feldes“

Für die historische Analyse der nationalen Vorgaben zu „Förderbedürftigkeit“ im Rahmen der Berücksichtigung von Diversität als Institution, die als solches seit 2006 regulativ verankert ist, liegt der Fokus auf dem Schulsystem und der zweiten Dimension nach Scott (1994, in: Becker-Ritterspach & Becker-Becker-Ritterspach, 2006, 130) (s. Tabelle 2). Vor diesem Hintergrund interes-siert insbesondere das Zustandekommen dieser Regulative als Prozess mit Anknüpfungspunk-ten an diversen Diskursen, die Veränderung des Begriffes im Laufe der Zeit sowie der Einfluss der Herrschaftsstruktur des Staates auf das Schulsystem. Dieser Prozess lässt sich in Spanien aufgrund der relativ jungen Demokratie und der damit verbundenen rechtlichen Veränderung gut nachvollziehen.

Das dafür einzugrenzende organisationale Feld im Sinne der Definition thematischer Anknüp-fungspunkte an das Verständnis von „Förderbedürftigkeit“ im Schulsystem sowie der Analyse von Akteur*innen und Akteursgruppen – damit verbunden auch von weiteren Organisationen, die sich in den Diskurs mit einbringen – dient der Eingrenzung der Studie und der Definition eines konkreten Fokus für das weitere Vorgehen. Nach Scott (2014) kann die Eingrenzung eines organisationalen Feldes einer Untersuchung, das Setzen von Grenzen anhand unterschiedlicher Indikatoren geschehen.

Insgesamt sind räumliche und zeitliche Grenzen zu ziehen, d.h. aufgrund der Mehrebenenana-lyse dieser Untersuchung und des Einbezugs individueller, kollektiver, organisationaler, regi-onaler und natiregi-onaler Verständnisse von „Förderbedürftigkeit“ wird davon ausgegangen, dass

„kulturelle Marker“ (ebd., 232) bestehen, die ein gemeinsames kulturelles Verständnis von „För-derbedürftigkeit“ ermöglichen. Dabei wird von kulturellen Gemeinsamkeiten wie der Sprache und der gemeinsamen Erfahrung der Diktatur als Herrschaftssystem ausgegangen, um eine

Ver-allgemeinerung der regionalen und schulspezifischen Ergebnisse punktuell auf den National-staat Spanien übertragen zu können. Durch die Kombination von regulativen und normativen Vorgaben wird der Diskurs um Bildung und Chancengerechtigkeit allgemein und definierte

„Förderbedürftigkeit“ der Schüler*innen, um diese zu erreichen, im Speziellen gesteuert. Diese regulierte Kontrolle über Aktivitäten und Akteur*innen bzgl. eines Gegenstandes nennt Scott

„governance systems“ (ebd., 231), die er den bereits genannten relationalen Systemen zuordnet und die von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung sind. Dabei spielt nicht nur der Staat als Akteur eine Rolle, sondern auch jegliche Systeme und Strukturen sind relevant, die diese Regulierungen unterstützen, „whether by regimes created by mutual agreement, by legitimate hierarchical authority or by non-legitimate coercive means“

(Scott, Ruef, Mendel & Caronna, 2000, 21 in: Scott, 2014, 231). Dieser kulturelle und relatio-nale Aspekt organisatiorelatio-naler Felder löste die tatsächlich vorhandene räumliche Dimension ab, die in einer globalisierten und vernetzten Welt nicht mehr haltbar war (Scott, 2014).

Die Eingrenzung des organisationalen Feldes durch zeitliche Indikatoren spielt bzgl. des institu-tionellen Wandels eine zentrale Rolle, da die Geschwindigkeit des Wandels je nach Dimension variiert. So beschreibt Scott (2014) regulative Elemente als sich schnell wandelnde Dimensi-onen vs. Routinen und Gewohnheiten als eher langsam, über Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhun-derte hinweg. Dies macht deutlich, dass bzgl. des Verständnisses von „Förderbedürftigkeit“ die Betrachtung und Analyse eines möglichst langen Zeitraumes sinnvoll ist. Das ursprüngliche Vorhaben, die zeitliche Begrenzung des organisationalen Feldes des Verständnisses von „För-derbedürftigkeit“ im Rahmen von Diversität auf den Zeitpunkt der Demokratisierung des Bil-dungssystems zu legen, erwies sich aufgrund der Relevanz nationaler Ereignisse in den 1960er-Jahren für die Entwicklung des spanischen Bildungssystems als Gesamtes als nicht zielführend.

Zusammenfassend bleibt für die Definition und Eingrenzung des organisationalen Feldes der

„Förderbedürftigkeit“ festzuhalten, dass die zeitliche Eingrenzung sich zwar aus dem Wechsel des politischen Systems von der Diktatur zur Demokratie ab 1975 ergibt, die ausschlaggebenden Entwicklungen in den 1960ern zur Erklärung jedoch mitberücksichtigt werden müssen. Die inhaltlichen Grenzen dieser Studie werden anhand des Gegenstands der „Förderbedürftigkeit“

im Rahmen des Verständnisses von Diversität festgelegt (s. Kapitel 5.3.1). Im Zentrum steht das Verständnis von Diversität im Sinne der regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Dimensionen mit Fokus auf die „Förderbedürftigkeit“ von Schüler*innen.

Zudem ist eine tiefer gehende Interpretation der Sinnkonstruktionen einzelner Akteur*innen auf der Mikroebene in den Schulen nur möglich, wenn der langfristige kulturelle Kontext be-kannt ist und in der Analyse mitberücksichtigt wird.12

Das Verständnis von Steuerung bei Scott (2014, 231) als Kombination aus „regulatory and nor-mative controls over activities and actors within the field“ (ebd.) ist für die empirische Analyse noch abstrakt definiert. Es erfordert ergänzend einen Ansatz, der den Fokus auf unterschied-liche Mechanismen der Steuerung auch auf Mikroebene ermöglicht, wie bei dem in der päd-agogischen Forschung zunehmend eingesetzten Ansatz der Educational Governance. Zudem verweist Scott auf die Bedeutung von „multi-level and recursive models“ (s. hierzu u.a. Becker-Ritterspach & Becker-Becker-Ritterspach, 2006, 136), was die Grundlage der Forschung zur Steuerung

12 S. Tabelle 2, Punkt 1, zu Unterschieden hinsichtlich der Dimensionen organisationaler Felder bzgl. der Verbindung zu Enge der Verknüpfung eines Vorstellungssystems mit Aktivitäten und anderen Systemen – vertikale Tiefe (Be-deutung für „Identität eines Akteurs“)

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Institutioneller Wandel

des Bildungssystems darstellt (s. hierzu u.a. Maag Merki, Langer & Altrichter, 2014; Hermstein, Berkemeyer & Manitius, 2016; Rürup, 2011; Powell & Merz-Atalik, 2018)

Die Eingrenzung der in dieser Arbeit verwendeten theoretischen Konzepte ist Gegenstand des folgenden Kapitels, in dem es um institutionellen Wandel geht, der es ermöglicht, die histo-rische Entwicklung des Verständnisses von „Förderbedürftigkeit“ bestimmter Gruppen von Schüler*innen zu rekonstruieren.