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Ordinariate der Philosophie in Heidelberg

Im Dokument UND DIE PSYCHOLOGIE (Seite 179-187)

Die personelle Situation des Faches Philosophie an der Heidelberger Uni-versität um die Jahrhundertwende war etwas ungewöhnlich und bedarf der Erläuterung, um den Hintergrund aufzuhellen, vor dem die Lehre der Psychologie in Windelbands Zeit ablief.

Die dominierende Figur der Heidelberger Philosophie war einige Jahrzehnte lang Kuno Fischer (1824–1907). Er hatte sich im Oktober 1850 in Heidelberg für Philosophie habilitiert. Im Juli 1853 wurde ihm durch ein ministerielles Reskript die venia legendi entzogen, ohne dass Gründe vorgebracht wurden. Hermann Glockner (1896–1979), ein Schüler des Windelband-Habilitatus Paul Hensel, fasste den Hintergrund mit den Worten «theologische Denunziation» (Glockner 1969, S.  157) zusam-men. Es ist anzunehmen, dass Fischers angeblicher Hang zum «moder-nen Pantheismus» (Schenkel 1854, S.  4), damals auch als Spinozismus bezeichnet, der Grund für den Entzug der Lehrerlaubnis war. Als Privat-gelehrter verblieb er in Heidelberg und publizierte intensiv. Zum Win-tersemester 1856/57 erhielt er einen Ruf nach Jena, den er gern annahm.

Darauf erteilte ihm die Heidelberger Universität 1857 einen Ruf, den er allerdings ebenso wie einen zweiten Heidelberger Ruf im Jahre 1858 aus Dankbarkeit gegenüber der Universität Jena ablehnte. Zu seinen Stu-denten in Jena gehörte Windelband, der ab Sommersemester 1866 drei Semester dort studierte. Derselbe war es, der zum fünfzigjährigen Jubi-läum der Doktorpromotion Fischers 1897 einen würdigenden Artikel in den Kantstudien beitrug (Windelband 1898).

1872 bemühte sich Heidelberg zum dritten Mal um Fischer und konnte erreichen, dass er ab Juli 1872 als Nachfolger Eduard Zellers (1814–1908) einen Lehrstuhl der Philosophie übernahm. 1875 erhielt der mittlerweile hochangesehene Fischer einen Ruf nach Leipzig, den abzulehnen er sich verpflichtet fühlte, weil er das Amt des Prorektors der Universität Hei-delberg innehatte. Da der jeweilige Großherzog von Baden den Titels des Rektors der Universität führte, war Fischer als Prorektor de facto Rektor und hielt es für schlechten Stil, als Träger dieses Amtes die Universität zu verlassen.

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Diese für Leipzig enttäuschende Ablehnung führte übrigens dazu, dass man sich dort entschied, statt nur einer Berühmtheit wie Fischer lieber zwei weniger berühmte Nachwuchskräfte mit maßvolleren Ent-lohnungserwartungen zu berufen, nämlich Wilhelm Wundt und Max Heinze. Windelband erlebte 1875 beide Neulinge gerade noch in Leipzig, bevor er selbst den von Wundt freigemachten Lehrstuhl in Zürich bezog und aus diesen verwickelten Zusammenhängen seine eigene Universi-tätskarriere als Ordinarius der Philosophie begann.

Nachdem Fischer 1872 nach Heidelberg zurückgekehrt war, blieb er dort bis an sein Lebensende als Ordinarius der Philosophie. An der Heidelberger Universität gab es zu dieser Zeit einen zweiten Lehrstuhl für Philosophie. Diesen hatte Carl Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg (1801–1877) inne. Reichlin-Reichlin-Meldegg94, ein geweihter Priester, war zunächst Mitglied der Theologischen Fakultät in Freiburg, seit 1830 als Ordinarius. Am 2. Februar 1832 wurde er dort in die Philosophische Fakultät als Ordinarius für Historische Hilfswissenschaften umgesetzt.

