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2. 4 Der Historiker als Fremder, Exilant und Mystiker

4.2 Zwischen Mikro- und Makroebene

Bei dem Versuch, sich gegenüber der Wissenschaft wie ein »Genosse« zu verhalten, stößt die Historiographie auf eine Schwierigkeit, die Kracauer unter das Stichwort

»Toynbees Quantitätsprinzip« fasst. Toynbee verteidigt seinen universalgeschichtli-chen Ansatz mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, der Überfülle an Informati-onen durch Klassifi zierung gerecht zu werden. Wie ist es möglich, die Masse der historischen Fakten zu bewältigen? Kracauer beobachtet in der Historiographiege-schichte zwei Arten, mit diesem Problem umzugehen. Der Ansatz der Philosophen und Th eologen gründet auf einer existentiellen Beziehung zum historischen Mate-rial. Spengler und Toynbee hingegen erfassen Geschichte als Teil der Natur. Beides lehnt Kracauer ab. Universalgeschichte hat die abstrakten Eigenschaften von »Luft-aufnahmen«, die ornamentale Muster abbilden – ein spätes Echo von »Das Orna-ment der Masse« (1927), in dem er selbiges mit »Flugbildern von Landschaften und Städten« vergleicht. Bereits hier kritisiert Kracauer die falsche Abstraktheit der Mo-derne. Das Massenornament erwachse nicht aus dem »Innern der Gegebenheiten«, sondern erscheine »über ihnen«.104

100 Ebd., S. 39. [H., S. 30 f.]

101 Ebd., S. 54. [H., S. 44.]

102 »Es gibt in der geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche Kausalität, denn Ursache im Sin-ne dieser Kausalität schließt in sich, daß sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbei-führt; die Geschichte weiß nur von den Verhältnissen Wirkens und Leidens, der Aktion und Re-aktion.« Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 197.

103 Kracauer, Geschichte, S. 54. [H., S. 44.]

104 Kracauer, Geschichte, S. 51. [H., S. 42.] Ders., »Das Ornament der Masse«, in: Ders., Das Orna-ment der Masse, S. 52. Zur Landschaftsphotographie der 20er und 30er Jahre vgl. Beckmann, »Ab-straktion von oben«.

Universalgeschichtlichen Analysen hält er einen mikrologischen Ansatz entge-gen, dem man sich aus zwei (nur formal voneinander zu trennenden) Perspektiven nähern kann: aus der Perspektive der »Wahrnehmung«, von der im Kapitel zu Na-mier die Rede war, oder aber aus der Perspektive des historischen Universums und seiner Struktur. Um Kracauers Ansatz zu verstehen, genügt es nicht, auf seine Kon-zeption des close up in der Th eorie des Films zu verweisen, vielmehr sind auch hier Texte des Frühwerks, insbesondere über Georg Simmel aufschlussreich. Gezeigt werden soll, inwiefern sich Kracauer von Simmel inspirieren lässt und von wel-chem Punkt aus er anders argumentiert. Eine wichtige Bezugsgröße sind außerdem Benjamins Arbeiten, Einbahnstraße oder Ursprung des deutschen Trauerspiels, die Kracauer 1928 für die Frankfurter Zeitung rezensierte. Er verfasste schließlich mit den Angestellten Ende der 20er Jahre eine »mikrologische« Untersuchung, die die späteren theoretischen Stellungnahmen entscheidend beeinfl usste.105

Kracauers »Th eorie der Stufen«, wie man heute formulieren würde106, die auch als ein Plädoyer für »refl ektierte Unschärfe« verstanden wurde107, hängt jedoch vor allem mit seiner räumlich determinierten Zeitkonzeption zusammen. In der Beto-nung der Vielschichtigkeit des historischen Universums und einer Analyse der

»Verkehrsbedingungen« zwischen den einzelnen Ebenen liegt ein wichtiges Mo-ment Kracauers geschichtstheoretischer Überlegungen, die einem mikrologischen Reduktionismus tatsächlich widerstehen.

