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Die Frucht der Muße oder Mon taigne im Turm

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 186-200)

Zur Genese der Essais als Auto(r)entwurf*

Angelika Corbineau-Hoffmann

Nach der Raum-Zeitlichkeit der Muße zu fragen bedeutet für die kommenden Überlegungen den Gang in ein anderes Land und eine vergangene Epoche. Zur Zeit der Renaissance, schon an der Schwelle zum Barock, verfolgt Michel Ey-quem, Sieur de Mon taigne, in der Abgeschiedenheit seines Schlosses ein litera-risches Projekt, das sowohl seiner T hematik als auch seiner Form nach Neues wagt: Er schreibt die drei Bücher seiner Essais.1 Deren Gegenstand, sagt Mon-taigne im Vorwort, sei er selbst, der Zweck nur ein häuslicher und privater.2 Diese ungewöhnliche, auf kein literarisches Vorbild rückführbare T hematik ei-ner reflektierenden Selbstdarstellung tritt in eiei-ner Form auf, für die ebenfalls kein vorgängiges Paradigma zu finden ist. Dantes Verlegenheit vergleichbar, sei-nem Hauptwerk einen Namen zu geben, findet auch Mon taigne, wie der Autor der Commedia wegen der Neuheit des Beginnens zu besonderen Entscheidungen genötigt, eine eigenwillige Benennung für sein Unterfangen: ‚Essais‘, Versuche.

Diese Bezeichnung benutzt er fortan, um das Werk insgesamt zu benennen, wäh-rend dessen einzelne Teile nicht ‚essais‘, sondern ‚Kapitel‘ heißen. Dies zeugt von einer klaren Konzeption im Hinblick auf das Werk als Ganzes. Dass Mon taigne mit den drei Büchern seiner Essais eine neue literarisch-philoso phische Gattung begründen sollte, dürfte er kaum intendiert und noch weniger geahnt haben.

Es ist eine zu immer erneuten Versuchen der Selbsterkundung ansetzende, auf intensiven Lektüren der antiken Klassiker beruhende Lese- und Schreiberfah-rung3, welche dieses seinerzeit und bis heute singuläre Werk hervorbringt. Dazu bedurfte es innerer, aber auch in demselben Maße äußerer Voraussetzungen. Um die Essais schreiben zu können, schuf sich Mon taigne spezifische räumliche und

* Da ich diesen Aufsatz am Beginn meines Ruhestandes schrieb, widme ich ihn, zur Er-innerung an viele Jahre harmonischer Zusammenarbeit, der Kollegin und den Kollegen aus dem Institut für Klassische Philologie und Komparatistik der Universität Leipzig.

1 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Michel de Mon taigne, Essais, 2 Bde., hg. v.

Maurice Rat, Paris 1962; unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl.

2 Mon taigne, Essais, I, unpag.

3 In der „Beziehung auf Erfahrung“ sieht Adorno eine konstitutive Bedingung des Es-says generell; vgl. T heodor W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: Noten zur Literatur, Ge-sammelte Schriften, Bd.11, hg. v. Rolf Tiedemann, 3.Aufl., Frankfurt a. M. 1990, 9–33, 18.

zeitliche Bedingungen, deren Eigenart sich im Folgenden herauskristallisieren soll. Sie konvergieren, nicht anders als zahlreiche Einsichten der Essais selbst, im zentralen Begriff des loisir.

Muße als Lebens-‚Form‘ (wenn nicht dieser Begriff die für ein Leben in Muße unabdingbare Freiheit allzu sehr einengt) ist, generell und unabhängig von Mon-taigne, an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Damit Muße sich entfalten und in der Folge jene kreativen Prozesse initiieren kann, die aus kulturwissen-schaftlicher Perspektive das besondere Interesse an ‚ müßigen‘ Geisteszuständen begründen, erfordert sie einen ihr gemäßen Raum und ein möglichst großes Maß an frei verfügbarer Zeit.

