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Ein Modell für Palliative Care im Netz: Das Beispiel der Region Aachen

Im Dokument Band 18 (Seite 192-199)

Palliative Care im Netz

3. Ein Modell für Palliative Care im Netz: Das Beispiel der Region Aachen

Im Folgenden steht die Geschichte und Entwicklung des Palliativen Netz-werkes in der Region Aachen im Vordergrund. Bewährte Konzepte in dieser Region wurden zur Vorlage für spätere gesetzliche Rahmenbedingungen in der hospizlichen und palliativen Versorgung in Deutschland. Die damalige Bundesgesundheitsministerin Ursula Schmidt nahm in der Gesundheitsre-form 2007 die schon langjährig vernetzte palliative Versorgung in der Region zum Vorbild für den gesetzlichen Anspruch auf ambulante spezialisierte palliative Versorgung für alle Krankenversicherten am Lebensende.

3.1 Aachener Hospizgespräche

1995 treffen sich zum ersten Mal 23 verschiedene Adressaten zum ersten sogenannten Aachener Hospizgespräch. Interessierte Institutionen, Dienste und fachkundige Bürger werden eingeladen, sich zum Thema Sterbebeglei-tung zu vernetzen, fortzubilden und auszutauschen. Dies entwickelt sich zu einem Erfolgskonzept völlig unabhängig von jedweden gesetzlichen Vorga-ben. Kontakte werden über Jahre geknüpft, kleinere und größere Netzwerke entwickeln sich auf organische Weise aus der praktischen Arbeit heraus und verknüpfen sich nach und nach zu einem sinnvoll wachsenden interdiszipli-nären und sektorenübergreifenden Versorgungsnetzwerk angesichts prakti-scher Notwendigkeiten für den schwerstkrankten Menschen und seiner An-gehörigen.

Die Aachener Hospizgespräche reisen durch die Region und werden je-desmal von anderen Institutionen und Diensten ausgerichtet. Diese Tradition intensiviert das Kennenlernen und schafft nebenbei eine Kultur des Vertrau-ens und der Kooperation untereinander. Mittlerweile werden über 400 ver-schiedene Institutionen und Dienste regional und überregional zu ca. sechs Veranstaltungen pro Jahr eingeladen.

Sowohl für Transparenz als auch für eine zukunftsfähige Qualitätsent-wicklung in der palliativen Versorgung wird hiermit eine tragfähige Basis geschaffen. Mit dieser Vorgeschichte kann auf sehr gut vorbereitetem Boden ein Prozess der weiteren Netzwerkentwicklung mit festeren Strukturen auf-gebaut werden.

Seit 2006 findet einmal im Jahr im Rahmen der Veranstaltungsreihe Aachener Hospizgespräche ein bundesweiter Kongress statt, der sich nah an den aktuellen gesundheitspolitischen Themen der palliativen und hospizli-chen Versorgung in Deutschland orientiert.

Der Zuspruch ist mit ca. 400 TeilnehmerInnen sehr groß. Die Kongresse ermöglichen Diskurse zu Themen wie „Palliative Care und Hospizarbeit – Bestandsaufnahmen und Visionen“ oder „Hospizarbeit und Palliative Care in Europa – voneinander lernen“ und bringen ExpertInnen und Funktionsträge-rInnen der Verbände und der Landes- wie Bundesregierung miteinander ins Gespräch. Hier werden Impulse und Akzente für die Entwicklung der pallia-tiven Versorgung in Deutschland gesetzt. So wird es möglich, aus den schon vorausgegangenen Erfahrungen und in einem regelmäßigen Austausch mit dem Bundesgesundheitsministerium die gesetzlichen Rahmenbedingungen mitzugestalten und bewährte Konzepte zur vernetzten palliativen Versorgung in die Gesetzesvorlage mit einzubringen. VertreterInnen aus zahlreichen Institutionen und Diensten nehmen regelmäßig an den Aachener Hospizge-sprächen teil und sind an der ständigen Weiterentwicklung des Netzwerkes mitbeteiligt (vgl. Abb. 2, S. 194).