Anregungen aus dem Frühwerk: Georg Simmels relationales Denken

Kracauer verfasste 1919 eine Schrift über Simmel, in der er sich von dessen relati-onalen Denken beeindruckt zeigt: Simmels Blick richtet sich stets auf die Mannig-faltigkeiten eines Phänomens, um dieses in all seiner Vielgestaltigkeit auszuleuch-ten. Mehr noch, er stellt die Problematik der Beziehungen zwischen Universalem und Partikularem als typisches Merkmal seiner Zeit dar. Fluchtpunkt des heuristi-schen Problems ist für ihn die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Welt-aneignung durch Kunst und Wissenschaft in der Moderne.108

In der Einleitung seiner Abhandlung stellt Kracauer Simmels Denken exposito-risch dar. Simmel unterscheidet zwischen Beziehungen der »Wesenszusammenge-hörigkeit der Dinge« und der »Analogie«. Indem Kracauer ersteren Begriff erläu-tert, beschreibt er eine der beiden Methoden, mit denen sich dieser den Be ziehungen zwischen den Erscheinungen annähert. Simmel besteht auf der Verbindung

zwi-105 Kracauers Jacques Off enbach und das Paris seiner Zeit kann ebenfalls als historische Mikrolektüre gelesen werden. Vgl. auch Despoix, »La miniature urbaine«.

106 Vgl. Revel (Hrsg.), Jeux d’échelles.

107 Meyer, »Kalkulierte Unschärfe«.

108 Vgl. Frisby, Fragmente, S. 55–67, bes. S. 57 f.

schen den Wesenheiten: »Aus dem Ganzen des geistigen Lebens läßt sich kein Ein-zelsein und kein Einzelgeschehen so herausschälen, daß es nunmehr aus sich allein erklärt und für sich allein betrachtet werden könnte. Wenn man trotzdem stets Tei-le absondert aus dem Mannigfaltigkeits-Zusammenhang, […] so erfolgt das einmal aus leicht einsichtigen praktischen Bedürfnissen, das anderemal berechtigt hierzu die relative Insichgeschlossenheit vieler dieser Teile und Teil gruppen.«109 Beispiele solcher Ganzheiten sind bezeichnenderweise Geschichtsepochen oder seelische Eigenschaften eines Menschen. Vernachlässigt würde zumeist das Verhältnis der Teile zu dem Ganzen, eine Problematik, die auch Kracauer in Geschichte beschäf-tigt. Anstatt die Verbindungen der Teile zum Ganzen zu betonen, würden diese vielmehr »für unabhängig erklärt und verdichten sich allmählich zu starren Einhei-ten, deren Bedeutung sich unlöslich an mehr oder minder aus ihrer Bedeutungsto-talität herausgegriff ene Merkmale heftet […].«110 Gefühle oder Charaktereigen-schaften würden so »zu Gebilden von harter Kontur, zu scharf voneinander isolierten Dingen, die so zugeschnitten und zurechtgestutzt werden, daß ihr Begriff in nichts mehr hinweist auf das […] Seinsmannigfaltige.«111 Simmels Anliegen ist hingegen, »jedes geistige Phänomen seines fälschlichen Fürsichseins zu entheben und zu zeigen, wie es eingebettet ist in die großen Zusammenhänge des Lebens«.112

Die Aufgabe besteht nicht nur im Aufweisen der Beziehungen zwischen den Dingen, sondern auch darin, »das Mannigfaltige als Totalität zu begreifen und die-ser Totalität irgendwie Herr zu werden.«113 Dazu stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung: »[E]ntweder man faßt einen Begriff von ihrer Ganzheit und gliedert ihm alles Besondere ein, oder man hebt beim Besonderen an und dringt von ihm aus in immer abgelegenere Gebiete des Mannigfaltigen vor, derart nach und nach die Ganzheit in das Blickfeld zwingend.«114 Simmel hebt bei dem Besonderen an, und auch Kracauer plädiert für diesen Weg, wobei er jedoch die Möglichkeit, auf diese Weise die Ganzheit in den Blick zu nehmen, skeptisch beurteilt. Bei Simmel verweisen die Zusammenhänge noch auf die Einheit der Welt – jeder einzelne ist als deren Fragment anzusehen.