Der die vorliegende Publikation prägende Leitgedanke einer Raumzeitlichkeit der Muße lässt sich konkretisieren unter Rückgriff auf eine Konzeption, die zwar ohne Bezug zu dieser T hematik entstand, aber leicht auf sie Anwendung finden kann: Foucaults Heterotopie.4 Als „espaces“ oder „lieux autres“5 bezeichnet, ent-springen die Heterotopien der Idee eines grundsätzlich heterogenen Raumes, welcher sie im Übrigen auch ihre Bezeichnung verdanken. Räume im Raum sind von dem größeren Ganzen abgegrenzt (wie, mit einem Beispiel Foucaults, Se-niorenheime) oder diesem gegenüber ausgegrenzt: Foucault nennt hier zur Ver-anschaulichung psychiatrische Kliniken oder Gefängnisse.6 Gleich ob Ab- oder Ausgrenzung: Die Räume der Muße, so könnte eine erste Hypothese lauten, be-dürfen einer Grenzziehung, um sie von den übrigen Räumen zu unterscheiden und gleichsam vor ihnen zu schützen, denn die Muße ist störanfällig und lebt von ihrer Differenzqualität. Mit dem Rückzug in einen umgrenzten Raum geht bei dem Mußewilligen auch die Absicht einher, hier frei über die Zeit verfügen, sie als ‚seine‘ gestalten zu können. Scheinbar jenseits systematischer Erforder-nisse schließt Foucaults Heterotopie-Modell auch den Gedanken einer spezifi-schen Zeit-Gestaltung mit ein, die eine analoge Bezeichnung trägt: Heterochro-nie. Es mag dem unklaren Status des Foucault’schen Textes geschuldet sein7, dass dem temporalen Schwesterkonzept der Heterotopie in der Darstellung nur wenig Raum zur Verfügung steht: Foucault erläutert die Heterochronie einerseits am Beispiel von Museum und Bibliothek, die er im Zeichen einer intendierten Dehnung der Zeit interpretiert; andererseits nennt er die auf kurze Zeitspannen beschränkten Jahrmärkte und Feriendörfer8, denen eine längere Dauer jeglichen Reiz entziehen müsste.

4 Michel Foucault, „Des espaces autres“, in: Dits et écrits, Bd.4, hg. v. Daniel Defert u.

François Ewald, Paris 1994, 752–762 (Herv. A.C.-H.).

5 Foucault, „Des espaces autres“, 756.

6 Foucault, „Des espaces autres“, 757.

7 Foucault verweigerte lange Zeit die Publikation des 1967 entstandenen Vortrags; erst 1984 stimmte er einer Veröffentlichung zu (vgl. Foucault, „Des espaces autres“, 752).

8 Foucault, „Des espaces autres“, 759.

Obwohl die Darlegungen Foucaults zu Heterotopie und Heterochronie nicht durchweg die wünschenswerte konzeptionelle Präzision aufweisen, sind sie, vielleicht gerade wegen ihres in gewisser Weise unklaren und vorläufigen Cha-rakters, auf die Muße übertragbar. Die entsprechende Hypothese lautet: Zeit und Raum der Muße lassen sich in einem ersten Schritt analog zu den beiden Foucault’schen Kategorien bestimmen. Vor diesem Hintergrund wäre der Raum der Muße ein espace autre, von anderer, gegenüber den gewohnten Räumen aus-gezeichneter (Eigen-)Art, ausgegrenzt und abgeschlossen, verkapselt wie eine Monade, ebenso schützenswert wie de facto geschützt und, nicht zuletzt, kaum minder geheimnisvoll als jene Heterotopoi, zu welchen der Zutritt verboten oder nur ausnahmsweise erlaubt ist. Und die Zeit, die Heterochronie? Sie steht nicht im Zeichen des üblichen, so geregelten wie regulären Verlaufs, auf den man kei-nen Einfluss nimmt, sondern erfährt eine individuelle Bestimmung und in deren Folge eine Bedeutungszuweisung: Die Heterochronie, gleich ob sie ausgedehnt oder eingeschränkt ist, steht in engem, ja geradezu als Begründungsakt fungie-rendem Zusammenhang mit jenen Institutionen, deren Sinn sich aus ihr speist – kein Museum ohne intendierte Ewigkeit, kein Fest ohne zeitliche Begrenzung, aus dem es überhaupt erst seine Feierlichkeit bezieht. Kaum anders als die He-terochronie, folgt auch die Muße einem eigenen Zeitplan, indem sie kaum je ein ganzes Leben umfasst, sondern nur einen kurz- oder längerfristig angelegten Teil von ihm. So gönnte sich Cicero immer nur begrenzte Zeitspannen für sein otium in Tusculum, bevor er nach Rom zurückkehrte, um dort seine negotia wie-deraufzunehmen.9 Anders Ovid: Sein Exil in Tomae war ihm auf schmerzhafte Weise langfristig oktroyiert, gleichsam eine Muße wider Willen10, die jedoch eines seiner bedeutendsten Werke hervorbrachte, die drei Bücher der Tristien, welche, bemerkenswertes Faktum, den Ort des Exils hinter sich lassen, konkret:

