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1.5 Spinnenseide

1.5.1 Natürliche Spinnenseide

Catherine Craig hat 1997 den Begriff Seide folgendermaßen definiert: „Seiden sind Proteine mit einer hochrepetitiven Aminosäuresequenz, die im flüssigen Zustand gespeichert und durch Scherung oder Verspinnen zu einer Faser werden.“249 Seiden werden ausschließlich von den zu den Gliederfüßern (Arthropoda) gehörenden Klassen der Spinnentiere (Arachnida), Insekten (Insecta) und Tausendfüßer (Myriapoda) in speziellen Drüsen für unterschiedliche Aufgaben produziert.249 Spinnenseide zählt, zusammen mit der Seide des Seidenspinners Bombyx mori, zur bekanntesten Seide. Spinnenseide fasziniert Wissenschaftler vor allem aufgrund ihrer außergewöhnlichen mechanischen Eigenschaften.250 Seidenfasern sind extrem stabil und dehnbar, so dass sie eine Zähigkeit aufweisen, die keine andere natürliche oder synthetische Faser erreicht.251 Zusätzlich ist Spinnenseide biokompatibel, biologisch abbaubar und löst keine Entzündungs- bzw.

allergischen Reaktionen aus.221 Deshalb wurden Spinnennetze bereits seit Jahrhunderten als Wundverband für Hautverletzungen verwendet.252

Vor kurzem wurde Spinnenseide als künstliches Scaffold für die Nervenregeneration eingesetzt.253-254 Defekte der peripheren Nerven können durch ein artifizielles Nervenimplantat aus dezellularisierten Venen, Spinnenseidenfasern und Schwann-Zellen in einem Matrigel repariert werden. In einem adulten Schaf konnte gezeigt werden, dass die Spinnenseide die Schwann-Zell Migration, das Neuwachsen von Axonen und die Remyelinisierung in einem 6 cm großen Defekt des Nervus tibialis (Schienbeinnerv) förderte.255 Außerdem wurden natürliche Spinnenseidenfasern als mikrochirurgisches Nahtmaterial getestet, um herkömmlich verwendete Materialien in der Mikro- und Neurochirurgie zu ersetzen.256-257 Dabei wurde gezeigt, dass die mechanischen Eigenschaften der geflochtenen Spinnenseidenfäden im Vergleich zu Nylon, dem gegenwärtigen klinischen Standard, verbessert waren. Zusammen mit der Biokompatibilität der Spinnenseide könnten die Mikrofäden für die Nervenregeneration eingesetzt werden.257

Spinnenseide ist ein vielseitiges Material, da Spinnen, im Gegensatz zu anderen Gliedertieren, verschiedene Arten von Seiden für unterschiedliche Aufgaben produzieren

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können (für einen detaillierten Überblick siehe Heidebrecht & Scheibel, 2013).258 Ungefähr die Hälfte aller derzeit bekannten Spinnenarten verwenden Netze zum Beutefang.259 Neben Trichter- und Baldachinnetzen finden Radnetze die weiteste Verbreitung. Weibliche Radnetzspinnen, zu denen die europäische Gartenkreuzspinne Araneus diadematus und die goldene Seidenspinne Nephila clavipes zählen, produzieren sieben verschiedene Seiden (Abb. 11).258, 260

Abbildung 11. Übersicht der sieben verschiedenen Seidenarten, die von weiblichen Radnetzspinnen, wie z. B. der Gartenkreuzspinne (Araneus diadematus), produziert werden.

Modifiziert nach Heidebrecht & Scheibel, Advances in Applied Microbiology 2013, 82: 115-153, mit freundlicher Genehmigung des Verlages Elsevier.