Zwei Wege führten Simmel zu diesem Ansatz, der erkenntnistheoretische, der in Relativismus einmündet, und der metaphysische, der im Spätwerk zu einer Meta-physik des Lebens wird. Vorausgreifend ist anzumerken, dass der von Simmel weit gefasste Lebensbegriff , mit dem er Totalität auf ein »Urprinzip« zurückzuführen sucht, Kracauers Zustimmung nicht fi ndet – weder 1919, noch in Geschichte.115 Auch wenn Simmel daran lag, die Welt »durch ein allseitiges Ausschweifen vom

109 Kracauer, »Georg Simmel«, in: Ders., Frühe Schriften, Bd. 9.2., S. 150 f.

110 Ebd.

111 Ebd.

112 Ebd.

113 Ebd., S. 156.

114 Ebd., S. 158.

115 Ebd.

Einzelphänomen aus zu erobern«116, sieht Kracauer bei ihm ein Bestreben, das In-dividuelle »um seiner selbst willen« zu betrachten, wofür auch er selbst in Geschich-te eintritt. Triff t Simmel auf individuelle GestalGeschich-ten, »löst er sie aus ihrer Verwoben-heit mit den Erscheinungen heraus; sie gelten ihm als selbständige EinVerwoben-heiten, er verschmäht es, den individuellen Mikrokosmos in die Alltotalität einzubeziehen.«117 Dementsprechend defi niert Kracauer »Totalität« als »die vom Subjekt erkannte Mannigfaltigkeit mit Ausnahme der Individualität.«118

War eben davon die Rede, dass Simmel vom Fragment zur Totalität fortschrei-tet, erscheint hier ein Widerspruch, den Kracauer bestätigt: Simmels Denktätigkeit ist eine »verbindende wie aufl ösende.«119 Er bewegt sich laut Kracauer auf einer mittleren Ebene der Abstraktion, zwischen den Allgemeinheiten und den individu-ellen Erscheinungen. Simmel entledigt die Dinge ihrer Eigentümlichkeiten gerade soweit wie nötig, um das Verbindende zwischen ihnen aufzuzeigen. Im Vergleich zu Denkern, die im Transzendental-Idealismus wurzeln und deren Begriff e zu weit-maschig sind, verwendet Simmel ein feineres Netz, wobei die Lebensnähe letztlich, wie Kracauer anmerkt, um den Preis allgemeinerer Prinzipien erkauft wird: »Er senkt sich in die Vielgestaltigkeit ein und gibt so die allüberwölbende Einheit preis.«120 Diese Wechselbeziehung ist auch eine Voraussetzung von Kracauers Vor-raumdenken.

»Über Walter Benjamin« (1928) – Kracauer und Einbahnstraße

Fragt man nach den Hintergründen von Kracauers mikrologischem Ansatz, darf der Hinweis auf Walter Benjamin nicht fehlen. Seit seiner Zeit als Journalist bei der Frankfurter Zeitung verband Kracauer mit Benjamin eine Position, die er als »Ge-genposition zum philosophischen System« beschreibt, »das sich in Allgemeinbe-griff en der Welt versichern möchte.«121 Er spricht auch von einer »Gegenposition zur abstrakten Verallgemeinerung überhaupt.«122 In »Zu den Schriften Walter Ben-jamins« (1928) bespricht er sowohl dessen Ursprung des deutschen Trauerspiels, als auch Einbahnstraße (1928). Als erster wies er auf den Zusammenhang zwischen den beiden Werken hin, was ihre weitere Rezeption entscheidend beeinfl usste. In der Sammlung Das Ornament der Masse taucht die Rezension direkt nach der dort ebenfalls abgedruckten Einleitung von Kracauers Simmel-Arbeit auf, die 1920 in

116 Ebd.

117 Ebd., S. 159.

118 Ebd.

119 Ebd., S. 151. Vgl. Frisby, Fragmente, S. 64.

120 Ebd., S. 160.

121 Kracauer, »Zu den Schriften Walter Benjamins«, in: Ders., Das Ornament der Masse, S. 249–255, hier S. 249.

122 Ebd.

Logos veröff entlicht worden war. Mit weiteren Essays sind diese beiden Texte unter dem Titel »Perspektiven« zusammengefasst.