den Weg nach Rom finden sollen.11 Ebenso wie der Raum bestimmt auch die Zeit in entscheidender Weise über die Früchte der Muße: Ohne den ‚Rahmen‘ von Heterotopie und Heterochronie kann kein ‚Bild‘ entstehen.

9 Die auf ‚Muße‘ und ähnliche Begriffe bezogenen Passagen aus seinen Werken werden behandelt in der Arbeit von Marianne Kretschmar, Otium, studia litterarum, Philosophie und βίος θεωρητικός im Leben und Denken Ciceros, Leipzig 1938 (Diss.).

10 Ovid selbst will diese Situation freilich nicht als Muße gelten lassen: „carmina seces-sum scribentis et otia quaerunt; / me mare, me venti, me fera iactat hiems.“ [„Dichtungen fordern des Schreibenden einsame, stille Besinnung: / mir wird das Meer, wird der Sturm, mir wird der Winter zur Pein.“] Tristium I, 1, 41f. Zitiert nach: Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Lateinisch/Deutsch, hg. v. Wilhelm Willige, Darmstadt 1995, 4f.

11 So heißt es gleich zu Anfang: „Parve – nec invideo – sine me, liber, ibis in urbem: / ei mihi, quod domino non licet ire tuo!“ [„Ohne mich gehst du, mein Büchlein, zur Stadt, und ich will es dir gönnen. / Weh mir! Ist deinem Herrn doch diese Reise versagt.“] Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung, I, 1, 1–2, 2f. In III, 1 spricht gar das Buch selbst von seiner Reise nach Rom!

Der Versuch, Foucaults Konzepte auf die Muße anzuwenden, erwies sich zwar in einem ersten Schritt als erfolgreich, muss aber weitere Überlegungen generie-ren, damit die Rahmenbedingungen der Muße genauer erfasst werden können.

Im Sinne dieser Zielsetzung reicht es kaum aus, den Raum negativ (als Abgren-zung oder Abschirmung) und die Zeit neutral (als lange oder kurze Dauer) zu bestimmen, bleiben doch auf diese Weise beide leer. Die Begrenzung von Raum und Zeit erlaubt noch keine Aussage darüber, wie diese beiden Grundkatego-rien der Muße intrinsisch beschaffen sind; die Unbestimmtheit, die ihnen bei Foucault eignet, dürfte für ihre Nutzung in konkreten, interpretatorisch ge-fügten Zusammenhängen kaum hinreichend sein. Sollen sie am Beispiel Mon-taignes und möglicherweise auch darüber hinaus Modellfunktion übernehmen, muss dieses ‚Modell‘ durch Feinarbeit allererst passgerecht gemacht werden: Wie ist der abgegrenzte Raum der Muße in seinem Innern beschaffen, wie wird die ihr gewidmete Zeit genutzt und vor allem erlebt?

Bei Mon taigne gibt es einen Entschluss zur Muße, über dessen Bedingungen wir recht gut informiert sind. Im Jahr 1571 zog sich Mon taigne von seinen Auf-gaben als Parlamentsrat in Bordeaux zurück und lebte fortan in einem Turm sei-nes Schlosses. Diesen Vorgang, den man heute als Idee eisei-nes Aussteigers bezeich-nen würde, hielt er an der Wand seines neben der Bibliothek gelegebezeich-nen Kabinetts fest12, gleichsam festgeschrieben für alle Zeiten:

À l’âge de trente-huit ans, la veille des calendes de mars, anniversaire de sa naissance, Michel de Mon taigne, depuis longtemps déjà ennuyé de la servitude de la Cour du Parle-ment et des charges publiques, mais se sentant encore alerte, vient se reposer sur le sein des doctes Vierges dans la paix et la sécurité; il y franchira les jours qui lui restent à vivre.