Die Seidenarten sind benannt nach der Drüse, in der sie gebildet werden, und unterscheiden sich zum einen in ihrer Zusammensetzung und zum anderen in ihren mechanischen Eigenschaften.261 Die am besten charakterisierte Spinnenseide ist die Dragline-Seide (engl.

dragline = Schleppseil), die sowohl die Rahmenkonstruktion und Speichen des Netzes und

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35 als auch den Abseilfaden bildet und dem Netz Stabilität verleiht.258, 262 Die Seide besitzt, wie die Flagelliform-Seide, eine außergewöhnlich hohe Zähigkeit, so dass sie, bezogen auf den Durchmesser der Faser, mehr Energie aufnehmen kann als viele andere Seidenarten, bevor sie reißt.251 Die außergewöhnlichen mechanischen Eigenschaften basieren auf der molekularen Struktur und auf dem hierarchischen Aufbau des Spinnenseidenfadens (Abb. 12).258, 263-264

Abbildung 12. Kern-Schale Struktur der Dragline-Seide. Der Kern des Fadens besteht aus Fibrillen, die entlang der Faserachse angeordnet sind. Auf molekularer Ebene beinhalten die Fibrillen kristalline Bereiche, die je nach Aminosäurezusammensetzung in einer amorphen Matrix eingebettet sind. Der Kern wird von einer Schale aus drei Lagen, Minor Ampullate (MI)-Seide, Glykoproteinen und Lipiden, umschlossen. Modifiziert nach Heidebrecht & Scheibel, Advances in Applied Microbiology 2013, 82: 115-153, mit freundlicher Genehmigung des Verlages Elsevier.

Die hierarchische Struktur der Dragline-Seide besteht aus einer Kern-Schale Struktur. Die Schale beinhaltet Lipide, Glykoproteine und Minor Ampullate-Seide und dient als Schutz vor Austrocknung und Bakterien.265-267 Der Kern hingegen besteht aus Nano- und Mikrofibrillen-bündeln, die entlang der Faserachse angeordnet sind.258, 268 Diese Fibrillen bestehen aus hochgeordneten nanokristallinen Bereichen, die in einer amorphen Matrix eingebettet sind.269-270 Die alaninreichen, kristallinen Bereiche dienen als Quervernetzer und sind somit für die Reißfestigkeit der Dragline-Seide verantwortlich, während die glycinreichen, amorphen GGX und GPGXX Motive für die Elastizität des Spinnenseidenfadens sorgen.271-274

Der Kern des Dragline-Fadens besteht mindestens aus den zwei Hauptproteinkomponenten MaSp1 (Major Ampullate Spidroin 1) und MaSp2 (Major Ampullate Spidroin 2), die beide einen hohen Anteil (~ 60 %) der unpolaren, hydrophoben Aminosäuren Glycin und Alanin aufweisen und in der großen Ampullendrüse (Major Ampullate) produziert werden.258 Sie unterscheiden sich nur in ihrem Prolingehalt und der Hydrophobizität.275 Alle Major Ampullate Spidroine besitzen eine hoch repetitive Kernsequenz mit alaninreichen, hydrophoben und

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glycinreichen, hydrophileren Regionen, die von nicht-repetitiven, gefalteten Termini flankiert werden.271 Die repetitiven Einheiten bestehen aus etwa 20-40 Aminosäuren, welche 90 % der Gesamtproteinsequenz darstellen und in dem natürlichen Seidenprotein bis zu hundertmal hintereinander wiederholt werden.275 Die terminalen, ca. 120-140 Aminosäuren langen, hochkonservierten Domänen spielen eine wichtige Rolle bei der Speicherung der hochkonzentrierten Proteinlösung in der Spinndrüse sowie bei der korrekten Ausrichtung der Moleküle während der Fadenassemblierung im Spinnkanal. Beide Termini sind dimerisierungsfähige, globuläre Domänen, die aus fünf -Helices bestehen.276-279

Bei der Gartenkreuzspinne Araneus diadematus werden die Hauptkomponenten der Dragline-Seide ADF3 und ADF4 (Araneus diadematus Fibroin) genannt.261 Beide Seidenproteine weisen im Gegensatz zu den bekannten MaSp-Proteinen einen hohen Prolingehalt von ca. 16 % auf.261, 280 Aus diesem Grund können sie als MaSp2-Analoga betrachtet werden.281 Wie bei den MaSp-Proteinen existieren bei ADF3 und ADF4 Unterschiede bezüglich ihrer Hydrophobizität. ADF3 ist hydrophiler und somit besser löslich in wässrigen Systemen, während ADF4 hydrophober ist und dadurch leicht zu fibrillären Strukturen assembliert.282-283