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Muße, Kontemplation, Wissen

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 36-68)

Maurice Merleau-Ponty über die Möglichkeit ästhetischen Wissens*

Iris Laner

Einleitung – Wissen und Muße

In der Geschichte der abendländischen Philosophie wird die Muße als mensch-liche Praxis ambivalent beurteilt. Einerseits wird sie gerade in der Antike und dem Mittelalter als jener Freiraum wertgeschätzt, der die kontemplative Schau der Wahrheit ermöglicht und somit auch die reflexive Tätigkeit wesentlich mit-bedingt.1 Muße, als Gegenspieler zur Arbeit im ökonomischen oder politischen Alltagsgeschäft verstanden, durchbricht jenen Zirkel der Zweckmäßigkeit, der den Menschen zu einem primär pragmatischen Umgang mit den Dingen in sei-ner Umgebung nötigt und ihm so die Möglichkeit nimmt, sich in ein kritisch- distanziertes Verhältnis zu dieser zu setzen. Um Kritik üben zu können, um nicht zuletzt des Philosophierens fähig zu werden, muss die auf einen klar definierten Zweck oder Nutzen gerichtete Tätigkeit suspendiert werden; es muss ein Raum der Arbeitslosigkeit geschaffen werden, in dem sich Gedanken entfalten können und der Blick frei werden kann in Hinblick auf das wahrhaft Seiende. Anderer-seits wird der Müßiggang spätestens ab der Neuzeit als Irrweg im Streben nach

* Dieser Text wurde im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts „Glaube oder Kritik?“ verfasst.

1 Die Muße (gr. σχολή, lat. otium) bezeichnet die Gelegenheit, nicht im Sinne von äußeren Interessen oder Zwängen (begehrlicher, ökonomischer oder politischer Natur) in seinem Tätigsein bestimmt zu werden. Dadurch eröffnet die griechische σχολή auch den Raum für die θεωρία, für das freie Schauen des Wahren und schließlich das Philosophie-ren (Vgl. Platon, „Phaidros“, in: Phaidros, Lyrsis, Protagoras, Laches, Werke, Bd.1.1, hg.

v. Johannes Irmscher, Berlin 1984, 66f). Muße haben bedeutet damit nicht Nichtstun; es bedeutet dagegen ein Tun, das keinem äußeren Zweck unterliegt, sondern in sich selbst sinnhaft ist. Aristoteles definiert das Verhältnis von Arbeit und Muße dahingehend, dass die Arbeit dazu dient, die für die Muße notwendigen Bedingungen zu schaffen (Vgl. Aris-toteles, Nikomachische Ethik, übers. u. hg. v. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006, X vii, 1177b 5).

Erkenntnis verworfen.2 Die Tätigkeit des Philosophierens wird im Zuge dessen als Arbeit neu definiert. Der Philosoph hat seinem Geschäft nachzukommen und sich – wissenschaftlich organisiert und konzentriert – der Beantwortung grund-legender Fragen zu stellen, indem er bestimmte, klar definierte Methoden zur Anwendung bringt.

Ich möchte im Folgenden am Punkt der sich auf diesem – freilich sehr sche-matisch und vereinfacht dargestellten – Spannungsfeld aufbauenden Frage nach dem epistemischen Wert der Muße und der durch sie ermöglichten kontemplati-ven Betrachtung ansetzen. Ich werde dabei die Position vertreten, dass die Muße einen Freiraum beschreibt, der sich gerade durch die Suspendierung anderer, zweckorientierter Tätigkeiten für die Generierung von Erkenntnissen nicht pro-positionaler Natur eignet. Diesen Freiraum wiederum werde ich als einen ge-nuin ästhetischen Raum charakterisieren, als einen Raum, der eine Anschauung um ihrer selbst willen gewährt. Die Überlegungen zur Muße als einer Grund-bedingung, aber durchaus auch als Resultat ästhetischer Erfahrung möchte ich schließlich auf die bereits angedeutete Frage nach der Tätigkeit des Philosophie-rens umlegen. Es geht mir in meinen Ausführungen also nicht um eine reine Darstellung des epistemischen Gehalts müßiger ästhetischer Erfahrung; ich werde auch die Möglichkeiten philosophischer Erkenntnis ‚im Müßiggang‘ erör-tern. Die philosophische Erkenntnis, die sich aus dem kontemplativen Raum der Muße speist, kann – so weit die T hese, die ich vertreten werde – keine proposi-tionale Erkenntnis in der Form eines Satzes sein. Vielmehr wird sie sich auf eine Form von Erkennen beziehen, die mit dem müßigen Tätigsein, also mit einer ge-lebten Praxis, selbst untrennbar verbunden ist. Am Beispiel der Auseinanderset-zung Maurice Merleau-Pontys mit den Möglichkeiten des Wissenserwerbes im Bereich ästhetischen Erfahrens werde ich erörtern, inwiefern in der als ästhetisch charakterisierten Praxis des Müßiggangs ‚kontemplatives Wissen‘ konstituiert werden kann und, weiter, inwiefern dieses Wissen wiederum für die philosophi-sche Praxis von Bedeutung ist. Es wird sich in diesem Zusammenhang zeigen, dass eine Einführung des kontemplativen Wissens in die philosophische Praxis eine methodische Neuorientierung erfordert, die zu einer – vielleicht unlösba-ren– Herausforderung für die Philosophie als Wissenschaft wird.