3.2 Servicestelle Hospiz für die StädteRegion Aachen:

Institutionelle Koordination und Vernetzung (Care Management)

2001 wird auf Initiative der Mitglieder der Aachener Hospizgespräche eine Koordinationsstelle eingerichtet, die verantwortlich ist für die Organisation und Durchführung der Aachener Hospizgespräche, Fortbildungen für ehren-amtliche und professionelle MitarbeiterInnen der hospizlichen und palliativen Arbeit, Öffentlichkeitsarbeit und das Hospiztelefon für die StädteRegion Aachen.

Die Servicestelle Hospiz wird an einen neutralen Träger (Bildungswerk Aachen – ein Weiterbildungsinstitut) angebunden. Bewusst wird ein konfes-sions- und verbandlich ungebundener Träger gewählt. So genießt diese Stelle aufgrund ihrer Neutralität das Vertrauen der NetzwerkteilnehmerInnen bzw.

der LeistungserbringerInnen. Dies ist ein weitsichtiger Schritt zum Thema Transparenz in einer städteregionsübergreifenden Netzwerkentwicklung. Bis

heute lebt die Servicestelle Hospiz von Spenden, Mitgliedsbeiträgen und freiwilligen Zuschüssen der Kommunen.

Lehrstuhlu.

Abb. 2: Teilnehmende Institutionen an den Aachener Hospizgesprächen

3.3 Fachtagung und Institutionalisierung des Aachener Netzwerkes der palliativen Versorgung

Die Initialzündung zur institutionalisierten Netzwerkgründung in Aachen bildet letztendlich eine Fachtagung im Dezember 2007. Mit fast 100 Vertre-terInnen der verschiedenen Institutionen wird in vier verschiedenen Work-shops zu den Themen Kommunikation, Konkurrenz und Kooperation, Case Management, Qualitätssicherung und gemeinsame Dokumentation gearbeitet.

Im Rahmen eines basisdemokratischen Meinungsbildungsprozesses einigen

sich die TeilnehmerInnen darauf, die Servicestelle Hospiz mit der Bildung einer Steuerungsgruppe treuhänderisch zu beauftragen, die die weitere Struk-turgebung des Netzwerks vorbereiten soll. Ziel ist es, ein Modell der flächen-deckenden ambulanten und stationären Versorgung für die Region zu erarbei-ten.

Im ersten Halbjahr 2008 gibt sich das Netzwerk eine feste Struktur durch die Gründung eines gemeinnützigen Vereins und vereinbart im Rahmen einer Charta die Grundlagen und Spielregeln für die Zusammenarbeit aller Betei-ligten. Dieser Prozess wird jeweils von einer gewählten interdisziplinären Arbeitsgruppe von acht Vertreten aus den verschiedenen Bereichen vorberei-tet.

Bestätigt und weiterentwickelt werden die Vorschläge von einer Steue-rungsgruppe bestehend aus 30 VertreterInnen, die insgesamt ein breites Spektrum der palliativen Versorgung in der Region abdecken. So wird eine permanente Transparenz von in die beginnenden festeren Strukturen mit eingeplant und in eine lebendige Praxis umgesetzt. Alle TeilnehmerInnen des Prozesses haben Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeit.

Nach einem längeren Beratungsprozess – auch mit juristischem Beistand – fällt die Entscheidung, einen Verein zu gründen (vgl. Abb. 3):

Abb. 3: Struktur des Netzwerks

Eine gemeinsam erarbeitete Satzung bildet die Grundlage der zukünftigen Zusammenarbeit, setzt die inhaltlichen Ziele fest und gibt dem bisher offenen Netzwerk eine klare rechtliche Struktur.

In seiner Satzung hält das Netzwerk folgende Zielsetzungen fest:

ƒ Das Netzwerk fördert insbesondere die sektoren- und berufsgrup-penübergreifende Kommunikation und setzt sich zum Ziel, die Um-setzung der Palliativversorgung bestmöglich zu unterstützen und zu vernetzen. Die Wünsche, Bedürfnisse des Sterbenden und seiner Angehörigen sollen dabei immer im Vordergrund der Palliativver-sorgung stehen.