Am 27. Februar 1832 trat er von der katholischen zur protestantischen Konfession über und wurde deswegen aus dem Lehrköper der Univer-sität Freiburg ausgeschlossen. Er bekam, protegiert95 von dem einfluss-reichen protestantischen Heidelberger Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), die Erlaubnis, in Heidelberg zu lehren, und wurde dort schließlich 1840 Ordinarius für Philosophie. Er verstarb 1877.

Dass Heidelberg in Reichlin-Meldeggs Zeit zwei Lehrstühle für Philoso-phie besaß, war mithin nicht das Resultat ministerieller Stellenplanung, sondern Ergebnis der fürsorglichen Versorgung eines Konvertiten im Staatsdienst unter einem protestantischen Herrscherhaus.

Dieser andere Lehrstuhl für Philosophie blieb nach dem Ableben Reichlin-Meldeggs jahrzehntelang unbesetzt, und zwar «mit stillschwei-gender Zustimmung von Universität und Ministerium», so dass «der berühmte Kuno Fischer alleiniger Ordinarius» der Philosophie blieb, wie Reinhard Riese (1977, S. 111) etwas süffisant bemerkt, nicht bedenkend, dass das Ministerium dank dieser Zustimmung auch die Ausgaben für das ungeplante Ordinariat einsparte, mit dem Reichlin-Meldegg wie auch dem konfessionell gemischten Großherzogtum aus einer Verlegenheit

94 Wundt (1920b, S. 240) schreibt in den Erinnerungen an seine Heidelberger Zeit, Eduard Zeller, seit 1862 Ordinarius in Heidelberg, sei Nachfolger Reichlin-Meldeggs gewesen. Träfe das zu, wäre Fischer Nachfolger dieses Nachfolgers gewesen. Doch Wundt irrt. Beide, Zeller und Reichlin-Meldegg, boten neben einander Lehrveranstaltungen an. Auch zu Fischers Zeit in Heidelberg gab es noch Lehrangebote Reichlin-Meldeggs.

95 Vgl. Wundt 1920b, S. 239.

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geholfen worden war. Dem Ministerium in Karlsruhe gegenüber wurde zu Windelbands Zeit eine allmählich fällige Besetzung dieses papiernen Lehrstuhls gelegentlich als Argument für Wünsche oder Forderungen nach Erweiterung der philosophischen Lehre angeführt. Wie zu zeigen sein wird, war das Ministerium dem Argument eines solchen Anspruchs gegenüber nach Windelbands Eintreffen in Heidelberg alles andere als aufgeschlossen. Es gab freilich Gemunkel, dass Windelband nur zu gern wie zuvor schon sein Lehrer Fischer den monarchischen Kathederfürsten ohne Konkurrenz darstellte.

Die Fama eines normalen zweiten, mit ministerieller Rücksicht auf Fischer unbesetzten Lehrstuhls der Philosophie zu Heidelberg hielt sich über die Jahrzehnte hartnäckig. Selbst außerhalb Heidelbergs gedieh sie.

So schrieb Georg Simmel (1858–1918), damals noch Privatdozent für Phi-losophie an der Berliner Universität, am 24. Mai 1896, einen Monat vor Fischers zweiundsiebzigstem Geburtstag, seinem Freund Georg Jellinek (1851–1911), Ordinarius für Allgemeines Staatsrecht und Völkerrecht in Heidelberg, von seiner Wunschphantasie:

Als Ideal meiner Laufbahn, in äußerlicher Hinsicht, schwebt mir immer vor, […] später einmal Ordinarius in Heidelberg zu wer-den. K[uno] Fischer kann doch nicht ewig leben, u. nach seinem Abtreten werden ja zwei Lehrstühle frei. (Simmel 2005, S. 208) Nimmt man Simmel wörtlich, so entwarf er hier das Bild eines Großor-dinarius, der gleich zwei Lehrstühle besetzte oder zumindest blockierte.