Muße (gr. σχολή; lat. otium) kann zunächst ganz allgemein definiert werden als nicht zweckorientiertes Tätigsein, als „Freisein von Staatsgeschäften und öko-nomischen Tätigkeiten“.3 Insofern die Muße keine Arbeit ist, die auf Erledigung

2 Vgl. dazu auch Hannah Arendt, T he Human Condition, Chicago 1958. Arendt arbeitet an einer Stärkung der vita activa im Gegensatz zu einer vita contemplativa. Ihres Erach-tens muss die durch die antiken Schriften des Platon und Aristoteles sowie das mittelalter-liche Denken motivierte hierarchisierende Rede von Tätigsein und Kontemplation aufgelöst werden.

3 Norbert Martin, „Muße“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd.6, Basel 1984, 258–260, 258.

oder Ertrag hin ausgelegt ist, bietet sie den Raum und die Zeit, anderem nachzu-gehen. Das bedeutet aber auch, dass Muße nicht schlichtweg als Nichtstun cha-rakterisiert werden kann. Sie ist dagegen besser verstanden als ein Zeit-Haben für ein Tätigsein, das nicht nutzen- oder zweckorientiert im Sinne eines trie-borientierten Begehrens, eines ökonomischen Besorgens oder eines politischen Handelns ist.

Für ästhetische Erfahrung ist Muße grundlegend, wenn ästhetisch zu erfah-ren eines Raums und einer Zeit bedarf, die sich als ‚Freiraum‘ und ‚Freizeit‘ aus-zeichnen. Ästhetische Erfahrungen machen zu können, setzt dann voraus, über-haupt die Zeit zu haben, einen Raum zu betreten, in dem man sich einer Betrach-tung hingeben kann, die insofern kontemplativ zu nennen ist, als sie auf nichts als auf die Betrachtung selbst gerichtet ist. Was eine solche kontemplative Di-mension des Erfahrens impliziert, werde ich weiter unten eingehender erörtern.

Wichtig ist an diesem Punkt zunächst der skizzierte Zusammenhang von ästhe-tischer Erfahrung, Muße und Kontemplation. Dieser ist der Ausgangspunkt für die im Folgenden formulierte Frage nach dem epistemischen Gehalt des ästhe-tischen Erfahrens. Ich werde argumentieren, dass ästhetisches Erfahren dann epistemischen Gehalt hat, wenn es im raum-zeitlichen Zusammenhang eines Müßiggangs stattfindet und basierend auf Raum und Zeit der Muße ‚kontem-platives Wissen‘ erworben werden kann. Was kontem‚kontem-platives Wissen ist und was es bedeutet, solches zu haben, werde ich klären, bevor ich nun zunächst meine Fragestellung vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ästhetik umreiße und meinen Einsatzpunkt im diskursiven Zusammenhang verorte.

Die philosophische Ästhetik der vergangenen 30 Jahre zeigt ein vermehrtes Interesse an der epistemischen Dimension ästhetischer Praxis und Erfahrung.