Teile aus Benjamins Einbahnstraße wurden vorab in der Frankfurter Zeitung pu-bliziert, wie auch Ernst Blochs Spuren oder Kracauers Essays. Alle drei Autoren be-trachteten das Feuilleton als paradigmatisch für modernes Schreiben: »[…] es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Worts – die Zeitung also – auf welchem seine Rettung sich vorbereitet.«123 In Einbahnstraße bediente sich Ben-jamin erstmalig der kleinen Form. Er fasst eine Reihe von Prosastücken, Glossen und Kurztraktaten zusammen, die er unter Bezug auf Georg Christoph Lichten-berg oder Karl Kraus als »Aphorismen«124 bezeichnete, während Adorno ihnen den Namen »Denkbilder« gab.125 Sie müssen als »in sich geschlossene diskursive Mona-den« angesehen werden, »die über sich selbst hinausweisen«, als »Momentaufnah-men«, die der Deutung bedürfen.126 Einbahnstraße, eine Refl exion über die Moder-ne, folgt weder einem thematischen roten Faden noch einer beliebigen Reihenfolge.

Das Werk wird sowohl kompositorisch, als auch typographisch und begriffl ich durch Elemente zusammengehalten, die auf die Großstadtproblematik verwei-sen.127

Kracauer behandelt in seiner Rezension erneut die Frage nach dem Zusammen-hang zwischen den Erscheinungen und den Ideen. Bei Benjamin ist für ihn »jede Idee eine Monade.«128 Er betone, so Kracauer, unter Bezug auf Platon und die Scholastik anstelle des systematischen Zusammenhangs der Phänomene die »dis-kontinuierliche Vielheit« der Ideen, die sich im »trüben Medium der Geschichte«

manifestieren.129 Ideen – auch das barocke Trauerspiel, das als eine solche aufgefasst werden kann – entstehen »nicht aus der unmittelbaren Fühlungnahme mit den le-bendigen Erscheinungen«.130 Die Wahrnehmung der Erscheinungen in der Erfah-rung oder Abstraktion erlaubt keinen Zugang zu den in den Erscheinungen verbor-genen Wesenheiten (im Trauerspielbuch das »Schicksal«, die »Melancholie« oder die »Ehre«). Dazu ist ein Akt der Destruktion erforderlich: »Die Welt zeigt dem ihr unmittelbar Zugewandten eine Figur, die er zertrümmern muß, um zu den Wesen-heiten zu gelangen«.131

123 Benjamin, Einbahnstraße, S. 98.

124 Schöttker verweist auf den Einfl uss der Kurzprosa von Friedrich Schlegel und Novalis, mit denen sich Benjamin in dem Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik befasst hatte. Schöttker,

»Nachwort. Aphoristik und Anthropologie«, S. 555 f.

125 Adorno »Benjamins Einbahnstraße«, in: Ders., Über Walter Benjamin, S. 55.

126 Raulet, »Einbahnstraße«, S. 364.

127 Vgl. Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, S. 185 f.

128 Kracauer, »Zu den Schriften Walter Benjamins«, S. 251.

129 Ebd., S. 249.

130 Ebd.

131 Ebd., S. 250.

Benjamin begibt sich daher laut Kracauer mitten in das »Stoff dickicht«132 hin-ein, anstatt es in der Abstraktion zu verdünnen. Die Vorstellung unterschiedlicher Dichtegrade von Wirklichkeit spielt auch für Kracauers historisches Universum eine wichtige Rolle. Er verdeutlicht Benjamins Vorgehen am Beispiel der Allegorie im Trauerspielbuch und unterstreicht die Wichtigkeit des »intentionalen Ur-sprungs« einer Idee.133 Es gibt einen lokalisierbaren Moment in der Geschichte, in dem sich die »echte« Bedeutung, oder auch das »Extrem« der Bedeutung eines Ele-ments enthüllt – im Falle der Allegorie des Barocktrauerspiels ist diese intentionale Bedeutung die der »todverfallenen Natur« oder anders ausgedrückt, die der »Ge-schichte als Leidensge»Ge-schichte der Welt«.134

Die intentionalen Bedeutungen einer Idee münden bei Benjamin, hat er sie erst aufgedeckt, in eine dialektische Bewegung ein – sie gehen nicht in einem abstrak-ten Oberbegriff auf, sondern vereinigen sich in der als Zeichen verstandenen Idee zur dialektischen Synthese, wobei jedoch die »volle Konkretheit« der einzelnen Ele-mente intakt bleibt. Es fi ndet keine »Aufhebung« in der Synthese statt, vielmehr ein ineinander Überspringen, das Kracauer mit einem elektrischen Funkenschlag vergleicht. Die Bedeutungen der Elemente existieren anschließend weiterhin als Teile, »haben, jede für sich, ihre gesonderte Nachgeschichte«.135

Es geht in Kracauers Rezension nicht nur um das Verhältnis der Teile zum Gan-zen einer Idee, sondern um das Verhältnis der Ideen zur Totalität im Sinne einer höheren Ordnung. Damit ist die theologische Ausrichtung von Benjamins Denken angesprochen, von der Kracauer sagt, dass sie seiner Zeit fremd gegenüber steht.