ƒ Das Netzwerk versteht sich als wachsendes Angebotsnetzwerk und ist offen für alle in der Region zur Verfügung stehenden Ressourcen und Organisationen, die den gemeinsam erarbeiteten Qualitätsstan-dards entsprechen.

ƒ Der Satzungszweck soll insbesondere durch die Einrichtung einer zentralen Koordinierungs- und Beratungsstelle und durch die Ent-wicklung interner Leitlinien verwirklicht werden.

3.4 Netzwerk als Gütesiegelverbund

Eine flächendeckende Versorgung ist in Zukunft vor allem auch im ländli-chen Bereich nur mit Hilfe der Regelversorgung zu gewährleisten. Daher wird einheitlich beschlossen, nicht nur Vertreter der spezialisierten palliati-ven Versorgung aufzunehmen, sondern von Beginn an die allgemeine Ver-sorgung mit einzubinden.

Alle Institutionen und Dienste verpflichten sich mit Eintritt ins Netz-werk, die gemeinsam erarbeiteten Qualitätsstandards für ihren Bereich inner-halb von zwei Jahren umzusetzen.

Am Beispiel stationärer Einrichtungen der Altenhilfe bedeutet dies, sich mit einer Übergangsregelung von zwei Jahren zu folgenden Punkten zu ver-pflichten:

ƒ Aufnahme palliativer und hospizlicher Leitlinien in die Standards;

ƒ Schulung des gesamten Personals des Hauses (Sensibilisierung für dieses Thema);

ƒ Eine fortgebildete Palliative Care Pflegefachkraft (160 UE) pro 30 Bewohner;

ƒ Ein Palliativmediziner, der die Einrichtung betreut und auch konsili-arisch zur Verfügung steht;

ƒ Kooperation mit einem ambulanten Hospizdienst, der nach § 39a ar-beitet;

ƒ Übergangsweise oder alternativ ist es auch möglich, mit einem am-bulanten spezialisierten Pflegedienst zu kooperieren;

ƒ Empfohlen wird die Teilnahme an den Aachener Hospizgesprächen.

Zu beobachten ist, dass gerade für die allgemeine Versorgung eine Entwick-lung angestoßen wird, in dem sich Altenheime, Krankenhäuser, Apotheken etc. auf den Weg machen, um diesen Standards zu entsprechen. Im Wesentli-chen aus zwei Gründen:

ƒ Sie entwickeln ihre eigenen Kompetenzen weiter, und dies wird über das Netzwerk öffentlich transportiert.

ƒ Sie werden fachlich sicherer, dem steigenden Bedarf an palliativer und hospizlicher Arbeit mit mehr fachlicher und struktureller Si-cherheit entgegentreten zu können.

ƒ Sie haben die Möglichkeit, im Verbund Ressourcen und Kompeten-zen aus dem Netzwerk anzufragen und anzubieten.

3.5 Implementierung von Palliative Care in die stationären Einrichtungen der Alten- und der Behindertenhilfe

Die Servicestelle Hospiz hat in enger Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Fortbildungsangebote in Palliative Care für die allgemeine Versorgung z. B.

für stationäre Pflegeheime oder auch stationäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderung entwickelt. Da es zu den Kernaufgaben dieser stationären Einrichtungen gehört, BewohnerInnen bis zuletzt zu begleiten und zu pfle-gen, gibt es bereits Grundkompetenzen der Fachkräfte in der hospizlichen und palliativen Versorgung. Auf dieser Grundlage baut das nachfolgend beschriebene Projekt auf, dessen Ziel es ist, eine Verbesserung der palliativen Versorgung in der Regelversorgung unseres Gesundheitssystems zu errei-chen. Immer mehr BewohnerInnen versterben in stationären Einrichtungen der Altenhilfe, welche zu ihrem Zuhause geworden sind. Daher gelten diese Einrichtungen auch als ambulant für den palliativen und hospizlichen Be-reich.

