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MODELLE EINER GELINGENDEN, SEKTORENÜBERGREIFENDEN KOOPERATION

Im Dokument BUNDESINITIATIVE FRÜHE HILFEN (Seite 90-94)

SYSTEMATISCHE KOOPERATION DES GESUNDHEITSWESENS MIT

4.3 MODELLE EINER GELINGENDEN, SEKTORENÜBERGREIFENDEN KOOPERATION

4.3.1 LOTSENSYSTEME IN GEBURTSKLINIKEN: DIE PROJEKTE

»GUTER START INS KINDERLEBEN« UND »BABYLOTSE«

Fast alle Kinder in Deutschland (98 %) werden in Geburtskliniken geboren. Rund um die Geburt hat das Fachpersonal in den Kliniken daher Zugang zu nahezu allen Familien. Damit besteht hier grundsätzlich die Möglichkeit, dass Probleme von Familien bereits frühzeitig erkannt und ein pas-sendes Unterstützungsangebot vermittelt werden kann. In den gut evaluierten Modellprojekten

»Guter Start ins Kinderleben«54 und »Babylotse«55 werden alle Mütter und Väter im Rahmen des Klinikaufenthalts über die Möglichkeit der Vermittlung in Unterstützungsangebote informiert.

Dies geschieht durch Medien – wie Flyer und Plakate –, aber auch mittels einer gezielten Ansprache durch das medizinische Personal (Hebammen, Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte). Aufgabe der speziell für die Kontaktaufnahme mit den Eltern eingestellten Babylotsinnen und -lotsen bzw.

Familienhebammen in den Kliniken ist es, die Mütter und Familien mit den Unterstützungsange-boten des Netzwerkes Frühe Hilfen bekannt zu machen und sie ggf. auf Wunsch der Eltern direkt in passende Angebote zu vermitteln.

Der Erfolg dieser Ansätze konnte durch die wissenschaftliche Begleitforschung56 belegt werden. Es hat sich gezeigt, dass über Geburtskliniken ein guter Zugang zu allen Familien erreicht werden kann – insbesondere aber auch zu Familien, die psychosozialen, außerklinischen Angeboten eher kritisch gegenüberstehen und Hemmungen haben, sich Unterstützung zu holen. Die Länder Rheinland-Pfalz und Hamburg haben sich daher entschieden, diese Modellprojekte mit Mitteln der Bundesinitiative Frühe Hilfen fl ächendeckend auszuweiten. Eine bundesweite Disseminierung dieses Ansatzes steht noch aus, da auch Fragen der regelhaften Vergütung nicht geklärt sind. Bislang wurden diese Mo-delle entweder durch Stiftungsgelder oder durch Eigeninvestitionen der Kliniken zeitlich begrenzt fi nanziert. Dies wird bei gleichzeitig steigendem Kostendruck auf die Kliniken jedoch nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten sein.

4.3.2 ENTWICKLUNG UND ERPROBUNG EINES MODELLS ZUR SYSTEMATISCHEN EINBEZIEHUNG VON NIEDERGELASSENEN ÄRZTINNEN UND ÄRZTEN IN DIE FRÜHEN HILFEN

Belastende familiäre Lebenslagen gehen oft einher mit einem schlechten Gesundheitszustand der Kinder. Dies belegen Untersuchungen zum Auftreten von chronischen Erkrankungen bei Kindern.57 Im Kontext der Frühen Hilfen sind neben den Geburtskliniken und Hebammen insbesondere die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit familienorientiertem Tätigkeitsschwerpunkt von großer Bedeutung, da sie die alltägliche Versorgung leisten. Hier spielen Kinder- und Jugendmedizinerinnen und -mediziner, die die U-Untersuchungen durchführen, eine wichtige Rolle, da sie in der Fläche die Arztgruppe sind, die den größten Teil der Kinder von Geburt an betreut. Sie haben einen frühzeitigen, vertrauensvollen Zugang zu den Eltern und könnten prinzipiell in diesem Kontext auf

familienunter-stützende Hilfen hinweisen. Daneben sollten auch Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen Gynäko-logie, Allgemeinmedizin sowie Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie einbezogen werden, da auch sie mit belasteten (werdenden) Müttern und Vätern Kontakt haben können. Kinder-, Haus- und Frauenärztinnen und -ärzte sind oft die ersten und einzigen Fachkräfte, die Kinder im Alter von null bis drei Jahren oder schon während der Schwangerschaft systematisch auf ihren Gesundheitszustand und ihre gesunde Entwicklung hin untersuchen können.

Das NZFH hat daher ein mehrstufi ges Modellprojekt gefördert, das eine tragfähige Struktur zur fl ä-chendeckenden Vernetzung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit der Kinder-und Jugend-hilfe entwickelt und erprobt.

