• Keine Ergebnisse gefunden

3 Therapiekonzept: Neurologische Berufstherapie

3.3 Neurologische Berufstherapie: Indikationsgruppen

Während die zuvor beschriebenen therapeutischen Interventionsebenen erlauben, den inhaltlichen Behandlungszugang zu differenzieren, soll die Unterscheidung von Indikationsgruppen klären, für welche Patienten die ergänzende berufsorientierte Therapie geeignet ist.

Der Begriff Indikation bezieht dabei neben den neurologisch-neuropsychologischen Behandlungsgründen, dem Vorliegen einer neurologischen Erkrankung mit der Folge kognitiver Leistungsdefizite, vor allem sozialmedizinische Umstände und Besonderheiten mit ein, die im klinischen Alltag klar zu differenzieren sind und die rasche Zuführung des einzelnen Patienten zu dem für ihn angemessenen Therapieprogramm sicherstellen.

Die Indikationsgruppen werden zunächst nach dem arbeitsrechtlichen Status des einzelnen Patienten unterschieden: bei Beginn der Rehabilitationsbehandlung kann der Patient arbeitsunfähig, arbeitsfähig, arbeitslos oder berentet sein.

Dabei sind Kombinationen dieser Statusbeschreibungen möglich: ein arbeitsloser Patient kann grundsätzlich arbeitsfähig sein. Dies ist häufig bei einem länger zurückliegendem Hirnschädigungsereignis der Fall.

Bei arbeitslosen Patienten, die nach Verlust eines Arbeitsplatzes eine Hirn-schädigung erleiden, trifft in der Regel die Kombination "arbeitslos und arbeitsunfähig" zu.

Für das Konzept einer berufsorientierten Therapie, die auf den Wiedereintritt ins Arbeitsleben vorbereiten will, ist entscheidend, ob der beruflich zu rehabilitierende Patient über einen Arbeitsplatz verfügt oder nicht.

Die Vorbereitung auf die Rückkehr an einen Arbeitsplatz, dessen Anforderungsprofil und Arbeitsplatzbedingungen detailliert ermittelt werden können, kann wesentlich konkreter erfolgen als die Vorbereitung der Reintegration in ein mehr oder minder weit gefasstes Berufsfeld, dessen arbeitsplatzspezifische Anforderungen unbekannt sind. Daher wird bei der Einteilung in Indikationsgruppen über den arbeitsrechtlichen Status hinaus erhoben, ob der bisherige Arbeitsplatz des Patienten grundsätzlich erhalten ist oder inwieweit eine konkrete Arbeitsplatzperspektive besteht.

Neben dem Kriterium des trotz Erkrankung noch erhaltenen Arbeitsplatzes war weiter die Dauer der Erkrankung für die Einteilung der Indikationsgruppen entscheidend.

Der zeitliche Verlauf seit Erkrankungsbeginn ist nicht nur aus neuropsychologischer Perspektive sondern auch aus sozialmedizinischen Überlegungen heraus miteinzubeziehen:

Neuropsychologisch entscheidend sind die Annahmen und Kenntnisse über die Rückbildungsmuster kognitiver Leistungsdefizite. Die Phase spontaner Rückbildung wird abhängig von der Schädigungsätiologie auf einen Zeitraum zwischen einem halben Jahr (zerebrovaskuläre Ätiologien) und bis zu zwei Jahren (z.B. nach einem Schädelhirntrauma) angesetzt. In diesen Zeiträumen sollen geeignete Therapiemaßnahmen den Rückbildungsprozess unterstützen und günstig lenken.

Auch über diese Zeiträume hinaus können jedoch Therapien zu Verbesserungen kognitiver Leistung bzw. zu Anpassungen an die geminderte Leistungsfähigkeit führen, die gerade im beruflichen Kontext relevant sind.

