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Was eigentlich ist „Moral“ ?

Im Dokument „…hinaus in die Tiefe…“ (Seite 83-87)

Philosophische Orientierungen zu Fragen moralischer Wertentscheidungen 1

1 Die Frage nach ethischen Prinzipien

1.2 Was eigentlich ist „Moral“ ?

Zwei Beispiele mögen diese Sprachverwirrung illustrieren, und zugleich zu einer begrifflichen Schärfung der Fragestellung überleiten:

Ein Redner im Herbst 2000 meinte zu Aufgaben der Lehrerbildung:

„…diese in gentechnischen Labors herangezüchteten Chimären aus Mensch und Tier, zu nichts anderem hergestellt, als eines Tages geschlachtet zu werden, um als Organbanken zu dienen …; - hier ist, meine ich, die Bildung in Schule und Hochschule gefragt, um über derart menschenverachtende Praktiken aufzuklären!“ 11

Die Stoßrichtung der Aussage ist klar: Mit einer als Schreckensszenario aus-gemalten Situationsbeschreibung will der Redner warnen vor den Möglichkeiten der Gentechnik. Seine Strategie ist aber bei genauerem Hinsehen nicht das Argument, das den Hörer zur eigenverantwortlichen Einsicht bringen soll, sondern die moralische Empörung, die als rhetorischer Gestus auf den Hörer übertragen wird, damit dieser sich die gleiche ablehnende Position zu eigen mache. Ist aber jemand, der auf diesem Wege zur Moral findet, ein moralischer Mensch? Streng genommen nicht, denn, so behaupte ich, die moralische Empörung allein verhindert eher Moral als dass sie sie fördern würde. Der Grund: Eine Auseinandersetzung und damit die Möglichkeit einer auch gegen Widerstreit gewappneten persönlichen Stellungnahme hat nicht stattgefunden. Ein solcher Mensch hätte vielmehr eine bestimmte Moral lediglich übernommen, ohne ihren Wert für das eigene Leben oder das anderer reflektiert zu haben.

Das zweite Beispiel:

In einem Radio-Feature zum Thema Xenotransplantation, also der Verpflan-zung tierischer Organe an Menschen meinte im Sommer 2000 ein Mediziner völlig überzeugt: Man habe angesichts der Proteste von Tierschützern Ethiker gefragt, die hätten keine prinzipiellen Einwände erhoben, also sei dieses Verfahren ethisch. - Man kann dieses Beispiel ohne Probleme übertragen auf

11 Es handelt sich um die persönliche Mitschrift eines öffentlich gehaltenen Referats, dessen Autor ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen nicht nenne, auch deshalb nicht, weil es sich hier nur um ein Beispiel für eine meiner Beobachtung nach gar nicht seltene Einlassung sog. Gebildeter zu entsprechenden Themen handelt, wobei es mir hier lediglich um die nachfolgend zu destruierende Argumentationsform geht.

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unsere Debatte: Angesichts von Problemen in der Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln habe man eine Kom-mission für Technologiefolgenabschätzung gefragt; die habe herausgefunden, es gebe keine prinzipiellen Einwände, also seien solche Lebensmittel ethisch vertretbar.

In dem Eingangszitat von Mohr scheint eine ähnliche Argumentation vorzuliegen.

Offensichtlich ist auch hier etwas anderes gemeint als das, was gesagt wird:

„Ethisch“ wird gesetzt für „richtig“ oder „akzeptabel“. Doch dieser Fehler verrät zugleich einen Fehler im moralischen Denken: Wer so redet, erwartet als „Ethik“

Handlungsvorgaben: Dieses darf man, jenes darf man nicht! Wertentscheidungen könnten demnach delegiert werden, etwa weil es verbindlich vorgegebene Werte gebe, die von Spezialisten, also z.B. Philosophen, geklärt und von anderen Spezia-listen, z.B. Pädagogen, vermittelt werden könnten. Was aber wäre dann Moral? Hat denn solch ein Mediziner, solch ein Lebensmitteltechniker selbst keine Moral, um verantwortlich sich mit dem Problem auseinander zu setzen? Hat entsprechend ein Kind, ein Jugendlicher keine eigene Moral, sondern ist er etwa moralisch nur dann, wenn er sich in gesellschaftlich oder kulturell vorgegebene Standards fügt?

Was also ist Moral, und wann eigentlich geht es um eine moralisch relevante Situation? Das muss nun weiter geklärt werden, nicht als abstrakt theoretische Frage, sondern als eine, die konkret auf die grundsätzlich gestellte Frage nach ethischen Prinzipien zielt.