Etablierung von interprofessionellen Qualitätszirkeln als Vernetzungsplattform

Die kommunalen Netzwerke Frühe Hilfen, deren Auf- und Ausbau durch die Bundesinitiative geför-dert wird, dienen in erster Linie dem Aufbau einer fallübergreifenden Kommunikationsstruktur für die relevanten Akteure in der jeweiligen Kommune. Es sollen aber auch Vereinbarungen erarbeitet werden, die die regelhafte Zusammenarbeit im Einzelfall betreffen. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte haben einen Auftrag zur Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten. Sie sind weniger an ei-nem übergreifenden Strukturaufbau interessiert und sehen diesen auch nicht als ihre Aufgabe an. Ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit anderen Akteuren ist daher eher fallbezogen. Um den Aufwand zur Etablierung neuer Vernetzungsstrukturen für alle beteiligten Berufsgruppen so gering wie mög-lich zu halten, sollten im Projekt »Interprofessionelle Qualitätszirkel« bereits vorhandene Strukturen effi zient genutzt werden. Zu diesem Zweck wurde auf ärztliche Qualitätszirkel zurückgegriffen – eine bereits etablierte, tragfähige Struktur des fachlichen, fallbezogenen Austauschs unter Ärztinnen und Ärzten. Diese wurden als attraktive Vernetzungsplattform weiter ausgebaut und für Mitarbeitende der Kinder- und Jugendhilfe geöffnet. Durch die Ausbildung von Moderationstandems aus Ärzteschaft und Jugendhilfe wurden die interprofessionellen Qualitätszirkel in der Folge von Vertretungen beider Berufsgruppen moderiert und somit eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe etabliert. Für die Arbeit im interprofessionellen Qualitätszirkel wurde zudem eine eigene Dramaturgie, die »Familienfallkon-ferenz«, entwickelt, die eine strukturierte Bearbeitung von anonymisierten Fallbeispielen ermöglicht.

Die Begleitforschung konnte zeigen, dass durch diese gemeinsamen Sitzungen zum einen Vorurteile gegenüber dem jeweils anderen Professionszweig abgebaut werden konnten. Zum anderen konnten ein gemeinsames Fallverstehen gefördert, Verständnis für die jeweiligen Systemlogiken entwickelt und die partnerschaftliche Zusammenarbeit verbessert werden, was schließlich zu einer passgenaueren und damit besseren Versorgung von Familien führt. Die Verbindung zum kommunalen Netzwerk Frühe Hilfen wird durch die Moderatorinnen und Moderatoren sichergestellt.

Zentral für das Gelingen dieses Projektes war die Installierung einer Koordinierungsstelle – besetzt mit einer Sozialpädagogin – in der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, um die Ausbil-dung und den Einsatz der Moderationstandems landesweit zu organisieren und fachlich zu begleiten.

Mittlerweile ist dieses Modell fast fl ächendeckend in Baden-Württemberg etabliert. Die

Qualitätsdra-58

Vgl. Renner, I./Sann, A.

(2013). Frühe Hilfen: Die Prävalenz des Bedarfs. In:

Datenreport Frühe Hilfen.

Ausgabe 2013. Hrsg. vom NZFH und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfe-statistik. Köln, S. 16–19.

maturgie ist in das Handbuch der Kassenärztlichen Bundesvereinigung58 aufgenommen worden und steht damit allen Kassenärztlichen Vereinigungen bundesweit zur Verfügung.

Entwicklung und Evaluation eines Beobachtungsbogens zur Erkennung psychosozialer Belastungen von Familien im Rahmen pädiatrischer Früherkennungsuntersuchungen Um die routinemäßigen Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern stärker als bisher zur Einschät-zung von psychosozial bedingten UnterstütEinschät-zungs- und Hilfebedarfen sowie zur Vermittlung belasteter Familien in die Frühen Hilfen nutzen zu können59, wurde im Auftrag des NZFH von der Universität Freiburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Studie zur Entwicklung eines Be-obachtungsbogens zur Einschätzung von familiären Belastungsfaktoren durchgeführt. Auf der Basis von nationalen und internationalen Studien wurde dabei ein entsprechendes Dokumentationsinstru-ment für die kinderärztliche Praxis entwickelt. Damit können diejenigen Belastungen und Risiken für die kindliche Entwicklung erfasst werden, die nachgewiesenermaßen häufi ger auftreten und denen mit präventiven Unterstützungsangeboten entgegengewirkt werden kann.

Wie die Ergebnisse der Begleitforschung zeigen, lässt sich das Verfahren gut in den Praxisalltag in-tegrieren. Es fördert zudem die pädiatrische Wahrnehmung und Einschätzung der psychosozialen Lebenssituation eines Kindes in seiner Familie und seiner sozialen Umgebung. Es könnte sowohl als Screeninginstrument als auch als Instrument der Fallfi ndung eingesetzt werden.