Et pensant que le destin lui permettra de parfaire cette habitation, il voue ces douces re-traites paternelles à sa liberté, à sa tranquillité et à ses loisirs.13

Der Text, von deutlich informierend-dokumentarischem Charakter, endet mit dem Wort „loisir“, Muße, platziert am Schluss einer Aufzählung, die man als Kli-max verstehen möchte. Am Vortag seines 38.Geburtstags, den Mon taigne nach antiker Weise unter Hinweis auf die Kalenden des März bestimmt, ruhe er sich, von der „servitude“ und den „charges“ seiner öffentlichen Ämter zunehmend er-müdet und ihrer überdrüssig, in den Armen der gelehrten Jungfrauen (gemeint sind die Musen) in Frieden und Sicherheit aus; dort werde er die Tage zubringen, die ihm noch zu leben bleiben. Diese süßen väterlichen Rückzugsräume widme er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße.

12 Raymond Esclapez weist darauf hin, dass solche Inschriften zu jener Zeit üblich, ja geradezu à la mode waren. Vgl. Raymond Esclapez, „L’oisiveté créatrice dans Les Essais.

Persistance et épanouissement d’un thème“, in: Claude Blum (Hg.), Mon taigne et les „Essais“

1588–1988. Actes du congrès de Paris (janvier 1988), Paris 1990, 25–39, 25, Anm. 1.

13 Mon taigne, Essais, VI (der Text wurde lateinisch verfasst).

Maurice Rat weist in seiner Einleitung zu der Ausgabe, nach der wir zitieren, darauf hin, dass diese Inschrift keineswegs als vollständiger „adieu au monde“

zu verstehen sei14; vielmehr habe Mon taigne auch nach dem Rückzug im Kreis seiner Familie gelebt und nicht wenige Besuche empfangen. Handelt es sich mit-hin um eine Selbstinszenierung mit Tendenz zur Fiktion? Nicht ganz, denn tat-sächlich bildet jener Rückzug in einen Zustand der Ruhe und Muße das Haupt-anliegen Mon taignes, dessen Ernsthaftigkeit nicht zuletzt die drei Bücher seiner Essais bekunden – sowohl elementar durch ihre Existenz als auch vielfach durch ihre Inhalte, auf die noch einzugehen sein wird. Trotzdem wäre im Weiteren zu bedenken, ob nicht das Werk Mon taignes auch Züge einer Selbststilisierung trägt insofern, als das ‚Ich‘ der Essais und sein Lebensraum im Zeichen einer künstlich-künstlerischen Konstruktion, nicht zuletzt ausgehend vom Schreib-projekt selbst, entstanden sind; von einem fiktionalen Ansatz ist dies allerdings grundsätzlich zu unterscheiden.15

Doch zurück zum Augenblick des Rückzugs: Die oben angeführte Inschrift scheint alle Informationen zu liefern, die zum Verständnis von Mon taignes Schritt in die Existenz eines ‚Privatiers‘ nötig sind. Es ist vom Zeitpunkt des Rückzugs die Rede, von dessen Grund und von dem Ort, an dem Mon taigne die ihm verbleibende Lebenszeit zu verbringen gedenkt. Der Unterschied von otium und negotium, von öffentlichen Aufgaben und privaten Studien, bestimmt den Grundduktus des Textes. Und doch bleibt die Frage bestehen, ob jene Begrün-dungen vollständig und für unsere weiteren Überlegungen hinreichend sind oder ob sich nicht hinter ihnen noch ein anderer Grund für Mon taignes Entschluss, nunmehr ein Privatmann zu sein, verbirgt. Um diesen Grund aufzuspüren und, davon ausgehend, zu verstehen, welche Bedeutung dem genannten otium und seinen Rahmenbedingungen zukommt, wird es einiger Denk- und Argumenta-tionsschritte bedürfen. Die Kernthese lautet, dass die Essais von Mon taigne die unmittelbare Folge jenes Entschlusses zur Muße sind; diese ermöglicht zunächst das Studium der alten Texte, dessen Exzerpte das Basismaterial bilden für die sich immer stärker und ausgreifender artikulierenden eigenen Gedanken, die wiederum das Schreiben als ihr Ausdrucksmedium – oder: die Form des Essays als ‚Aufschreibesystem‘16 im Sinne jenes „mettre en rolle“ generieren, von dem

