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Muße im Gehen – Handke, Stifter, T homas Mann

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 116-144)

Antonia Egel

Für H. G. – im Frei-Raum der Muße Beim ausgiebigen Wandern kann man an einen Punkt gelangen, an dem nur noch das Gehen ist. Eine eigentümliche Ruhe stellt sich dadurch ein, dass Kraft und Konzentration sich allein darauf richten, einen Fuß vor den anderen zu set-zen, nicht an irgendein Ankommen zu denken noch an die Länge der Strecke, die zu bewältigen ist, noch an Hunger oder Durst, Gehen ohne Zeit. Ist das eine Erfahrung von Muße? So fragten wir uns in den Schweizer Bergen – den Gast-gebern am verborgenen Ort sei hier Dank gesagt für die Ermöglichung solchen Fragens! – Was ist Muße im Gehen? So befragten wir die Literatur inmitten der Felsen in Alta Badia – Antworten und durch sie provozierte neue Fragen seien hier als ein vorläufiges Ergebnis gesammelt.1

Muße, so können wir philosophisch lernen und nachlesen, ist ein räumliches Phänomen.2 Neben „Konzepten“ und „Figuren“ der Muße sind die „Räume“ der Muße, näher untersucht, ein Schlüssel zu dem, was Muße ist oder sein kann.3 Inwiefern ist aber die durchwanderte oder durchstreifte, die eingehegte oder wilde, die liebliche oder die bedrohliche Natur ein Muße-Raum und unter wel-chen Umständen? Was von dieser Natur kommt in den Blick, wenn das Sein in ihr eine Erfahrung von Muße ist? Wie ist dieser eigentümliche Zustand, ganz im Außen und konzentriert auf etwas, das nicht man selbst ist, zu sein und gerade dies als ein Bei-sich-sein zu erfahren, genauer zu beschreiben?

1 Ich danke meinem lieben Mann Günter Figal, sowie Tobias Keiling und allen Mit-gliedern der Arbeitsgruppe 6 „Muße und Gelassenheit“ auf der Sommerakademie der Stu-dienstiftung des deutschen Volkes in La Villa 2014 für das gesellige Teilen der Fragen, der Antworten und der neuen Fragen. Außerdem geht mein Dank an meine Salzburger Kolle-gin Uta Degner und an die Kollegen Norbert Christian Wolf und Armin Eidherr, sowie an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lehrveranstaltung „Textanalyse“ im Sommerse-mester 2015, für anregende Gespräche, Fragen, Antworten und nicht zuletzt das gemein-same „Gehen“ durch den „großen Wald“ am Südrand von Salzburg. Auch diesen Weg ging ich zuerst mit meinem Mann.

2 Günter Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzun-gen, Berlin/Boston 2014, 26–33.

3 Vgl. SFB 1015, „Muße. Konzepte – Räume – Figuren“ (05.10.2015), https://www.sfb10 15.uni-freiburg.de (abgerufen am 20.10.2015).

Peter Handke, Adalbert Stifter und T homas Mann haben in miteinander kor-respondierenden Texten verschiedene Antworten auf diese Frage gesucht – ge-hen wir diesen Antworten nach und fragen wir uns also, wie Gege-hen und Muße zusammengehören.

1. „Das gleichmäßige Gehen war schon der Tanz“.

Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire

Wenn sich jemand aufmacht, um die Wege nachzugehen, die ein Maler gegan-gen ist, der daraus Jahrhundertwerke gemacht hat, so hat dieser Jemand Muße.

Wer kann sich schon, eingespannt ins Alltagsarbeitsleben, eine solche Reise zum Zwecke der Kontemplation leisten? Für den Schriftsteller, der sich auf diesen Weg macht, eine Schule des Sehens zu durchlaufen, an den Bildern, mehr noch an der Natur, die die Bilder inspiriert hat, ist dies, Muße haben, die Arbeit selbst.

