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Eine Unterscheidung zweier Psychologien

Im Dokument UND DIE PSYCHOLOGIE (Seite 191-195)

Neben seiner vierstündigen Vorlesung Psychologie hielt Windelband im Wintersemester 1903/1904 noch die einstündige Vorlesung102 Ueber Wil-lensfreiheit, die er bereits zweimal in Straßburg vorgetragen hatte. Diese Vorlesung publizierte er anschließend unter demselben Titel (Windel-band 1904a). Eine zweite, unveränderte Auflage erschien im folgenden Jahr (Windelband 1905a). Gleich in seiner ersten Vorlesung zur Willens-freiheit nimmt er eine neue Unterscheidung zwischen zwei Arten Psy-chologie vor, zwischen deskriptiver und theoretischer PsyPsy-chologie:

Diesen schwierigen Fragen soll, wie gesagt, hier nicht vorge-griffen werden; sie gehören nicht der deskriptiven, sondern der theo retischen Psychologie an, und ihre Lösung ist, wie wir später sehen werden, von allgemeinen methodischen und erkenntnisthe-oretischen Gesichtspunkten abhängig. (Windelband 1904a, S. 14) Was mit dieser Unterscheidung geschieden werden soll, wird nicht erklärt. Vermutlich geht es um den einfachsten Sinn der beiden Beiwör-ter. ‹Deskriptiv› ist gleichbedeutend mit ‹beschreibend›, und es muss nicht notwendig ein Unterschied zwischen ‹erklärend› und ‹theoretisch›

vorausgesetzt werden. Windelband hatte früher schon die empirische Psychologie bezeichnet als eine «theils beschreibende, theils erklärende Wissenschaft» (Windelband 1884b, S.  39). Ob Windelband mit neuen Wörtern an ältere Aussagen anknüpft oder ob er Neues sagen will, ist kaum festzustellen. Auffällig ist nur, dass er die beiden Wörter, mit denen Dilthey eine Zweiheit der Psychologien bezeichnete, nämlich ‹beschrei-bend› und ‹erklärend›, vermeidet, doch Wörter gleicher oder sehr ähnli-cher Bedeutung verwendet.

Den Ausdruck «theoretische Psychologie» verwendete Windelband auch später in seinen Prinzipien der Logik (Windelband 1912, S. 7), dort

102 Zu seinen Hörern gehörte der im selben Semester in der Juristischen Fakultät habili-tierte Gustav Radbruch (1991, S. 37f.).

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ebenfalls ohne nähere Erläuterung. Die damalige psychologische Fachli-teratur hilft hier nicht weiter, denn dort erscheint der Ausdruck «theo-retische Psychologie» sehr selten, gelegentlich wird sogar gefragt, ob es eine solche überhaupt schon gebe.

Da liegt es nahe, zur Klärung zu prüfen, ob die hier verwendeten Aus-drücke bereits von Windelbands Lehrer Lotze verwendet wurden. Dort kann man fündig werden. Nachdem Lotze am 1. Juli 1881 in Berlin ver-starb, gab sein Sohn Robert Lotze Vorlesungsdiktate seines Vaters heraus, da er sich verpflichtet fühlte, den Hörern der Vorlesung Psychologie nicht nur «den rückständig gebliebenen Teil» dieser Vorlesung, sondern die ganze Vorlesung zugänglich zu machen. Er benutzte dazu eigene Notizen der Lotze’schen Vorlesung des Wintersemesters 1880/1881 in Göttingen.

Man kann zwar mutmaßen, dass diese Vorlesung nicht mit derjenigen völlig übereinstimmt, die Windelband etwa zwölf Jahre zuvor gehört haben könnte, doch eine mehr als zufällige Ähnlichkeit ist anzunehmen.

Außerdem wurden diese posthumen Diktatpublikationen (Lotze 1881) in so rascher Folge immer wieder aufgelegt und verbreitet, dass davon aus-zugehen ist, dass auch Windelband sie besessen und benutzt hat.

In Lotzes Einleitung der Vorlesung trifft man auf eine grobe Gliede-rung der Psychologie in drei Teile, die durch Beiwörter gekennzeichnet werden. Zunächst findet sich die «descriptive oder empirische Psycho-logie». Sie umfasst die «wohlbekannten Thatsachen», also «Empfindun-gen Vorstellun«Empfindun-gen Gefühle und Strebun«Empfindun-gen» und deren Verknüpfun«Empfindun-gen.

Dann gibt es die «erklärende, mechanische oder metaphysische Psy-chologie». Sie befasst sich mit der «Natur des Subjects dieses ganzen Lebens» und mit den «wirksamen Kräften und Bedingungen, […] durch welche das Ganze dieses Lebens hervorgebracht» wird. Schließlich gibt es drittens noch die «ideale oder speculative Psychologie», die «den ver-nünftigen Sinn […] oder den Beruf, den das Seelenleben überhaupt im Ganzen der Welt zu erfüllen hat», behandeln sollte (Lotze 1881, S. VII).

Das wenig Erfreuliche dieser Enumeration liegt nicht nur im mehr-fachen Auftreten der Konjunktion ‹oder›, deretwegen die verwendeten Attribute austauschbar erscheinen, obgleich ihr Sinn divergiert. Es stört auch, dass diese Ausdrücke im weiteren Text weder vorkommen noch gar erläutert werden. Dem ist anzufügen, dass in der Inhaltsübersicht der Zweite Theil, «Von der Seele», in Klammern die Ergänzung erhält:

«Theoretische Psychologie» (Lotze 1881, S. V). Was dort verhandelt wird, umfasst grosso modo dasjenige, was als «erklärende, mechanische oder metaphysische Psychologie» und als «ideale oder speculative Psycholo-gie» in der Einleitung dargelegt wurde.