Die Ergebnisse zeigen allerdings auch, dass die Ärztinnen und Ärzte zwar Belastungen feststellen, die Mütter aber dennoch nicht auf ihren Unterstützungsbedarf ansprechen bzw. sie nicht in die Frühen Hilfen weitervermitteln. Dies deutet zum einen darauf hin, dass die Anwendung des Beobachtungs-bogens eine entsprechende Schulung voraussetzt, die es Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten ermöglicht, den Aufmerksamkeitsfokus vom Kind auf die Eltern und deren Lebensumstände zu ver-lagern. Zum anderen brauchen sie auch eine gute Kenntnis und Vertrauen in das jeweilige lokale Hilfesystem, um »ihre Patientinnen und Patienten« zu vermitteln.

Beiden Befunden wird durch folgende Projekte Rechnung getragen: Das NZFH fördert in Koope-ration mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg eine ModeKoope-rationsfortbildung für interprofessionelle ärztliche Qualitätszirkel (s. o). Zudem wird derzeit eine spezifi sche Fortbildung entwickelt, um niedergelassene Ärztinnen und Ärzte im Umgang mit dem Beobachtungsbogen als Instrument der Fallfi ndung zu schulen.

Vergütungsregelung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte im Kontext Frühe Hilfen Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte werden sich auf Dauer nur dann in das System der Frühen Hil-fen integrieren lassen, wenn ihre dafür erforderlichen Beratungs- und Vermittlungsleistungen auch vergütet werden. Diese Leistungen gehen über die derzeit im Leistungskatalog der Krankenkassen vergütete Beratungszeit hinaus und müssten den Ärztinnen und Ärzten außerhalb der budgetierten Gesamtvergütung honoriert werden. Daher wurde die Entwicklung der »Interprofessionellen

Quali-60

Mall, V. (2013): Erfassung psychosozialer Belastungen in den Früherkennungs-untersuchungen im 1. Lebensjahr. In: Kinder-ärztliche Praxis – Soziale Pädiatrie und Jugend-medizin, Jg. 84, S. 94–100.

tätszirkel« von intensiven Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen aus dem Land Baden-Württemberg begleitet. Ziel war es, unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände ein realisti-sches Vergütungssystem für die dauer- und regelhafte Mitarbeit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in den Frühen Hilfen zu entwickeln.

Die Verhandlungspartner einigten sich auf folgende Vergütungsgegenstände: Vergütet werden können künftig der Einsatz des Beobachtungsbogens zur familiären Belastungseinschätzung sowie das Führen eines vertiefenden Gesprächs mit den Eltern zur Vermittlung in das Netzwerk Frühe Hilfen mit seinen jeweiligen Unterstützungsangeboten. Diese Vergütung wird aber nur gewährt, wenn eine Teilnahme an den interprofessionellen Qualitätszirkeln und den Fortbildungen zur Fallfi ndung und zur »moti-vierenden Gesprächsführung« mit den Eltern nachgewiesen werden kann. Diese Maßnahmen dienen der Qualitätssicherung.

Sehr intensiv wurde der Einsatz des Anhaltsbogens entweder als Flächenscreening oder als Instrument der Fallfi ndung unter den Vertragspartnern diskutiert. Es bestand Konsens darüber, ein selektives und sowohl durch die klinische Expertise der Ärztinnen und Ärzte als auch durch eine kriteriale Systema-tik (Anhaltsbogen) geleitetes Verfahren zur Fallfi ndung im Sinne eines klinischen Case-Findings60 zu präferieren. Ziel einer solchen Vorgehensweise ist es, eine Stigmatisierung von Familien zu vermei-den und eine letztlich wenig hilfreiche Durchführung von Massenscreenings zu verhindern. Letztere würden wahrscheinlich eine hohe Zahl falsch positiv identifi zierter »angeblich belasteter Familien«

hervorbringen. Geht man nach bisherigen Schätzungen davon aus, dass etwa 10 bis 15 % der Fami-lien als belastet gelten können, ist dies auch unter gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten von Bedeutung.

Des Weiteren konnte von den Vertragspartnern eine Verfahrenslücke zwischen den unterschiedlichen Systemen geschlossen werden (s. o.): Die Vertretungen der Krankenkassen und der kommunalen Spit-zenverbände einigten sich auf einen Katalog von Qualitätskriterien, die von der Kinder- und Jugend-hilfe bei der Übernahme des Einzelfalls sichergestellt werden müssen.

Die Rahmenvereinbarung zu einem Selektivvertrag zwischen dem BKK Landesverband Süd, der Kas-senärztlichen Vereinigung Baden Württemberg und den beiden kommunalen Spitzenverbänden wird am 1. Juli 2014 unterzeichnet. Dies ist ein wichtiger Schritt, um den Beitrag der niedergelassenen Ärzteschaft in den Frühen Hilfen dauer- und regelhaft zu sichern. Die Ergebnisse dieses Prozesses können auch anderen Bundesländern und Krankenkassen als Modell dienen. Mit der Kassenärztli-chen Bundesvereinigung fi ndet daher Ende des Jahres 2014 eine bundesweite Veranstaltung für alle Kassenärztlichen Vereinigungen zur Vorstellung dieses Modells statt.

Im Dokument BUNDESINITIATIVE FRÜHE HILFEN (Seite 90-94)