Es gilt daher einerseits, die Phase der Spontanremission optimal zu nutzen und dem einzelnen Patienten soviel therapeutische Unterstützung zukommen zu lassen wie nur möglich. Eine zu frühe Rückführung in das Berufsleben mit seinen üblichen Belastungen kann dabei das Therapiepotential des Patienten beschneiden und die Chancen weitestgehender Wiederherstellung mindern.

Andererseits gilt es, eine zu zögerliche Vorgehensweise bei der beruflichen Re-orientierung zu vermeiden, die zu ungünstigen „Chronifizierungen“ im kognitiven Leistungsverhalten und der Selbsteinschätzung des Patienten führen können. So kann die Erfahrung anhaltender kognitiver Leistungsdefizite einzelne Patienten so weit verunsichern, dass ihnen unabhängig von der tatsächlichen funktionellen Relevanz ihrer kognitiven Beeinträchtigung eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit ausgeschlossen erscheint.

Sozialmedizinisch war es bislang* - und für die im Folgenden evaluierte Patienten-stichprobe - entscheidend, den gesetzlich festgelegten Zeitraum von 78 Wochen bzw. 18 Monaten zu berücksichtigen, in welchem sich der Patient maximal unter den besonderen Schutzbedingungen des Krankenstatus und des Krankengeldbezugs befinden kann.

An diesen Zeitraum gebunden war bislang die gesetzlich verankerte Möglichkeit, eine Maßnahme zur stufenweisen Wiedereingliederung an den bisherigen Arbeitsplatz (nach § 74 SGB V)** durchzuführen.

Ziel einer solchen stufenweisen Wiedereingliederung ist, arbeitsunfähige Patienten nach einer längerer und gravierender Erkrankung schrittweise an die Arbeitsbelastung am bisherigen Arbeitsplatz heranzuführen und so einen allmählichen Übergang in die vorherige berufliche Tätigkeit zu erreichen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine therapeutische, ärztlich zu begleitende Maßnahme, für deren Dauer der Patient weiterhin arbeitsunfähig ist und Anspruch auf Krankengeld hat. Die Teilnahme an einem derartigen therapeutischen Arbeitsversuch erfolgt auf ärztliche Empfehlung, ist aber für den Patienten freiwillig.

Der jeweilige Arbeitgeber muss seine Zustimmung zur Durchführung dieser Maßnahme erklären. Die Dauer einer stufenweisen Wiedereingliederung liegt in der Regel zwischen 6 Wochen und 6 Monaten.

_____________________

* Durch eine Änderung der Sozialgesetzgebung, die voraussichtlich ab Mitte 2004 zum Tragen kommt, wird dieser Zeitrahmen in Zukunft weniger strikt zu berücksichtigen sein .

** nunmehr nach § 28 SGB IX

Wie aus den in einer Arbeitshilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (1994) aufgeführten Fallbeispielen zu entnehmen ist, sind trotz der allgemein gefassten medizinischen Indikation die Anwendungsbereiche überwiegend im Bereich der Rehabilitation orthopädischer, kardiologischer und psycho-somatischer Erkrankungen angesiedelt. Entsprechend sind die Belastungsstufen auch nicht auf die besonderen Leistungsdefizite abgestimmt, wie sie infolge neurokognitiver Beeinträchtigungen auftreten können. Daher ist die durchgängig gegebene Empfehlung, die zeitliche Belastung bei vier Tagesarbeitsstunden anzusetzen und danach in einem Schritt auf sechs Stunden zu steigern, den kognitiven Belastungsminderungen neurologischer Patienten nicht angemessen.

Teil des berufstherapeutischen Konzepts ist daher die Anpassung des sozialmedizinisch bestehenden Instruments der stufenweisen Wiedereingliederung an die individuellen Bedürfnisse neurologischer Patienten.

Unter Berücksichtigung des Arbeitsstatus des Patienten und der Dauer seiner Erkrankung werden die folgenden Indikationsgruppen differenziert:

Indikationsgruppe I

Die Behandlung zielt auf den frühzeitigen Beginn berufsbezogener kognitiver Therapie und eine zügige Reintegration des einzelnen Patienten ins Arbeitsleben.