Ich ging dann bewußt langsam weiter, fast immer mit gesenktem Kopf, jede gesuchte Ferne vermeidend. – In der Dämmerung blickte ich, nur aus den Augenwinkeln, in ei-nen Seitenweg hinein. – Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich überhaupt stehengeblieben bin;

ich bin wohl ohne anzuhalten weiter; doch im Zustand der Ruhe und Freude; neu durch-drungen von meinem guten Recht, zu schreiben; neu überzeugt von Schrift und Erzäh-lung.4 […] Nein, es war nicht die Qual; es war die Arbeit.5

Dem auf den ersten Blick unscheinbaren Satz „Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich überhaupt stehengeblieben bin“ kommt im ganzen Textgefüge eine entschei-dende Bedeutung zu. Mit diesem Satz zeigt sich das Gehen, das durch den gan-zen Text hindurch thematisiert wird, als ein absichtsloses Gehen. Damit hat der Erzähler im Gehen unversehens einen Zustand erreicht, den er von Anfang an sucht: das absichtslose ins Schreiben und Erzählen Geraten, die „Daseinsform“

von „Ruhe und Freude“6 als ein „erleichternder, erheiternder, verwegener Sol-lensmoment des Schreibens“7. Der Erzähler, der sich aufmacht, das Außeror-dentliche der Inspiration zu finden, in einem Moment (nunc stans)8, wird von dieser Inspiration unversehens eingeholt, im alltäglichsten Tun, dem Gehen.9

4 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a. M. 1984, 56–57.

5 Handke, Lehre, 58.

6 Handke, Lehre, 56.

7 Handke, Lehre, 58.

8 Vgl. Handke, Lehre, 9.

9 Zum Zusammenhang von „Spazieren“ und „Erzählen“ und der Einordnung in die literarische Tradition siehe den Überblick bei Ulrike Weymann, Intermediale Grenzgänge.

Das Gespräch der drei Gehenden von Peter Weiss, Gehen von T homas Bernhard und Die Lehre der Sainte-Victoire von Peter Handke, Heidelberg 2007, 9–22. Ferner Claudia Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, Tübingen/Basel 1999 und Angelika Wellmann, Der Spa-ziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 1991, bezogen auf Handke, im Ver-gleich mit Beckett, nebst einer kulturgeschichtlichen Einordung: Gaby Hartel, „Punkt in

Die Beschreibung Handkes legt einerseits bewusste Aufmerksamkeit darauf. In der Achtsamkeit auf das Gehen kommt das Gehen zu Bewusstsein: „ich ging bewußt langsam weiter“. Andererseits lenkt er die Aufmerksamkeit zugleich da-rauf, dass man darüber in ein völliges Vergessen dessen gerät, was man gerade tut. Gesteigerte Achtsamkeit auf das, was man tut, geht mit dem mühelosen, selbstverständlichen Tun einher. Aufmerksamkeit auf etwas und Selbstverges-senheit sind eins.

Diese scheinbar paradoxe Figur taucht in unterschiedlichen Facetten im Text auf. Die in sich bewegte Ruhe, in der sich der Erzähler am Ende des Textes wie-derfindet, sein „nunc stans“10 findet, das er sogleich wieder flieht („zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt“)11, bereitet sich zum Beispiel im Wech-selspiel von Gehen und Stehenbleiben vor.

Unschlüssig war ich zunächst ein bißchen auf der leeren Straße dahingegangen. (Es gab von dort keinen Bus zurück nach Aix). Aber dann war es entschieden, den Weg bis Puy-loubier fortzusetzen. Kein Auto auf der Strecke. Eine Stille, in der jedes einzelne Ge-räusch sich wie ein gesprochenes Wort anhörte. Ein allgemeines leichtes Sausen. Ich ging, immer angesichts des Berges; blieb manchmal unwillkürlich stehen. In einer trogförmi-gen Kammscharte, wo der Himmel besonders blau war, sah ich den idealen Paß.12 Im zunächst „unwillkürlichen“ Stehenbleiben wird das gerade noch unaufmerk-same, „unschlüssige“ Gehen in die Aufmerksamkeit gehoben. Sogleich wird es aber in die Selbstverständlichkeit zurückgenommen, indem die betrachtende Aufmerksamkeit auf das, was der Gehende sieht und hört, gerichtet wird. In der hörbaren Stille, den Berg im Blick, geht das Gehen „entschieden“, aber unwill-kürlich weiter, denn mit einem Mal wird der gangbare Weg – der „ideale Paß“ – wie von alleine sichtbar. Nun aber verliert sich der Gehende ganz in der Betrach-tung: Die „trockenen Hochwiesen“, die „Schneckenhäuser“, Sonne, Wind und Felsen werden je eigens gewürdigt. Schließlich dreht sich das gewohnte Verhält-nis der Bewegung gar um: nicht der Wanderer durchzieht die Gegend, sondern der Stehengebliebene sieht die Landschaft an sich vorbeiziehen: „Die Halme des Wegrands zogen vorbei in einem majestätischen Flug.“13 An dieser Stelle wird, ähnlich wie an der eingangs erwähnten, das Langsamgehen hervorgehoben und näher ausgeführt.