Die Bandbreite der Forschung auf diesem Gebiet ist umfassend und reicht von der Beschäftigung mit den epistemischen Inhalten ästhetischer Werke bis zur Un-tersuchung der Möglichkeit einer Erweiterung wissenschaftlicher Praxis durch künstlerische Interventionen.4 Eine der prominenteren Positionen in neueren Debatten ist die des sogenannten aesthetic cognitivism, welche den Standpunkt verteidigt, dass im Zuge der Rezeption von ästhetischen Werken, wie Einzelbil-dern, Bewegtbildern oder literarischen Texten, in erster Linie auf inhaltlicher Ebene Wissen vermittelt wird.5 Die Inhalte ästhetischer Werke werden als

de-4 Mit „art-based research“ wird eine neue Form des künstlerischen Forschens benannt, die eine Alternative zu bzw. eine Erweiterung von traditionellen wissenschaftlichen Zu-gängen darstellen soll (Vgl. Shaun McNiff, Art-Based Research, London/Philadelphia 1998;

Patricia Leavy, Method Meets Art.Arts-Based Research Practice, New York 2009).

5 Als ein Begründer des aesthetic cognitivism gilt David Bordwell, der sich vor allem für den epistemischen Wert von Filmen interessiert (David Bordwell, Narration in the Fiction Film, Madison 1985). Neben Bordwell ist Nelson Goodman ein wichtiger Pionier der kog-nitiven Wende in der philosophischen Ästhetik. Goodman vermerkt: „[T]he arts must be taken no less seriously than the sciences as modes of discovery, creation, and enlargement of knowledge in the broad sense of advancement of the understanding, and thus […] the

zidiert epistemische Inhalte verstanden. Untersucht wird, wie sich ästhetische Erfahrung auf die kognitiven Fertigkeiten des/r Rezipienten/in auswirkt, wie sich der Erwerb von Wissen in der ästhetischen Betrachtung vollzieht und in-wiefern sich Formen des Wissenserwerbs ästhetischen Ursprungs von denjeni-gen nicht-ästhetischen Ursprungs unterscheiden.6 Während Vertreter/innen des aesthe tic cognitivism ästhetische Phänomene als eine (mögliche) Quelle des Wis-sens betrachten, gibt es eine Reihe von Gegenpositionen, die den epistemischen Gehalt ästhetischer Werke grundsätzlich negieren. Dies kann zum einen den Hintergrund haben, dass die Bedeutung des Ästhetischen generell gering ge-schätzt wird.7 Zum anderen kann es aber die Folge einer Bestimmung des spe-zifisch ästhetischen Charakters bestimmter Praktiken und Erfahrungsformen sein, der sich in vielen traditionellen wie auch zeitgenössischen Bestimmungen des Ästhetischen gerade durch eine Differenz zum Nicht-Ästhetischen auszeich-net, und damit in Kontrast zum Wissenschaftlichen einerseits und zum Alltäg-lichen andererseits steht.8

Ich werde in meinen Ausführungen eine Position vertreten, die sich weder gänzlich dem aesthetic cognitivism zuordnen lässt noch als anti-kognitivistisch bezeichnet werden kann. Dies liegt in erster Linie daran, dass ich zu zeigen ver-philosophy of art should be conceived as an integral part of metaphysics and epistemology.“

(Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, 7.Aufl., Indianapolis/Cambridge 1978, 102). Vgl.

auch Berys Gaut, „Art and Knowledge“, in: Jerrold Levinson (Hg.), T he Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2003, 436–450; John Gibson, „Cognitivism and the Arts“, in: Philosophy Compass 3,4 (2008), 573–589; Rosalind Hursthouse, „Truth and Representation“, in: Oswald Hanfling (Hg.), Philosophical Aesthetics, Oxford/Cambridge/Milton Keynes 1992, 239–296;

Peter Lamarque/Haugom Olsen Stein, „Truth“, in: Encyclopedia of Aesthetics, hg. v. Michael Kelly, Bd.4, New York 1998, 406–415; David Novitz, „Epistemology and Aesthetics“, in: En-cyclopedia of Aesthetics, hg. v. Michael Kelly, Bd.2, New York 1998, 120–123.

6 Eine verbreitete Spielart des aesthetic cognitivism sieht den grundlegenden episte-mischen Beitrag der ästhetischen Erfahrung in der Vermittlung von moralischem Wissen (moral knowledge) (Vgl. hierzu auch Matthew Kieran, „Art, Imagination, and the Cultiva-tion of Morals“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 54 (1996), 337–351; Mette Hjort/

Sue Laver (Hg.), Emotion and the Arts, New York 1997; Noël Carroll, „T he Wheel of Virtue.