Eine Unterscheidung zweiter Psychologien — 191

In Lotzes psychologischem Hauptwerk, der Medicinische[n] Psycholo-gie (Lotze 1852), ist keine Einteilung der Psychologie mit diesen Bezeich-nungen anzutreffen. Dort ist ein einziges Mal von der «speculativen Psychologie» (S. V) die Rede, einmal von «metaphysischer Psychologie»

(S. 486), dreimal von «philosophischer Psychologie» (S. 474, S. 495, S. 506).

Es ist somit gestattet zu argwöhnen, dass der Sohn Lotzes als Herausge-ber der Vorlesungsdiktate ergänzend in den Text eingriff in der Absicht, den Studenten die Sache fasslicher zu machen. Doch auch im Falle, dass Lotze senior die Ausdrücke ‹deskriptive Psychologie› und ‹theoretische Psychologie› nicht in seiner Vorlesung verwendete, darf angenommen werden, dass Windelband sie aus diesen Diktaten übernommen hat. Zu vermuten, es gehe Windelband um mehr als den einfachsten Sinn der beiden Beiwörter für Psychologie, die er verwendet, also ‹deskriptiv›

und ‹theoretisch›, wäre ohne Beleg. Eine Erhellung ihrer Bedeutung ist auch bei Lotze nicht anzutreffen. Auch dass Windelband mit der Unter-scheidung zwischen deskriptiver und theoretischer Psychologie etwa den Unterschied zwischen idiographischer und nomothetischer Psycho-logie andeuten will, muss Mutmaßung bleiben.

Der amerikanische Psychologe Willard Clark Gore ist sich sicher, Windelbands Ausdruck ‹theoretische Psychologie› in den Prinzipien der Logik (Windelband 1912) verstanden zu haben. Nachdem er bereits die deutsche Originalausgabe besprochen hatte (Gore 1913, S. 350), sagte er in seiner ausführlicheren Besprechung der englischen Übersetzung der Prinzipien (Windelband 1913a):

By theoretical psychology Windelband clearly means that type of psychogenetic inquiry which aims to analyze the always com-plex content of conscious experience into its originally simple

elements. (Gore 1914, S. 109)

Falls Gore recht hatte, dann meinte Windelband die 1912 schon etwas überholt wirkende Elementenpsychologie des 19. Jahrhundert, die er in seinen frühen Schriften vertrat. Auch in den im Anhang wiedergegebe-nen Vorlesungsmitschriften wird sie dargestellt. Die Bedeutung der bei-den mit bei-den Attributen versehenen Psychologien erschließt sich aller-dings auch durch Gores Deutung nicht recht.

Doch weiter in den Vorlesungen zur Willensfreiheit. Zur Lösung der Frage nach der Entstehung konstanter Gefühle und Willensrichtungen ver-folgte Windelband den Weg seiner früheren Darlegungen zum Thema und verwies den Leser vage ohne nähere Andeutungen nach «der Psychologie»:

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Den theoretischen Voraussetzungen und Leistungen der Psycho-logie nach müssen wir annehmen, daß alle Inhalte, die sich als Wertbestimmungen für Fühlen und Wollen im Wesen des Men-schen finden, durch den Lauf des Lebens in ihm hervorgerufen und festgewachsen sind. Wir können diesen Vorgang so häufig im einzelnen feststellen, daß wir prinzipiell an der Allgemeinheit seiner Geltung nicht zu zweifeln vermögen, und nach diesen Vor-aussetzungen würden wir in der Tat die Ursachen auch der kon-stanten Gefühle und Willensrichtungen des Menschen in seiner Entwicklung zu suchen haben. ‹Der Charakter des Menschen ist seine Geschichte.› (Windelband 1904a, S. 116) Der als Zitat gekennzeichnete, letzte Satz modifiziert, wie oben bereits erläutert, Goethe, der in Wilhelm Meisters Lehrjahren sagen lässt: «Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter.» (Goethe 1796, S. 67). Dies war eine damals gern vorgebrachte Sentenz, verbreitet sogar bis in die Niederungen der «Abteilung Feierabend» der Molkerei-Zeitung Berlin, Wochenschrift für Gewinnung, Verarbeitung und Verwertung der Milch, (1900, Jg. 10, Nr. 29, S.  353). Windelband war nicht der erste, der die Wörter etwas umstellte. Vor ihm tat das bereits in gleicher Weise der russische Psychiater und Wundt-Schüler Woldemar (=Wladimir) Fedoro-witsch von Tschisch (1855–1922) in den Westnik Psichologii (Jg. 7, Hft. 1, siehe Rothe 1891, S. 11*).

Windelbands Zweiteilung der Psychologie bleibt unklar. Ursachen seelischer Gegebenheiten in der «Entwicklung» zu suchen, mag sinnvoll sein, denn Ursachen pflegen vor ihren Folgen, also in der Vergangenheit, zu liegen. Doch bleibt der Hinweis auf die Entwicklung ein reichlich ver-schwommenes Rezept. Windelband verweilt hier wohl in der Art Psy-chologie, die er als Kunst auffasste, weniger in der Art, die Wissenschaft ist. Seine alte Forderung nach Klärung der Begriffe der Psychologie war, ist und bleibt weiterhin berechtigt. Hier verfehlte er eine Gelegenheit, dazu beizutragen.

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Windelbands Beitrag zur ersten Habilitation

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