Ich ging bewußt langsam, im Weiß des Berges. Was war? Nichts geschah. Und es brauchte auch nichts zu geschehen. Befreit von Erwartung war ich, fern von jedem Rausch. Das gleichmäßige Gehen war schon der Tanz. Der ganz ausgedehnte Körper, der ich war, wurde von den eigenen Schritten befördert wie von einer Sänfte. Dieser gehend Tan-Bewegung: Schreiben und Gehen bei Beckett und Handke. Eine Skizze“, in: Jan Wilm/Mark Nixon (Hg.), Samuel Beckett und die deutsche Literatur, Bielefeld 2013, 157–166.

10 Handke, Lehre, 9.

11 Handke, Lehre, 109.

12 Handke, Lehre, 41.

13 Handke, Lehre, 41.

zende war ich-zum-Beispiel und drückte „Die Daseinsform der Ausdehnung und die Idee dieser Daseinsform“, die gemäß dem Philosophen „ein und dasselbe Ding sind, doch auf zweierlei Art ausgedrückt werden“, in dieser vollkommenen Stunde gleicherart aus – Regel des Spiels und Spiel der Regel, wie einst der Gehende mit der flatternden Hose in Oberösterreich. Ja, da wußte ich auch selber, „wer ich bin“ – und fühlte als Folge noch ein unbestimmtes Soll. Das Werk des Philosophen war ja eine Ethik gewesen.14

In dieser Passage wird das absichtslose Gehen ganz und gar thematisch. Die Füße tun nichts, schon gar nichts Anstrengendes, sie tragen wie eine „Sänfte“.

Jedoch ist das auch hier wieder scheinbar paradox: Denn die Absichtslosigkeit verdankt sich einer besonderen Achtsamkeit: „ich ging bewußt langsam im Weiß des Berges“. Der Gehende achtet auf seine Schritte und im nächsten Moment nicht mehr auf sie, sondern nur noch auf die „Farbe“ des Berges, auf das „Weiß des Berges“. Das „Weiß des Berges“ ist eine Anspielung auf Stifters Bergkristall, die Erzählung, die die Lehre von Anfang an bestimmt15, die „trockenen Hoch-wiesen“16 kommen bei Stifter fast wörtlich vor, die Betrachtung des Kleinen und Unscheinbaren nimmt denn auch in der oben zitierten Passage aus Handkes Text besonderen Raum ein: Wiesen, Grashalme, Schneckenhäuser, und dann:

das „Weiß des Berges“. Ist es bei Stifter und in wörtlicher Übernahme von Stif-ter auch bei T homas Mann der Schnee, der als „weiße FinsStif-ternis“17 beschrieben wird, so ist es hier das Weiß des sommerlichen Kalksteins, das den Hintergrund für das bildet, was der Wanderer in der Lehre wahrnimmt. Das Weiß als Nicht-farbe steht sozusagen am Anfang aller Farbwahrnehmung und ist so gesehen eine Art „Finsternis“, hier einfach das „Weiß“, in das sich der gehend Sehende ganz und gar hineinbegibt. Hier ist ein Freiraum des Unbestimmten: „befreit von Erwartung […] und fern von jedem Rausch“ findet sich der Erzähler in einem klaren Rausch. Der Tanz, mit Nietzsche genommen das Sinnbild des dionysi-schen Rausches, stellt sich im gelassenen Gehen als das Gehen selbst ein: „Das gleichmäßige Gehen war schon der Tanz“. Die Suche nach dem Außerordent-lichen, dem Erlebnis, jenseits der Zeit und jenseits der Menschen zeigt sich zwar als zeitloser Moment, aber ganz und gar unekstatisch, es ist die „vollkommene