Auf die Frage, wie ein Kind sittlich zu erziehen sei, gaben die Griechen die Antwort: wenn du es zum Bürger eines Staats von guten Gesetzen machst. Bereits vor 200 Jahren zitiert der Rechtsphilosoph Hegel diese Tradition mit einem ironischen Unterton12; die Meinung, Moral gründe sich und habe ihren Bezugspunkt im allgemein Geltenden, hatte schon damals ihre allgemeine Geltung verloren.

Allerdings meinte ursprünglich „Moral“ eben dies: Der allgemein gültige Brauch, griechisch „êthos“, etymologisch gleichbedeutend mit „Sitte“, ist das stets schon gültige Herkommen des Menschen, das Ge-Wohnte, an dem er sein Handeln ausrichtet. Der lateinische Begriff „mos / moralis“, ursprünglich nichts anderes meinend13, deutet dagegen schon eine Änderung des Sinns an, wird doch damit eher

12 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 153 Anm.

13 Darin liegt der Grund für die nach wie vor gebräuchliche Bezeichnungen „Moralphilosophie“ und auch „Moraltheologie“. Nach heutigem philosophischen Sprachverständnis ist es angemessener von philosophischer bzw. theologischer Ethik zu sprechen. (Vgl. meine Begriffs-Erklärungen auf den beiden nachfolgenden Seiten.) - Auch Kant hatte noch jenes alte Verständnis von „Moral“, so dass i.d.R., wenn er von „Moral“ redet, wir heute „Ethik“ lesen müssen. Wichtig ist diese Differenzierung nicht zuletzt im internationalen Verhältnis, weil etwa die französische Sprache diese Unterscheidung nicht macht, so dass die Disziplin „morale“ eben nicht „Moral“ in unserem

das je persönliche Streben, der Mut des einzelnen bezeichnet. Die Aufklärung im 18.Jh. hat unser Handeln dann nicht mehr in einem ihm vorausliegenden, nicht mehr hinterfragbaren Guten begründet, an dem unser Handeln sich zu orientieren habe, sondern in der Autonomie jedes Einzelnen: „Es ist nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“, so Kant.14 Das ist kein Aufruf zum Egoismus, im Gegenteil: In der Neuzeit hat der Mensch die Bindung an eine kosmische Weltordnung, an kirchliche Macht oder obrigkeitliche Gewalt verloren.

Infolge der Erfahrungen willkürlicher Herrschaftsgeltung (und sie machen wir heute in veränderter Form, wenn wir uns dem Wissen wie dem Urteil sog. Spezialisten ausgesetzt sehen), bürgt solche Bindung an Autorität keine Verlässlichkeit mehr, zudem ist sie durchschaubar geworden; damit sind Räume je persönlicher Lebens-gestaltung eröffnet; (zumindest in der Aufklärung, beides gilt heute nicht mehr ohne weiteres.) Auf sich selbst gestellt entdeckt der Mensch nicht nur die Möglichkeiten selbständig zu handeln, sondern erkennt, muss erkennen, dass er nur ist, was er ist, wenn er auch selbst Subjekt seines Handelns ist. Dies gilt seither als unaufgebbare Basis aller Moral: Von Moral zu reden ist sinnvoll nur im Horizont menschlicher Freiheit; genauer: Wäre nicht Freiheit der wesentliche Grund all unseres Handelns, gäbe es gar keine Moral. Das ist festzuhalten gerade auch angesichts der abgrün-digsten und gewalttätigsten Äußerungen von Menschen gegen Mitmenschen und Mitwelt, angesichts auch der grauenhaftesten Schrecken dieser unserer Freiheit, und auch angesichts realer Gefahren der Biotechnologie, etwa durch Präimplantations-diagnostik sich eine neue Form der Eugenik einzuhandeln. Der Versuch, Moral aus immer schon Bestehendem abzuleiten, selbst aus einem als ewig veranschlagten Wert wie etwa Humanität, dieser Versuch muss entschieden zurückgewiesen werden:

Die Delegation unserer eigenen Verantwortung an überhistorische oder menschen-unabhängige Mächte oder immer schon bestehende oder vorgegebene Werte zemen-tiert nur jene Gewalttätigkeiten. Retten kann uns vor ihnen nur, bewusster zur Eigen-verantwortung zu stehen.15

Und ist es nicht auch alltäglich so? Obwohl der Rückgriff auf eine allgemein-verbindliche Moral heute anachronistisch ist, ist doch immer wieder der einzelne mit allem Ernst gefragt, ist immer wieder Situationen ausgeliefert, die zum einen so und nur so, mit aller Verbindlichkeit beantwortet werden wollen, so dass sich

Sinne meint, sondern „Ethik“. Zu den Konsequenzen dieser Sprachregelung im Zusammenhang des Schulfachs „Ethik“ vgl. oben Kap. 1-2.