Behandelt werden Patienten, die nach einem Hirnschädigungsereignis arbeitsunfähig sind, aber über einen Arbeitsplatz verfügen, an den sie grundsätzlich zurückkehren können. Die Zeit nach Ereignis beträgt in der Regel weniger als 18 Monate.

Gemäß der therapeutischen Zielsetzung zügiger beruflicher Reintegration ist bei Behandlungsende zu entscheiden, ob die Wiedereingliederung unmittelbar eingeleitet werden kann oder nicht.

Unter gleichzeitiger Berücksichtigung der kognitiven Leistungsmöglichkeiten eines Patienten und der besonderen Bedingungen am Arbeitsplatz gilt es, den optimalen Zeitpunkt abzuschätzen, an dem der Patient seine berufliche Wiedereingliederung beginnen sollte.

Mit der Empfehlung dieses Zeitpunktes verbinden sich jeweils Empfehlungen zum weiteren zeitlichen und inhaltlichen Management der beruflichen Wiederein-gliederung.

Dabei kommt der Möglichkeit, eine Maßnahme zur stufenweisen Wiederein-gliederung an den bisherigen Arbeitsplatz durchzuführen, eine herausragende Bedeutung zu. Die Vorbereitung eines derartigen Arbeitsversuchs ist daher für die Patienten der Indikationsgruppe I ein wesentlicher Behandlungsabschnitt.

Die in der Therapie erarbeiteten konkreten Empfehlungen für die Steigerung zeitlicher wie inhaltlicher Belastungen während der stufenweisen Wieder-eingliederungsmaßnahme werden dem Patienten in schriftlicher Form als Wiedereinarbeitungsplan ausgehändigt. Dieser soll dem Patienten als Leitfaden seiner beruflichen Reintegration dienen und z.B. bei Verhandlungen mit dem Arbeitgeber, welcher der Maßnahme der stufenweisen Wiedereingliederung zustimmen muss, eingesetzt werden.

Indikationsgruppe II

Die berufsorientierte Therapie zielt auf den langfristigen Erhalt der Arbeitsfähigkeit eines Patienten. Behandelt werden diejenigen Patienten, die bereits wieder ins Arbeitsleben eingegliedert sind, aber deren kognitives Leistungsvermögen infolge einer Hirnschädigung nach wie vor berufsrelevant beeinträchtigt ist.

Schwerpunkt der Behandlung ist die Remotivierung dieser häufig unter Erschöpfungssyndromen leidenden Patienten über eine prospektive Beratung zu Adaptation und Kompensation ihrer persistierenden Leistungseinbußen.

Voraussetzung dafür ist eine detaillierte Analyse der Arbeits(platz)-Situationen, in denen der Patient belastende Leistungsgrenzen erfuhr, in denen Fehler oder Unsicherheiten auftraten oder konfliktträchtige Rückmeldungen von Arbeitskollegen oder Vorgesetzten vorkamen.

Über diese Analyse und Beratung hinaus werden in den Therapiesitzungen mögliche externe und interne Hilfsmittel, ein an die Behinderung angepasster Arbeitsstil, eine verbesserte Arbeitsorganisation oder die Aneignung von Verhaltensstrategien zur Störungsabwehr und Fehlervermeidung konkret erprobt.

Indikationsgruppe III

Ziel der berufstherapeutischen Behandlung ist die Erprobung von Patienten, die nicht (mehr) über einen Arbeitsplatz verfügen und daher arbeitslos oder (zeitlich begrenzt) berentet sind.

Die Chancen von Menschen, die aufgrund einer schwerwiegenden neurologischen Erkrankung oft über lange Zeiträume nicht am Arbeitsleben teilnehmen konnten, ihre frühere Anstellung verloren oder zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung keinen Arbeitsplatz hatten, sich beruflich (wieder)einzugliedern, sind sehr gering.