14 Mon taigne, Essais, VI.

15 Versteht man Fiktionen mit Goodman als Konstruktionen eigener Welten (vgl. Nel-son Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 2008) jenseits der Empirie, sind davon solche Verfahrensweisen zu unterscheiden, die, wie etwa bei Mon taigne, ausgehend von bestimmten Entscheidungen das Ich und/oder seine Lebensräume umgestalten. Selbst wenn unserer T hese zufolge das ‚Ich‘ der Essais aus diesen erst hervorgeht, statt ihnen vorgelagert zu sein, handelt es sich dabei nicht um eine Setzung im Sinne des ‚Als-ob‘, sondern um den konkret-realen Vorgang einer Identitätsgewinnung durch den Schreibprozess. Es ist frei-lich hinzuzufügen, dass die hier angesprochene Problemstellung weiterer Überlegungen bedürfte, als es im gegebenen Rahmen möglich ist.

16 Wir übernehmen die Formulierung und das Konzept Friedrich Kittlers (Friedrich

das Kapitel über den Müßiggang spricht.17 Auch sei, so die zweite T hese, für die-ses so innovative Schreiben ein neues, gegenüber dem bekannten grundlegend anderes Ich nötig gewesen; es wird zu fragen sein, ob dieses in Analogie zu He-terotopie und Heterochronie, so wie Foucault sie verstanden hatte, nachgezeich-net und interpretiert werden kann. Jenes neue Ich bildet das Zentrum all jener Akte der écriture, die in ihrer Gesamtheit die drei Bücher der Essais ausmachen.

Kurz, aus dem loisir entsteht ein Werk als Begründungsakt einer Gattung, das ein anderes Ich Mon taignes als das bis dahin bekannte zu seiner Voraussetzung hat. Angesichts der Rückzugsthematik darf vermutet werden, dass dieses neue Ich gegenüber dem öffentlichen nunmehr ein privates ist, ganz so, wie Mon-taigne im Vorwort Ziel und Zweck seiner Essais bestimmt.

Von den zahlreichen in der Inschrift genannten Aspekten bedarf vor allem ei-ner des Kommentars: Wenn von den „douces retraites paternelles“ die Rede ist, sind speziell jene Anbauten gemeint, die nach den Plänen von Mon taignes Vater dem Besitztum hinzugefügt wurden. 1552 hatte Pierre Eyquem das Renaissan-ceschloss mit einer Befestigungsmauer versehen lassen, an deren Eckpunkten sich jeweils ein Turm befindet. Ein solcher Ausbau ist zu jener Zeit ungewöhn-lich, denn die Tendenz führt in die entgegengesetzte Richtung: Zahlreiche mit-telalterliche Burgen wurden im Stil der Renaissance erweitert oder umgebaut;

dies betraf zum Beispiel Blois, das Stammschloss von Charles d’Orléans, oder das Schloss von Amboise, vor dessen Terrasse der Vater von Agrippa d’Aubigné seinen noch minderjährigen Sohn beschwor, die dort gehängten Protestanten zu rächen.18 In der Formulierung „douces retraites paternelles“ bezieht sich Mon-taigne ausdrücklich auf seinen Vater, mit dem er sich eng verbunden fühlte.19 Nach dessen Tod im Jahre 1568 wurde Michel Eyquem nun seinerseits Sieur de Mon taigne und gelangte in den Besitz eines reichen Erbes, das ihm ein Leben in Muße ermöglichte. Den größeren der beiden Ecktürme ließ er als Raum für seine Muße herrichten: Bereits vorher war das Untergeschoss als Kapelle genutzt worden; darüber, im ersten Stock, befand sich fortan das Schlafzimmer Mon-taignes, ganz oben schließlich, neben einem kleinen Kabinett, ein Bibliotheks- und Arbeitszimmer mit einem herrlichen Rundblick in die umgebende Land-schaft. Hier entstanden während der einundzwanzig Jahre Lebenszeit, die Mon-taigne noch beschieden waren, die Essais.

Die Wahl des Raumes verweist auf den verstorbenen Vater, die Ausgestal-tung der Bibliothek auf Mon taignes besten Freund. Die Bücher, deren eine Bi-Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003), können aber im gegebenen Zusam-menhang nur auf die Problematik der écriture der Essais hinweisen, ohne ihr nachzugehen.