14 So der berühmte Anfangssatz seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ von 1785.

15 Diese These ist, nicht zuletzt im Kontext der vorliegenden, zwar philosophisch dimensionierten, aber als theologisch sich verstehenden Arbeit, massiv. Zur genaueren Erläuterung, die an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde, vgl. meine Notizen in der Einleitung.

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tiven definitiv ausschließen, und für die zweitens wir selbst persönlich gefragt sind, die wir also nicht an jemand anders delegieren können, Situationen also, in denen es uns ernst wird, um mit Gernot Böhme zu sprechen.16 Darum letztlich hat Kant Moral als wesentlich autonom aufgefasst. Eine anthropologische Fundierung erfährt dieses Plädoyer freilich bereits in der Antike. Auch die Nikomachische Ethik des Aristoteles ist als messerscharfe Kritik an bloß vorgestellten, vorgeordneten moralischen Normen zu verstehen. Zwar konstatiert Aristoteles unser aller Streben nach dem, was wir gut nennen können, als Grundzug aller Moral. Doch gegen seinen Lehrer Platon verabschiedet er sich von der Idee, als Endziel allen Handelns das Erreichen eines höchsten Gutes anzusehen. Vielmehr bietet gerade die Einsicht in die prinzipielle Unerreichbarkeit absoluten Gutseins die Voraussetzung, dass wir moralische Wesen sein und das Gute tun können. Das absolut Moralische wäre den Göttern oder den wilden Tieren vorbehalten: Beide kennen keine Moral. Was uns zu moralischen Wesen macht, ist das Streben selbst nach dem Guten, mithin die ganz persönliche Auseinandersetzung, vor der uns niemand retten kann, die zu spüren und zu gestalten wir aber üben können. Dies und nur dies kann aus Sicht der Philosophie ein ethisches Prinzip sein. Unüberholt hat Kant dies auf das Bild vom Menschen als krummem Holze mit aufrechtem Gang gebracht und schließt daraus: „Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, dass er [sc. der Mensch] wohl lebe; sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.“17

Deshalb unterscheidet die Philosophie in neuerer Zeit zwischen Moral und Ethik.

Moral ist der für den Einzelnen oder eine Gemeinschaft verbindlich geltende Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen. Ethik hingegen ist die kritische Untersuchung des Problembereichs der Moral, also davon, was es über-haupt heißt, dass wir moralische Wesen sind, und davon, wie wir dies sein können.18 Philosophie aber und ich denke auch Theologie (nicht der eigene Glaube!) betreibt Ethik und bringt keine Moral bei. Kants Frage Was soll ich tun? fragt also nicht nach konkreten Handlungsrezepten, was denn konkret zu tun sei, sondern fragt nach dem Sinn und den Gründen und der Notwendigkeit davon, dass wir uns überhaupt als moralische Wesen in der Welt verhalten. Indem so gefragt wird, wird freilich der Anspruch erhoben, Orientierung zu bieten dafür, dass wir uns auch tatsächlich als

16 So, wie oben Anm. 7 erwähnt, die zentrale These von Gernot Böhme: Ethik im Kontext.

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.

17 Immanuel Kant: Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 6. und 3. Satz; in:

Werke, ed.Weischedel, Bd.6, Frankfurt/M.: Insel 1964, S. 41 bzw. 37.

18 Erstmals konsequent hat mit dieser Unterscheidung in solcher Klarheit gearbeitet Patzig (1971), von dem ich diese definitorische (zugegebenermaßen künstliche) Unterscheidung zwischen Moral und Ethik übernehme.

moralische Wesen verstehen, dass also all unser bewusstes Leben und Handeln in Entscheidungen zwischen gut und böse sich vollzieht.19

Daraus ergibt sich eine klare pädagogische Konsequenz, die ich in folgende These fasse:

Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein Mensch erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung.

Auf unsere Frage bezogen: Auch in Fragen den Gentechnologie kann es nicht darum gehen, jungen Menschen bestimmte vorgegebene moralische Prinzipien beizubringen, sondern sie in die Lage zu versetzen, in eigener moralischer Verant-wortung sich mit Fragen der Ethik der Genetik auseinander zu setzen.

2 Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen

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