Vielleicht wollte Simmel auch nur sagen, es werden zwei Lehrstühle frei sein, der vermeintlich freie Reichlin-Meldeggs und der Fischers, dem auch nicht ewiges Leben zuteilwerden könne. Ein Dutzend Jahre später wird es so scheinen, als stünde Simmel kurz vor der Verwirklichung seines Phantasiegebildes, hätte nicht Windelband, dem Max Weber bei diesem Anlass nachsagte, er wolle alleiniger Ordinarius der Philosophie bleiben, die Fäden im Ministerium gezogen. Davon später. Zunächst zurück zu Fischers Zeiten und der Berufung Windelbands nach Heidelberg.

Der Erweiterung des Heidelberger Angebots philosophischer The-men hatten unter Fischers Alleinherrschaft fortan außerordentliche Pro-fessoren oder Privatdozenten zu dienen, so etwa der bereits erwähnte nichtetatmäßige außerordentliche Philosophieprofessor Paul Hensel, der sich 1888 bei Windelband in Straßburg habilitiert hatte und 1898 nach Heidelberg gekommen war. Hensel fasste die Heidelberger philosophi-sche Lehrsituation ironisch auf und soll, als er einmal gefragt wurde,

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«wie er in Heidelberg mit seinem großen Oberkollegen Kuno Fischer»

auskomme, geantwortet haben: «nun, […] der macht die große Oper, ich besorge daneben die Kammermusik». So jedenfalls überlieferte es der Historiker Friedrich Meinecke (1949, S. 50). Zu dieser Kammermu-sik gehörte in Heidelberg die Psychologie, die für das Staatsexamen der Lehramtskandidaten unabdingbar war, die vorzutragen jedoch Fischer sich verweigerte.

Hensel erhielt einen Ruf auf die ordentliche Professur für systemati-sche Philosophie in Erlangen und verließ Heidelberg nach dem Winter-semester 1901/02. Die vorschriftsgemäße Lehre des Faches Philosophie einschließlich der Psychologie geriet in erhebliche Gefahr, denn Fischer war mittlerweile von Alter und Krankheit gezeichnet. Über einen Nach-folger Hensels in Heidelberg wurde gerätselt. William Stern (1871–1938), damals noch Privatdozent in Breslau, schrieb seinem Freund Jonas Cohn, dem 1897 bei Rickert in Freiburg für Philosophie habilitierter Privatdo-zenten, am 8. Mai 1902:

Nebenbei bemerkt: hast Du nicht Aussicht, Hensel’s Nachfolger in Heidelberg zu werden? Oder bist auch Du noch Kuno Fischer zu sehr Experimentalpsychologe, gegen welchen Menschenschlag er eine – mir nicht ganz unverständliche – Abneigung haben soll.

(Stern in Lück & Löwisch 1994, S. 48) Jonas Cohn (1869–1947) arbeitete nach seiner Promotion 1892 in Leipzig bis 1894 am Institut für experimentelle Psychologie des Wilhelm Wundt.

Er habilitierte sich 1887 bei Rickert in Freiburg für Philosophie und wurde 1901 zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor sowie zum Mitdirektor des Psychologischen Laboratoriums in Freiburg ernannt.

Dessen Direktor war der Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie, Hein-rich Rickert. Rickert hatte sich 1891 bei Alois Riehl in Freiburg habilitiert und war 1896 als dessen Nachfolger auf diesen Lehrstuhl berufen wor-den. Das Freiburger Laboratorium hatte Hugo Münsterberg als Privat-dozent aus eigenen Mittel gegründet. Nach seinem Weggang nach Har-vard wurde Alois Riehl zu dessen überwiegend nominellem96 Direktor

96 In welchem Ausmaß nominell dieses Amt war, zeigt sich daran, dass nach Rickerts Weggang nach Heidelberg Edmund Husserl 1916 und später, von 1928 bis 1933, Martin Heidegger mit dieser Aufgabe betraut waren. Cohn blieb bis 1933 der Mitdirektor. Das Labor war kärglich, denn nach Münsterbergs definitivem Weggang nach Harvard 1897 wurden die meisten Apparate dem University College in London verkauft (anon. 1897).