14 Handke, Lehre, 41–42.

15 Vgl. Handke, Lehre, 9.

16 Handke, Lehre, 41. Zu Stifter vgl. unten 125, siehe auch Adalbert Stifter, „Bergkris-tall“, in: Stifter, Bunte Steine und Erzählungen, 10.Aufl., Düsseldorf 2006 [Vollständiger Text nach der Erstausgabe von 1853 (Bunte Steine) und den jeweiligen Erstdrucken (Erzäh-lungen). Mit einem Nachwort und einer Auswahlbibliographie von Uwe Japp sowie Anmer-kungen und einer Zeittafel von Karl Pörnbacher], 159–210, bes. 178: „Er [Konrad] führte sie oft über den Wald hinaus, sie betrachteten dann den dürren Rasen und die kleinen Sträu-cher der Heidekräuter.“

17 Stifter, „Bergkristall“, 189, T homas Mann, Der Zauberberg, 16.Aufl., Frankfurt a. M.

2004, 646: „das war kein Schneefall mehr, das war ein Chaos von weißer Finsternis“ und 660: „weil er [Hans Castorp] nichts sah vor weißer Verfinsterung“. Auch Handke zitiert diese Stelle aus Stifters Bergkristall, anders als T homas Mann nennt er aber auch seine Quelle (Vgl. Handke, Lehre, 59).

Stunde“, in der der Erzähler weiß, „wer ich bin“. In diesem Sinne wird auch das

„Dahingehen“18, das Schlendern und Vorsichhingehen betont. Dieses gelassene Gehen, das an die Stelle des Tanzes als eines rauschhaften Außerordentlichen tritt, wird allerdings im Laufe des Textes immer punktuell, meistens unerwartet, erreicht. Das Gehen findet sich als Gehen, Laufen, Springen, Verirren19, wird un-terbrochen, allemal vom kontemplativen Stehenbleiben, bis es einfach nurmehr Gehen ist. Dann ist der Erzähler „von der Schönheit umgeben“20, absichtsloses Gehen und müheloses Schreiben verschmelzen zu einer Tätigkeit, die so un-wahrscheinlich ist, dass der Erzähler selber darüber lacht21.

Die Schule des Sehens, die Handke in der Lehre der Sainte-Victoire durchläuft und durchlaufend beschreibt, ist, so sollte deutlich geworden sein, so viel Schule des Sehens wie Schule des Gehens.22 Gehen, Stehenbleiben, Sehen und wieder Gehen sind der Motor dieses Textes, der sich als ein „Auftragswerk“ ausgibt.

Der Auftraggeber ist die Sainte-Victoire selbst. Diese Erkenntnis, die in den ge-schriebenen Text mündet, muss sich der Erzähler dieses Textes allerdings buch-stäblich ergehen. Versuchte man nun, die schon genannten Weisen des Gehens durch diesen kurzen, dichten Text hindurch zu verfolgen, man käme schnell an die Grenze der Beschreibung, wenn man sie als einen Prozess beschreiben wollte, etwa so, dass der Erzähler zuerst unbeholfen, dann sicherer und schließlich un-absichtlich ginge, so wie er die Farben als Kind nicht unterscheiden kann und dann, in einem Moment, im nunc stans, alle Farben auf einmal zu sehen fähig ist. Zwar wird hier ein biographisches Nacheinander erzählt, jedoch im Modus der Gleichzeitigkeit. Erreicht wird dies durch zahlreiche Rückblenden, Vorgriffe und wiederholtes Erzählen von gleichen oder ähnlichen Momenten. Das wieder-holte Aufsuchen der Gegend Cézannes allein schon zeigt die Wiederholung als Strukturmoment der Erzählung an. Im ersten Satz ist das mit der erneuten Lek-türe bereits gelesener Texte schon thematisch und der Schluss der Erzählung, der den Gang durch den kleinen Morzger Wald, den „große[n] Wald“ der Erzählung beschreibt, führt das Prinzip der kreisförmigen Struktur explizit vor Augen: Der Wald fängt sich zu drehen an, der Weg geht nicht geradeaus und hat kein Ziel.23

Der Wald mitten in einer Siedlung am Südrand von Salzburg erscheint damit als ein Sonderraum, der dem Sonderraum der Erzählung, die sich beständig im Kreis dreht, entspricht:

Das Zeichen des Waldbeginns (neben den Hochsitzen) sind die Haselnußsträucher, mit ihren dem kleinsten Wind nachwehenden gelben Kätzchen, dicht-parallel fallende feine Striche, wie Regen auf Schemazeichnungen. Der Baumbestand selber erscheint als

dunk-18 Handke, Lehre, 24, 35.