Art, Literature, and Moral Knowledge“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 60 (2002), 3–26; Lisa Katharin Schmalzried, Kunst, Fiktion und Moral. Die Relevanz des moralischen Werts eines Kunstwerks, Münster 2014).

7 Vgl. z. B. Jerome Stolnitz, „On the Cognitive Triviality of Art“, in: British Journal of Aesthetics 32 (1992), 191–200.

8 Klassische Autoren, die dem Ästhetischen derart einen eigenen Geltungsbereich si-chern wollen, sind z. B. Immanuel Kant oder Friedrich Schiller. Kant bestimmt den Zustand ästhetischen Erfahrens als ein „freies Spiel der Erkenntniskräfte“, in dem Erkenntnis als Resultat suspendiert wird: „Die Erkenntniskräfte […] sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt.“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Bd.10, hg. v. Wilhelm Weischedel, 20.Aufl., Frankfurt a. M. 1974, B 28/A 28). Das ästhetische Subjekt erfährt Lust im Empfinden dieses freien und nicht zielgeleiteten Spielens (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen, hg. v. Klaus L.

Berghahn, Stuttgart 2000).

suche, dass ästhetische Phänomene epistemischen Wert haben, gleichzeitig aber den in den kognitivistischen Debatten vordergründigen Begriff des Wissens hin-terfrage. Der Begriff des ästhetischen Wissens, den ich verteidigen werde, be-schreibt nämlich dezidiert nicht-propositionales Wissen, das heißt eine Form von Wissen, die nicht mit Hilfe von Aussagesätzen ausgedrückt werden kann.

Insofern sind es auch nicht primär die durch bestimmte Werke behandelten In-halte, denen ich in der Untersuchung ästhetischer Phänomene den entscheiden-den epistemischen Wert beimesse. Vielmehr möchte ich entscheiden-den Blick auf die Form des ästhetischen Erfahrens selbst richten, wie sie für die Produktion und Re-zeption ästhetischer Werke bestimmend ist, und fragen, inwiefern diese Wis-sen generieren kann. Das WisWis-sen, das ästhetische Erfahrung befördern kann, muss dabei als praktisch-leibliches Wissen verstanden werden. Ich möchte die-ses spezifisch ästhetische Wissen im Folgenden als „kontemplatives Wissen“9

be-9 Für die von mir vorgebrachten Überlegungen ist das Konzept der Kontemplation in-teressant, da es sehr wohl mit theoretischem Wissen in Beziehung steht, wobei sich dieses Wissen ausschließlich in einem Tätigsein einstellt. Im antiken Denken spielt die Kontem-plation, im Wortsinn der Betrachtung, vor allem im Zusammenhang mit der aristoteli-schen Definition von θεωρία eine wichtige Rolle. Aristoteles führt den Begriff der θεωρία im Rahmen seiner Erörterung der Glückseligkeit (ἐυδαιμονία) in der Nikomachischen Ethik ein; Glück erfahren wir seines Erachtens nur dann, wenn wir einer Aktivität nachge-hen, die in sich selbst sowohl lustvoll als auch tugendhaft ist. Der Zustand der Glückselig-keit ist demnach an eine TätigGlückselig-keit jenes spezifisch menschlichen Vermögens gebunden, die als solche Lust im Einklang mit Tugend (κατ’ ἀρητήν) bereitet (Aristoteles, Nikomachische Ethik, X vi 8). Nachdem laut Aristoteles das tugendhafteste aller menschlichen Vermögen das Denken ist, ist es für ihn die intellektuelle Kontemplation, welche glücklich macht.