17 Vgl. unten 188f.

18 Vgl. Agrippa D’Aubigné, „Sa vie à ses enfants“, in: Œuvres, hg. v. Henri Weber, Paris 1969, 381–463, 385f.

19 Mon taigne spricht von ihm als dem „meilleur père qui fut oncques“ (Mon taigne, Essais, I, LXXI [De l’amitié]).

bliothek bedarf, stammen zum größten Teil nicht von Mon taigne selbst, son-dern sind das Erbe von Étienne de la Boétie, der im Jahr 1564 verstorben war.

Eine der Wände des ebenfalls auf der Bibliotheksebene befindlichen kleinen Kabinetts trug eine später entfernte lateinische Inschrift, die uns in folgendem Wortlaut überliefert ist:

Michel de Mon taigne, privé de l’ami le plus tendre, le plus cher et le plus intime, du com-pagnon le meilleur, le plus savant, le plus agréable et le plus parfait qu’ait vu nostre siècle, voulant consacrer le souvenir du mutuel amour qui les unissait l’un à l’autre par un té-moignage particulier de sa reconnaissance et ne pouvant le faire de manière plus expres-sive, a voué à cette mémoire tout ce savant appareil d’étude, qui fait ses délices.20 [Michel de Mon taigne, der den zärtlichsten, liebsten und engsten Freund, den besten, gelehrtesten, angenehmsten und vollkommensten Gefährten verlor, den unser Zeitalter kannte, wollte dem Gedenken an die wechselseitige Liebe, die beide verband, ein be-sonderes Zeugnis seiner Dankbarkeit weihen und konnte dies auf nicht ausdrücklichere Weise tun, als diesem Gedächtnis diese gelehrte Studienausrüstung zu widmen, die seine höchste Freude (sein Entzücken) ausmacht.]

Hier wird der Gedanke entwickelt, dass der Turm auch ein posthumes Monu-ment der Verbundenheit mit La Boétie sein soll. Mon taigne vergegenwärtigt den Freund und Gefährten in nicht weniger als sieben preisenden Epitheta, und der Gedächtnisraum selbst wird durch die emphatische Formulierung hervorgeho-ben, er sei Mon taignes Entzücken („délices“). Im Turm bleibt die Erinnerung an den Freund ebenso gegenwärtig wie jene an den Vater. Mon taigne ist hier nicht allein, sondern vom Gedenken an jene beiden Menschen umgeben, die ihm am nächsten standen. Bildet mithin deren Gegenwart post mortem das tragende Fundament der Essais, so stehen auch sie, wie Mon taigne im Vorwort ausführt, im Zeichen der endenden Lebenszeit und sind gewissermaßen sub specie aeter-nitatis verfasst.21 Vater und Freund sind auch in einem Dokument verbunden, das weiteren Aufschluss gibt über die enge Verflechtung von Leben und Tod, von Einsamkeit und Gemeinschaft, aus deren Erfahrung die in den Essais

Hier wird der Gedanke entwickelt, dass der Turm auch ein posthumes Monu-ment der Verbundenheit mit La Boétie sein soll. Mon taigne vergegenwärtigt den Freund und Gefährten in nicht weniger als sieben preisenden Epitheta, und der Gedächtnisraum selbst wird durch die emphatische Formulierung hervorgeho-ben, er sei Mon taignes Entzücken („délices“). Im Turm bleibt die Erinnerung an den Freund ebenso gegenwärtig wie jene an den Vater. Mon taigne ist hier nicht allein, sondern vom Gedenken an jene beiden Menschen umgeben, die ihm am nächsten standen. Bildet mithin deren Gegenwart post mortem das tragende Fundament der Essais, so stehen auch sie, wie Mon taigne im Vorwort ausführt, im Zeichen der endenden Lebenszeit und sind gewissermaßen sub specie aeter-nitatis verfasst.21 Vater und Freund sind auch in einem Dokument verbunden, das weiteren Aufschluss gibt über die enge Verflechtung von Leben und Tod, von Einsamkeit und Gemeinschaft, aus deren Erfahrung die in den Essais

Im Dokument Die Raumzeitlichkeit der Muße (Seite 186-200)