Es war in keiner Weise eine Konkurrenz zu dem Freiburger Physiologischen Institut unter

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ernannt, und nach Riehls Weggang nach Kiel erbte Rickert neben dem Lehrstuhl auch diese Aufgabe, die er praktisch, wenn auch nicht offiziell, an Cohn nach dessen Ernennung zum außerordentlichen Professor 1901 abtrat. Die von Stern angesprochenen Aussichten auf eine Nachfolge Hensels bestanden nicht. Ob Cohns Kodirektion des Freiburger Psycho-logischen Laboratoriums überhaupt in Heidelberg bekannt war und dort Bedenken erregt hatte, ist nicht belegt.

Kuno Fischer dachte zur Verbesserung des Heidelberger Philosophie-unterrichts in eine andere Richtung. Er stellte am 13. Juli 1902 kurz vor seinem achtundsiebzigsten Geburtstag einen Antrag an die Philosophi-sche Fakultät des Inhalts,

daß die zweite, seit sechsundzwanzig Jahren unbesetzt gebliebene Professur der Philosophie nunmehr wieder besetzt werde, und zwar erlaube ich mir, den ord. Professor der Philosophie an der Kaiser Wilhelms Universität zu Strassburg i. E., Herrn Dr. Wilh.

Windelband zu Berufung in die genannte Stelle vorzuschlagen,

[…]. (UAH RA 6859).

Am 19. Juli 1902 entschied sich die Fakultät einstimmig dafür, Windel-band auf das zweite, seit Reichlin-Meldeggs Tod unbesetzte Ordinariat zu berufen. Die Fakultät betrachtete somit Fischers akademischen Nepo-tismus als gebräuchliches Vorgehen. Am 21. Juli sandte sie die entspre-chende Eingabe für das Ministerium an den Engeren Senat. Der wie-derum reichte diese Eingabe am 23. Juli an das Ministerium für Justiz, Kultus und Unterricht nach Karlsruhe. Der Text der Eingabe des Senats, der Fischers eigenen Wortlaut, wenn auch nicht immer buchstaben-getreu, wiedergibt, begehrte ein exzeptionelles Berufungsverfahren:

Unter dem 13. Juli 1902 hat seine Excellenz der Wirkliche Gehei-merat Professor Dr. K. Fischer bei unserer Facultät den folgenden Antrag gestellt: –

«Da ich bei meinem hohen Alter meinem hiesigen Lehr-amt, welches ich ein Menschenalter hindurch ununterbrochen (vom 1. October 1872 bis 1. October 1902) ausgeübt habe, nicht mehr, wie bisher, vorzustehen vermag, so beantrage ich, dass die zweite, seit sechsundzwanzig Jahren unbesetzt gebliebene

dem sinnesphysiologisch und -psychologisch interessierten Johannes v. Kries. Siehe auch Fahrenberg & Stegie 1998.

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ordentliche Professur der Philosophie nunmehr wiederbesetzt werde, und zwar erlaube ich mir, den ordentlichen Professor der Philosophie an der Kaiser Wilhelms Universität zu Strass-burg i. E., Herrn Dr. Wilhelm Windelband zu Berufung in die genannte Stelle vorzuschlagen.

Da ich voraussetzen darf, dass Herr Professor W. Win-delband in Ansehung seines Namens, seiner Bedeutung und Wirksamkeit Ihnen wohlbekannt ist, so enthalte ich mich aller weiteren Charakteristik.