Hier ist von Bedeutung, dass diese Kontemplation als Tätigkeit, nicht aber als Prozess, der ein bestimmtes Resultat hervorbringt, begriffen wird. Die aristotelische Kontemplation ist in diesem Sinne nicht zweckmäßig; sie verfolgt nicht das Ziel, ein Produkt hervorzu-bringen, sondern genügt sich selbst. Das Glück findet man dementsprechend auch nicht im Gewinn bestimmter Erkenntnisse, sondern im Vollzug der intellektuellen Betrachtung selbst. Was Aristoteles als charakteristisch für die θεωρία hervorkehrt, kann mit bestimm-ten Verschiebungen auch für das hier erörterte kontemplative Wissen fruchtbar gemacht werden: Kontemplation benennt eine Tätigkeit, eine Praxis, die um ihrer selbst willen er-griffen wird. Sowohl die Vorstellung eines bewussten Steuerns der Kontemplation als auch ihre vornehmlich intellektuelle Natur lassen sich für das kontemplative Wissen im hier erörterten Sinne allerdings nicht vertreten, da es sich um eine dezidiert leibliche Erfahrung des Ergriffenseins handelt.

Neben ihrem Vollzugscharakter ist die kontemplative Tätigkeit nach Aristoteles aber auch auf Grund der durch sie benannten Freiheit für die hier vorgebrachten Überlegungen interessant. Figal weist darauf hin, dass das Grundcharakteristikum der aristotelischen θεωρία in ihrer Autarkie liegt. Die Kontemplation wird um ihrer selbst willen vollzogen und ist dadurch frei (Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Phi-losophie, Tübingen 2006, 220–223). Die so verstandene kontemplative Freiheit – als eine Unabhängigkeit vom zielgerichteten Handeln, vom Produzieren, aber auch von der Zweck-mäßigkeit des Betrachteten – kann als ein wesentliches Element auch jener spezifischen Form von Wissen geltend gemacht werden, die Merleau-Ponty in seinen ästhetischen Stu-dien mit immer deutlicherer Klarheit herausarbeitet. In der ästhetischen Erfahrung geht es nämlich ausschließlich um die Tätigkeit der Kontemplation und dies sowohl aufseiten

zeichnen. Kontemplatives Wissen ist gekennzeichnet als responsive Erfahrungs-form, die von einer kategorisierenden Suche nach propositionalem und begriff-lich vermittelbarem Wissen Abstand nimmt und sich ausschließbegriff-lich im Vollzug praktisch-leiblichen Tuns artikuliert. Es handelt sich damit um eine Form von Wissen, in der die Wissenden untrennbar an ein Tätigsein rückgebunden sind, das gleichsam eine epistemische Praxis ist. Das kontemplative Tätigsein ist als müßige Tätigkeit zu charakterisieren, insofern es nicht auf einen bestimmten Zweck oder Nutzen hin ausgerichtet ist und eines Freiraums und einer Freizeit bedarf, um entfaltet werden zu können.

Um meine T hese zum Zusammenhang von Muße, Kontemplation und äs-thetischem Wissen zu entwickeln, werde ich mich auf einige zentrale Schrif-ten über die künstlerische Praxis des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty berufen. Ich werde herausarbeiten, inwiefern Merleau-Ponty von Beginn seiner Untersuchung ästhetischer Phänomene 1945 bis hin zu seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Text aus dem Jahr 1961 ein sehr differen-ziertes Verständnis des epistemischen Potentials der Kunst entwickelt. In ei-ner vergleichenden Analyse der vorliegenden Texte – Das Kino und die neue Psychologie (1947 basierend auf einem 1945 gehaltenen Vortrag), Der Zweifel Cézannes (1945), Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens (1952) und Das Auge und der Geist (1961) – zeigt sich, dass Merleau-Ponty zunächst ei-nen Wissensbegriff entwickelt, der die ästhetische Praxis in einem affirmativen Sinne mit der wissenschaftlichen Praxis parallelisiert. Wissen ist in dieser frü-hen Phase seiner Ästhetik durchaus mit einem Erkennen in Zusammenhang zu bringen, welches auf den Begriff gebracht werden kann. In der mittleren Phase distanziert sich Merleau-Ponty bereits von diesem Verständnis und entwickelt ein stark an den Strukturalismus angelegtes Verständnis des nicht auf Begriffe reduzierbaren Ausdrucks, betrachtet die Praxis des Malens allerdings als weni-ger sinntragend als die Literatur. In seinem Spätwerk kristallisiert sich schließ-lich ein Verständnis des dezidiert ästhetischen Wissens heraus, welches nicht mehr mit Hilfe von Begriffen oder Sätzen vermittelt werden kann und gerade dadurch der Literatur und auch der Wissenschaft voraus ist. Dieser späte Wis-sensbegriff, den ich ausdrücklich als epistemisches Phänomen verständlich ma-chen möchte, wird am Ende eine Herausforderung für die Philosophie, die phi-losophische Methode und die durch sie generierte Erkenntnis selbst darstellen.