Mit derselben Intuition, die es Benjamin erlaubt, die Ideen an ihrem historischen Ursprung aufzusuchen, gelingt es ihm auch, ihren jeweiligen Ort in der »zeitlosen Ordnung der Ideenwelt«136 zu bestimmen. So erklärt sich die Vorstellung von der notwendigen Zertrümmerung der Figuren vor allem auf dieser Ebene der Betrach-tung: Da sich die Welt Benjamin als eine »verstellte« darbietet, da die unmittelba-ren Erscheinungen nur die »Fassade« der dahinterliegenden Ordnung verdecken, ist deren Destruktion erforderlich, will man zu den Wahrheitsgehalten vorsto-ßen.137

Kracauer spricht ein Motiv an, das sowohl in Benjamins Geschichtsthesen und auch bei ihm selbst, von den feuilletonistischen Essays über die Th eorie des Films bis hin zu Geschichte als wesentlicher Bestandteil des mikrologischen Blicks ausgewie-sen wird – nicht nur das »im Kleinen schauen« (also aus nächster Nähe), sondern auch das »Kleine« anschauen (im Sinne des Betrachtungsgegenstands), den

»Be-132 Ebd., S. 251.

133 Ebd., S. 250.

134 Ebd.

135 Ebd.

136 Ebd., S. 251.

137 Ebd., S. 251 f.

reich des Unscheinbaren, des allgemein Entwerteten, des von der Geschichte Übergangenen«.138 Bereits Gershom Scholem hatte die Anziehungskraft des Klei-nen auf Benjamin unterstrichen, wenn er erzählte, Benjamin habe ihn im August 1927 in das Pariser Cluny Museum mitgenommen, um zwei Weizenkörner zu be-trachten, »auf denen eine verwandte Seele das ganze ›Schema Israel‹ untergebracht hatte.«139

In Einbahnstraße wird eine Reihe von sechs Fragmenten, die sich mit der Erfah-rungswelt des Kindes befassen, unter die Überschrift »Vergrößerungen« gestellt.140 Kracauer widmet sich in der Th eorie des Films dem Großen und Kleinen über das Motiv von David und Goliath, anhand dessen gezeigt wird, dass »das vermeintlich Kleine und Schwache prahlerischer Größe oft überlegen ist.«141 Auch in Jacques Of-fenbach taucht dieser als David auf, der in seinen Werken die Kleinheit gegen die Großartigkeit der Oper verteidigt.142 Diese Umkehrung ist bei Benjamin nicht erst in »Über den Begriff der Geschichte«, sondern schon in Einbahnstraße mit einer rettenden Aktion verbunden, der »Enthüllung jener verborgenen Stellen und Kno-tenpunkte des Geschichtsverlaufs, an denen die Erlösung gemeint ist oder im Bild sich zeigt.«143

Benjamins Aphorismen haben, wie Kracauer unterstreicht, auch eine politische Dimension. Er widmete Einbahnstraße der russischen Marxistin Asja Lacis, mit der auch Kracauer bekannt war. Mit ihr verbrachte er im Rahmen seiner Streifzüge durch das Berliner Angestelltenmilieu für seine empirische Studie 1929 einen Abend im Lunapark.144 Zum Barockbuch schreibt er: »Die […] verwandte Metho-de Metho-der Dissoziierung unmittelbar erfahrener Einheiten muß, auf das Heute ange-wandt, einen wenn nicht revolutionären, so doch sprengenden Sinn erlangen.« Sie sei reich an »Detonationen«.145 Allerdings zieht Kracauer das Ergebnis in Zweifel:

»Hinter dem Schutthaufen kommen weniger reine Wesenheiten als vielmehr kleine materielle Partikel zum Vorschein, die auf Wesenheiten weisen.«146 In Einbahnstra-ße bezögen sie sich nicht auf die Geschichte, sondern auf die »diskontinuierliche Struktur der Welt«.147 Auch wenn die Sammlung nicht revolutionär sei, habe Ben-jamins Ansatz doch »sprengenden Sinn«148.