Ich nenne den selben, wie er es verdient, primo und unico loco

Die Fakultät hat in ihrer Sitzung vom 19. Juli einstimmig und ohne Debatte beschlossen, dem Antrag ihres Seniors beizutreten in der Überzeugung, dass Professor Windelband so hoch über Allen, die irgend in Betracht kommen könnten, steht, dass sie dringend wün-schen muss, ihn für unsere Universität zu gewinnen. Die Facultät ist um so lebhafter dafür eingetreten, weil sie die bestimmte Hoff-nung hat, dass grade durch die Berufung von Professor Windel-band auch die bewährte Kraft ihres Seniors noch möglichst lange der Heidelberger Hochschule erhalten bleiben wird.

Bezold

d. Z. Decan (GLA 235/3134) Am 16. November 1902 geruhte Großherzog Friedrich I, Windelband zu berufen, und am 17. November erfolgte die Ernennung durch das Minis-terium (UAH RA 6859). Die Höhe des Ansehens, auf der Fischer stand, lässt sich aus der Geschwindigkeit ersehen, mit der sein Antrag ohne jede Diskussion um einen sonst üblichen Dreiervorschlag die behördli-chen Stationen durcheilte.

Am 8. April 1903 vermeldete der Engere Senat dem Ministerium Win-delbands Dienstantritt zum 1. April 1903. Tatsächlich traf Windelband am 6. April 1903 in Heidelberg ein und ließ sich mit nunmehr fünf Kin-dern im Haus Landfriedstraße 14 nieder.

Gelegentlich ist zu lesen, Windelband habe Fischers Ordinariat erhal-ten (Wolgast 1985, S. 27) oder sei Fischers Nachfolger (Lehmann 1953, S. 71), Amtsnachfolger (Falkenheim 1909, S. 270), sogar «offizieller Nach-folger» (Härpfer 2014, S. 156; S. 187). Das alles trifft nicht zu. Wenn schon nach einem Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, den Windelband bezog, Ausschau gehalten wird, also auf der «seit sechsundzwanzig Jah-ren unbesetzt gebliebenen Professur der Philosophie», dann kommt nur

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Reichlin-Meldegg in Frage. Heidelberg hatte wieder zwei Ordinarien der Philosophie, wenn auch nur für kurze Zeit. Wie 1840 waren es beson-dere Umstände, die zu der Verdoppelung des philosophischen Lehrstuhls führten, diesmal Hensels Abgang nach Erlangen und Fischers angegriffe-ner Gesundheitszustand.

In Heidelberg war wie schon zuvor in Freiburg und in Straßburg die Psychologie ein Prüfungsfach des Staatsexamens für das Lehramt. Sie hatte folglich in angemessener Häufigkeit durch einen Dozenten der Philosophie vorgetragen zu werden. Ordinarius Fischer trat durch Vor-lesungen zu diesem Thema nicht hervor. Offensichtlich delegierte er es an außerordentliche Professoren, zunächst an Otto Caspari (1841–1917), der bis 1895 an der Heidelberger Universität lehrte, dann an Paul Hensel, der 1898 an die Heidelberger Universität kam. In den Jahren dazwischen gab es kein Psychologieangebot, was wohl manchen Lehramtsstuden-ten beunruhigte. Hensel holte den versäumLehramtsstuden-ten Stoff nach und offerierte in einem dreisemestrigen Turnus entsprechende Vorlesungen im Win-tersemester 1898/99, im Sommersemester 1900 und im WinWin-tersemester 1901/02. Mit seinem Weggang entfielen wieder die Psychologievorle-sungen. Windelband hatte nach seiner Berufung einzuspringen. Er hatte Routine im Vortragen dieses Themas und offerierte es bereits im Winter-semester 1903/04.