Die Frage, die Merleau-Ponty beschäftigt, ist diejenige nach dem ontologi-schen Fundament unserer Welt. Sie beschäftigt ihn von Beginn seines Schaf-fens an, rückt allerdings mit den Jahren immer mehr in den Vordergrund.

der Produzierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden. Die künstlerische Produktivi-tät ist für Merleau-Ponty als rezipierend-betrachtende Tätigkeit aufzufassen, die vom Leib schließlich ins Bild gesetzt wird. Dieses künstlerische Engagement wird seinem Verständ-nis nach von den Rezipierenden wiederholt, wodurch sich der Begriff der Kontemplation auf beide Bereiche anwenden lässt.

Steht um 1945 die Phänomenologie der Wahrnehmung im Zentrum des In-teresses, beginnt sich Merleau-Ponty in den 1950er Jahren vermehrt für die strukturellen Bedingung von Sinn und Ausdruck zu interessieren, bis er diese analytischen Bestrebungen schließlich vollends fallen lässt und sich gänzlich auf die Spuren eines „rohen“ oder „wilden“ Seins in der Erfahrung konzen-triert. Diese ontologische Wende verlangt nach einem methodischen Umden-ken. Denn das Sein, so viel kehrt Merleau-Ponty nachdrücklich hervor, kann nicht direkt beschrieben werden, da es sich dem begrifflichen Wissen entzieht.

Es wird aber, und hierin sieht er schließlich auch die Möglichkeit seiner späten Ontologie, im Register des ‚primordialen Erfahrens‘ gelebt. Das Wissen um das Sein kann also keine propositionale Erkenntnis sein, sondern es ist geleb-tes, praktisch-leibliches Wissen. Mit Merleau-Pontys Ausführungen als Basis werde ich zu zeigen versuchen, inwiefern die Muße jenen Raum und jene Zeit für eine kontemplative Betrachtung bereitstellen kann, der die Aneignung ei-nes praktisch-leiblichen Wissens über das Sein befördert. Dieses dezidiert äs-thetische Wissen werde ich am Ende meiner Ausführungen in ein Verhältnis zur philosophischen Praxis setzen und fragen, wie wir als Philosophen/innen von diesem Wissen profitieren können.

Meine Untersuchung gliedert sich in vier Teile. Zunächst werde ich in einem ersten Teil eine grobe Skizze von Merleau-Pontys Verständnis des Verhältnisses von ästhetischer Erfahrung und wissenschaftlicher Praxis geben (1). Im zweiten Teil werde ich seine frühe Ästhetik näher in den Blick nehmen (2). Dieses werde ich in eine Beziehung zu den späteren Ausführungen setzen und eine Entwick-lung von wahrnehmungsphänomenologischen über strukturalistische bis hin zu ontologischen Fragen nachzeichnen (3). In einem vierten und letzten Teil werde ich schließlich den von Merleau-Ponty implizierten ästhetischen Wissensbegriff ausbuchstabieren und ihn in seinem Verhältnis zu Muße und Kontemplation un-tersuchen. Schließlich wird hier auch die Herausforderung durch das ästhetische Wissen für die Philosophie diskutiert (4).

Meine Untersuchung gliedert sich in vier Teile. Zunächst werde ich in einem ersten Teil eine grobe Skizze von Merleau-Pontys Verständnis des Verhältnisses von ästhetischer Erfahrung und wissenschaftlicher Praxis geben (1). Im zweiten Teil werde ich seine frühe Ästhetik näher in den Blick nehmen (2). Dieses werde ich in eine Beziehung zu den späteren Ausführungen setzen und eine Entwick-lung von wahrnehmungsphänomenologischen über strukturalistische bis hin zu ontologischen Fragen nachzeichnen (3). In einem vierten und letzten Teil werde ich schließlich den von Merleau-Ponty implizierten ästhetischen Wissensbegriff ausbuchstabieren und ihn in seinem Verhältnis zu Muße und Kontemplation un-tersuchen. Schließlich wird hier auch die Herausforderung durch das ästhetische Wissen für die Philosophie diskutiert (4).

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 36-68)