19 Handke, Lehre, 52.

20 Handke, Lehre, 52.

21 Handke, Lehre, 91.

22 Vgl. dazu Weymann, Intermediale Grenzgänge, 156–248.

23 Vgl. Handke, Lehre, 99, 77–93: das Kapitel „Der Hügel der Kreisel“.

ler, in sich verzahnter Fichtenforst, dessen Einzelteile – und damit das Ganze – sich gleich zu drehen anfangen werden.24

In diesem Sonderraum verliert sich der Wanderer gänzlich. Ist die Beschreibung des Weges bis zum Waldrand eindeutig, so verliert sich die gebahnte Spur im Wald. Hier ist nicht ein ,erst das und dann das‘ zu vermerken, sondern die vie-len, zu vielen verschiedenen Jahreszeiten zurückgelegten Wege durch den klei-nen Wald25 machen aus diesem ein riesiges, sich drehendes Gelände, in dem die Richtungen sich so lange verändern, bis nur noch ein Raum- und gar kein Zeitge-fühl mehr vorhanden ist. Solcherart ins „Märchen“ versetzt26, kann für den Ge-henden auch das ganze Universum mit allen seinen möglichen Farben in einem unscheinbaren Holzstoß, der sich vor den Augen zu drehen beginnt, erscheinen, dann ist es aber auch Zeit zurückzukehren aus dem Wald „zu den Menschen“.

An der Schwelle zwischen dem Wald und dem Dorf, wo im Weg neu die Steine der Rö-merstraße leuchten, wieder ein Holzstoß, zugedeckt mit einer Plastikplane. Der recht-eckige Stapel mit den gesägten Kreisen ist das einzige Helle vor einem dämmrigen Hin-tergrund. Man richtet sich davor auf und betrachtet ihn, bis nur noch die Farben da sind:

die Formen folgen. Es sind auf den Betrachter gerichtete Läufe, die aber im einzelnen je-weils woanders hinzielen. Ausatmen. Bei einem bestimmten Blick, äußerste Versunken-heit und äußerste Aufmerksamkeit, dunkeln die Zwischenräume im Holz, und es fängt in dem Stapel zu kreisen an. Zuerst gleicht er einem aufgeschnittenen Malachit. Dann er-scheinen die Zahlen der Farbentest-Tafeln. Dann wird es auf ihm Nacht und wieder Tag.

Mit der Zeit das Zittern der Einzeller; ein unbekanntes Sonnensystem; eine steinerne Mauer in Babylon. Es wird der umfassende Flug, mit gebündelten Düsenstrahlen; und schließlich, in einem einmaligen Flimmern, offenbaren die Farben quer über den ganzen Holzstoß die Fußspur des ersten Menschen.

Dann einatmen und weg vom Wald. Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt; zurück zu den Plätzen und Brücken; zurück zu den Kais und Passa-gen; zurück zu den Glocken und Geschäften; zurück zu Goldglanz und Falten-wurf. Zu Hause das Augenpaar?27

24 Handke, Lehre, 99.

25 In der Beschreibung dominiert zwar Winterliches (Kälte, Schnee, Schneesturm) und Vorfrühlingshaftes („Nachwinter“, die „gelben Kätzchen“ des Haselstrauchs), was zu der Entstehungszeit des Textes passt („Geschrieben im Winter und Frühjahr 1980, in Salz-burg“), jedoch zweimal wird der Wechsel der Jahreszeiten eigens betont: „Der Hohlweg, in den zu jeder Jahreszeit die Herbstblätter einschweben“ und „Der Gesang [der Vögel] wech-selt mit den Jahreszeiten“. Wenn die Kinder „barfuß“ durch den Wald gehen und das Grün der Wiesen betont wird, ist wohl doch auch an den Sommer zu denken.