Nach Windelbands Eintreffen trat Fischer in den Hintergrund. Im September 1903 starb seine zweite Frau. Das erschütterte ihn sehr, und am 12. November 1903 gewährte das Ministerium ihm Urlaub für das kommende Wintersemester 1903/04. Für das Sommersemester 1904 bot Fischer nur eine vierstündige Vorlesung an. Für das Wintersemester 1904/05 vermerkt das Vorlesungsverzeichnis für Fischer: «beurlaubt»

und für die nächsten drei Semester einfach: «Liest nicht.» Es setzten «die langen Jahre des Siechtums» ein, wie es seine Enkelin, Marie Clauss, nannte (vgl. Glockner 1969, S. 162). Am 17. August 1906 bewilligte ihm das Ministerium auf seinen eigenen Antrag wegen leidender Gesundheit den Ruhestand zum 1. Oktober 1906. Es sei bemerkt, dass Emeritierungen damals in Baden nur auf eigenen Antrag des Ordinarius, nicht etwa aus kalendarischen Gegebenheiten erfolgten.97

97 Paul Honigsheim, damals noch Student und später Doktorand Max Webers, formu-liert die Situation folgendermaßen: «Damals existierte nun aber noch keine rechtliche Verpflichtung, sich nach Erreichen der Altersgrenze emeritieren zu lassen. Und wie das Mädchen verzweifelt auf den Freiersmann harrte, so warteten jüngere Dozenten despe-rat auf einen Ruf auf eine ordentliche Professur. In beiden Fällen aber blieb der Ersehnte nur allzuoft aus» (Honigsheim 1963, S. 266). Bedingung für den Ruf war offensichtlich das Siechtum oder Tod eines Ordinarius.

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Vorstellbar ist somit, dass das ungewöhnlich schnelle und ungewöhn-lich vereinfachte Verfahren, mit dem Windelband für Heidelberg gewon-nen und berufen wurde – der Großherzog hatte zusätzlich zu exzellenter Besoldung den Titel «Geheimer Rat II. Klasse» für Windelband draufge-legt – nicht nur das hohe Ansehen Fischers abbildet, sondern auch die Einsicht der Fakultät, des Engeren Senats und des Ministeriums, dass bei Fischers schwächlicher Gesundheit ohne eine schnelle Berufung Windel-bands die Ausbildung der Gymnasiallehrer in Heidelberg zum Stillstand gekommen wäre. Das hätte geheißen, dass der Nachwuchs protestanti-scher Gymnasiallehrer in Baden ausgeblieben wäre.

Dass Fischer kaum mehr im Stande war, seine Vorlesungen zu halten, sprach sich herum. Georg Simmel, mittlerweile avanciert zum außer-ordentlichen Professor der Philosophie in Berlin und in Ausschau nach einem Ruf offensichtlich die Heidelberger Szenerie verfolgend, verriet seinem Freund Georg Jellinek schon am 11. Mai 1904, wohl nur zufällig am Geburtstag Windelbands, das neueste Gerücht über Kuno Fischers noch immer nicht freien Lehrstuhl:

Auf dem Psychologenkongreß in Gießen ist das Gerücht verbrei-tet worden, dass Windelband auf die künftig zu besetzende Stelle in Heidelberg Paul Hensel rufen wollte […].

(Simmel 2005, S. 483) Die ehemalige Stelle Reichlin-Meldeggs hatte jetzt Windelband besetzt.

Mit der «künftig» zu besetzenden meinte Simmel offenbar Fischers Stelle.

Für Simmels Ideal wäre es fatal, sollte der legendäre Lehrstuhl für Philo-sophie, der mit dem absehbaren Ableben Fischers frei werden musste, an den zwei Jahre jüngeren Hensel gehen.

Das Gerücht stammte vom ersten Kongress für experimentelle Psycho-logie, der im April 1904 in Gießen stattfand und auf dem die Gesellschaft für experimentelle Psychologie gegründet wurde. Simmel nahm an diesem Kongress zwar nicht teil, es waren jedoch mehrere Berliner dort anwe-send, von denen Simmel diese ihn beunruhigende Munkelei hatte ver-nehmen können.

Soweit zunächst zu den Lehrstühlen der Philosophie in Heidelberg und zur Verteilung der Verpflichtung, Psychologie zu lehren.

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