Dennoch gilt es gerade bei jüngeren Patienten, die nicht über einen Berufsschutz verfügen, sondern auf alle, ihnen mögliche Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarkts verweisbar sind, ihre berufliche Einsetzbarkeit und in Frage kommende Berufsförderungsmaßnahmen abzuklären.

Im Gegensatz zu denjenigen Patienten, die über einen Arbeitsplatz verfügen und, wenn möglich, an diesen über konkrete Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen reintegriert werden (vgl. Indikationsgruppe I), kann eine berufsorientierte Erprobung von Patienten der Indikationsgruppe III nur allgemein erfolgen.

Zu klären sind Fragen der allgemeinen Ausdauer und Lernfähigkeit, der Arbeitsgeschwindigkeit und -sorgfalt bei allgemeinen Aufgabestellungen, wie sie in vielen beruflichen Kontexten zu erwarten sind, z.B. bei der Anwendung gängiger Computerprogramme.

Da die Aussagen solcher beruflicher Belastungserprobungen, wie sie im klinischen Rahmen erhoben werden, oft zu wenig an der Realität konkreter Arbeitsplätze orientiert sind, wird in der Neurologischen Berufstherapie versucht, diese Realitäts- nähe herzustellen. In Kooperation mit kliniknahen Betrieben werden externe Belastungserprobungen eingerichtet, in denen die Patienten je nach ihren Leistungsmöglichkeiten und unter Berücksichtigung beruflicher (Vor-)erfahrung mitarbeiten können.

Dabei steht therapeutisch die Stärkung individueller Leistungsressourcen im Mittelpunkt, die durch die alltagsnahe Form der Erprobung und die Möglichkeit bewusst nicht-therapeutischer Fremdbeurteilung durch „Arbeitskollegen“ besonderen Wert gewinnt.

Eine zusätzliche Chance bieten derartige externe Belastungserprobungen denjenigen Patienten, die trotz kognitiver Leistungseinschränkungen grundsätzlich arbeitsfähig sind, aber nicht unmittelbar in der Lage wären, einen vollschichtigen Arbeitstag durchzuhalten.

Anders als bei Patienten der Indikationsgruppe I, für die eine sozialrechtlich geregelte stufenweise Wiedereingliederung an den bisherigen Arbeitsplatz vorgesehen ist, besteht die entsprechende Möglichkeit einer schrittweisen Arbeitsaufnahme an einen neuen Arbeitsplatz nicht – obgleich für Patienten der Indikationsgruppe III die zusätzliche Belastung einer unbekannten Arbeitsumgebung mit noch ungewohnten Tätigkeiten, neuen Arbeitskollegen etc. zu bewältigen ist.

Eine klinisch geführte, externe Belastungserprobung kann jedoch eine zeitlich und inhaltlich gestufte Arbeitsbelastung, orientiert an den individuellen Leistungs-möglichkeiten eines Patienten, entwickeln, das Steigerungspotential im Verlauf sorgfältig beobachten und die Zunahme von Arbeitszeit und –anforderungen entsprechend flexibel einrichten.

Am Ende einer solchen Belastungserprobung sind, gestützt auf das beobachtete positive wie negative Leistungsbild des Patienten, Empfehlungen zur weiteren beruflichen Rehabilitation zu geben. Dabei sind die bestehenden Möglichkeiten berufsfördernder Maßnahmen wie Berufsfindung, Umschulung, Fortbildungs- und Anlernmaßnahmen, Eingliederungshilfen an Arbeitgeber eher kritisch zu nutzen, da bei neurologischen Patienten scheinbar naheliegende Lösungen wie die Erlangung beruflicher Qualifikation durch eine Umschulungsmaßnahme gerade aufgrund kognitiver Leistungseinbußen überaus belastend und wenig chancenreich sind.