26 Mit dem Motto, das dem Text vorangestellt ist, ist der magische Spazierraum, wie er in Goethes Märchen gestaltet ist, schon angesprochen und nicht zuletzt die „irrlichternden weißen Wölkchen zwischen den Bäumen“ (Handke, Lehre, 104) machen diesen Assozia-tionsraum am Ende der Erzählung wieder auf.

27 Handke, Lehre, 108–109.

Das Gelingen des Gehens also als Vorbote des gelingenden Schreibens oder Erzählens, das Gelingen der absichtslosen Wahrnehmung der Welt28 ist in die-sem Text in eigentümlicher Gleichzeitigkeit dargestellt: Der Text selbst ist in sei-ner ganzen Länge, wenn man es dann noch so nennen mag, ein nunc stans.

Betrachtet man nun die Weisen des Gehens, wie sie in dem Text beschrieben werden, muss man dieser Gleichzeitigkeit Rechnung tragen. Der Erzähler, der zugleich der Gehende ist, bleibt auf seinen Wanderungen immer wieder stehen.

Das Stehenbleiben und Innehalten lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gehen.

Wer geht, der geht einfach. Stehenbleibend macht sich der Erzähler erst klar, dass er geht oder gegangen ist. Wird das Gehen gehend selbst reflektiert, so kommt in der Unterbrechung dieses gleichmäßigen Ganges in Ruhe in den Blick, was den Gehenden umgibt.

Stehengeblieben ist die Wahrnehmung als nunc stans möglich: Die früher so schwer zu unterscheidenden Farben zeigen sich plötzlich alle auf einmal. Ste-hengeblieben, wird aus der plötzlichen Betrachtung unversehens eine Erzäh-lung: Davon handelt eigentlich der ganze Text. Erzählt wird von der Aufhebung der Zeit. Die „Einheit zwischen meiner ältesten Vergangenheit und der Gegen-wart“29 wird hergestellt, die im Motto enthaltene Erinnerung an „nichts und alles“30 wird so eingeholt. Eingeholt wird dies im erzählenden Gehen, im ge-henden Erzählen. Innehalten ist ein Ruhemoment mitten in der Bewegung, der Unterschied zwischen Gehen und stehender Betrachtung hebt sich auf. Gegen Ende des Textes ist dem gehenden Erzähler schließlich gar nicht mehr klar, ob er geht oder steht. Das ist Ausdruck der Unabsichtlichkeit, der Unwillkürlich-keit: „Ich ging, immer angesichts des Berges; blieb manchmal unwillkürlich ste-hen“31, dies steigert sich zum schon zitierten Satz: „Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich überhaupt stehengeblieben bin“32 und wird schließlich ein Gehen, dessen vordergründige Aktivität überhaupt nicht mehr sichtbar ist: „eine Ruhe, die ab-sichtslos weiterführt“33.

Stehengeblieben ist die Wahrnehmung als nunc stans möglich: Die früher so schwer zu unterscheidenden Farben zeigen sich plötzlich alle auf einmal. Ste-hengeblieben, wird aus der plötzlichen Betrachtung unversehens eine Erzäh-lung: Davon handelt eigentlich der ganze Text. Erzählt wird von der Aufhebung der Zeit. Die „Einheit zwischen meiner ältesten Vergangenheit und der Gegen-wart“29 wird hergestellt, die im Motto enthaltene Erinnerung an „nichts und alles“30 wird so eingeholt. Eingeholt wird dies im erzählenden Gehen, im ge-henden Erzählen. Innehalten ist ein Ruhemoment mitten in der Bewegung, der Unterschied zwischen Gehen und stehender Betrachtung hebt sich auf. Gegen Ende des Textes ist dem gehenden Erzähler schließlich gar nicht mehr klar, ob er geht oder steht. Das ist Ausdruck der Unabsichtlichkeit, der Unwillkürlich-keit: „Ich ging, immer angesichts des Berges; blieb manchmal unwillkürlich ste-hen“31, dies steigert sich zum schon zitierten Satz: „Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich überhaupt stehengeblieben bin“32 und wird schließlich ein Gehen, dessen vordergründige Aktivität überhaupt nicht mehr sichtbar ist: „eine Ruhe, die ab-sichtslos weiterführt“33.

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 116-144)