Es gibt viele Gründe, weshalb BewohnerInnen kurz vor ihrem Tod noch in ein Krankenhaus eingewiesen werden müssen oder wollen. Dennoch muss es ein zentrales Ziel sein, dass BewohnerInnen nicht unnötig in der Termin-alphase in ein Krankenhaus überwiesen werden, sondern in ihrer Einrichtung menschenwürdig und fachlich kompetent begleitet versterben können.

So wurde in Zusammenarbeit mit mehreren Kooperationspartnern ein

Konzept zur Implementierung von palliativer und hospizlicher Arbeit in ihren Einrichtungen entwickelt. Ein wesentliches Anliegen war und ist dabei die Verbesserung der Versorgung schwersterkrankter Menschen, der Begleitung von Angehörigen sowie die Entlastung des Personals. In Kooperation mit der StädteRegion Aachen, dem Diözesanen Caritasverband für das Bistum Aachen e. V. und der Servicestelle Hospiz wird dieses Implementierungspro-jekt angeboten und durchgeführt.

Im Wesentlichen fußt das Konzept auf vier Säulen:

ƒ Im ersten Teil wird mit Hilfe einer ausführlichen Befragung ein Ein-richtungsprofil erstellt. Ressourcen, Stärken und Entwicklungsbe-darf sowie eine inhaltliche und strukturelle Empfehlung werden her-ausgearbeitet und benannt.

ƒ Im zweiten Teil wird jede Einrichtung vor Ort in einem Steuerungs-prozess begleitet, um die Implementierung Schritt für Schritt in die Praxis umzusetzen.

ƒ Währenddessen nehmen alle MitarbeiterInnen der Einrichtungen sukzessive an einer 16- bzw. 40-stündigen Basisschulung Palliative Care teil. Die Nachhaltigkeit wird u. a. gesichert durch die kontinu-ierliche Anbindung in Qualitätszirkeln bzw. in Palliativpflegeforen.

ƒ Pflegekräfte werden in 160 Unterrichtseinheiten zu SpezialistInnen für ihre Einrichtungen geschult. Pro Schulung nehmen zwischen vier und sechs Einrichtungen teil.

3.6 Abschluss der Konzeptphase und Startschuss für die Implementierungs- und Projektphase des Netzwerkes

Die Vereinsgründung ist Abschluss einer längeren Vorbereitungsphase und Startschuss für die Weiterentwicklung der flächendeckenden palliativen Ver-sorgung. Diese findet mit 60 Teilnehmern am 3. Dezember 2008 statt. 28 Institutionen werden Gründungsmitglieder. Zehn Mitglieder werden reprä-sentativ aus den verschiedenen Bereichen der Versorgung in den Vorstand gewählt: Ambulanter Hospizdienst, Lehrstuhl für Palliativmedizin, speziali-sierter Palliativpflegedienst, Altenheim, Palliativstation Medizinisches Zent-rum Würselen, Home Care Aachen, Hausärztevertreter, Sanitätshaus, Ser-vicestelle Hospiz, stationäres Hospiz. 2012 gehören 60 Institutionen und Dienste zu den Mitgliedern des Vereins.

Die Auftaktveranstaltung des neu gegründeten Vereins findet am 30. Ja-nuar 2009 im Krönungssaal des Aachener Rathauses mit 300 TeilnehmerIn-nen statt. Es ist ein folgerichtiger Abschluss eines transparenten und

öffentli-chen Prozesses. Die Öffentlichkeit verfolgt das Anliegen der Weiterentwick-lung einer Vernetzung in der palliativen Versorgung mit großem Interesse.

Die mediale Resonanz in Presse, Hörfunk und Fernsehen ist eine berührende Bestätigung für eine langjährige Einbindung aller wichtigen Gremien und auch der Öffentlichkeit in den gesamten Prozess.

Gleichzeitig ist es ein guter Anfang für die Weiterentwicklung zentraler Qualitätsstandards und Transparenz. Finanzielle Unterstützung wird mittler-weile auch über kommunale Mittel gewährt, um die zukünftigen Ziele der flächendeckenden Versorgung zu ermöglichen.

Im Dokument Band 18 (Seite 192-199)