138 Ebd.

139 Scholem, »Walter Benjamin«, in: Ders., Judaica II, S. 199.

140 Benjamin, Einbahnstraße, S. 40–44.

141 Kracauer, Th eorie des Films, S. 433.

142 Kracauer, Jacques Off enbach, S. 165.

143 Kracauer, »Zu den Schriften Walter Benjamins«, S. 252.

144 Agard, Le chiff onnier, S. 80.

145 Kracauer, »Zu den Schriften Walter Benjamins«, S. 253.

146 Ebd.

147 Ebd.

148 Ebd.

Kracauer verweist zuletzt auf den Materialismus dieser Texte – eine weitere Ge-meinsamkeit mit seinen Arbeiten jener Zeit.149 Die Aphorismen sind nicht nur von unterschiedlicher Qualität (eine Tatsache, die auch Ernst Bloch in seiner Rezension betont150), sondern insgesamt weniger wirkungsvoll als das Barockbuch. Er erklärt dies mit Benjamins Skepsis gegenüber dem Gehalt der Wesenheiten, denen es sich zuwendet. Seine Zweifel an dem Vorhandenen seien so groß, dass er sich kaum da-rauf einlasse. So triumphiere das Gewesene über das Seiende. Nicht um die Ret-tung des Gegenwärtigen gehe es ihm, »der Meditierende rettet Bruchstücke der Vergangenheit.«151 Zum Schluss formuliert Kracauer Kritik an Benjamins Metho-de, die auf sein eigenes Unternehmen in Geschichte hindeutet. Die Dialektik der Wesenheiten, von der im Kontext des Trauerspielbuchs die Rede war, verweise auf Ästhetisches, nicht aber auf die »volle Wirklichkeit«152. Zu dieser könne Benjamin nur gelangen »wenn er die reale Dialektik zwischen den Elementen der Dinge und ihren Figuren, zwischen den Konkretionen und dem Abstrakten, zwischen dem Sinn der Gestalt und der Gestalt selbst entspönne.«153

Im eingestürzten Haus der Angestellten (1929)

»Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen.«154 Dieser erste Satz von Einbahnstraße scheint in Kracauers Die Angestellten – Aus dem neuesten Deutschland gleichsam nachzuhallen, eine Schrift, die aufgrund ihres experimentellen Charakters manchmal in einem Atemzug mit Benjamins Textsammlung genannt wird. Sie unterscheidet sich je-doch nicht nur der Form nach von Benjamins kleinen Prosastücken, sondern zielt auch inhaltlich auf anderes ab: auf die Konstruktion einer »Diagnose der sozialen Verhältnisse« im Berlin der Weimarer Republik.155 Diese empirische Studie über die zeitgenössische Lebenswelt der Angestellten muss erwähnt werden, da sie ver-schiedene Aspekte von Kracauers methodologischen Refl exionen in sich vereint. Er vollzieht hier wie bereits in den Zeitungsartikeln eine Umsetzung der in früheren Abhandlungen (etwa der Simmel-Studie oder in Soziologie als Wissenschaft) theore-tisch geforderten Hinwendung zum Konkreten.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass sich die soziale Lage der Angestellten in den Jahren 1925–1928 mit ihrem wirtschaftlichen Ratio-nalisierungsschub zum Schlechten gewandelt habe, ein Sachverhalt, dem indessen

149 Vgl. Oschmann, »Kracauers Ideal«, S. 42.

150 Bloch, »Revueform in der Philosophie«, S. 526. [Vossische Zeitung, 1.8.1928]

151 Kracauer, »Zu den Schriften Walter Benjamins«, S. 254.

152 Ebd.

153 Ebd.

154 Benjamin, Einbahnstraße, S. 11.

155 Raulet, »Einbahnstraße«, S. 363.

kaum Aufmerksamkeit zuteil geworden sei. Gleich dem »entwendeten Brief« in Poes Erzählung ist trotz oder gerade wegen ihrer Off ensichtlichkeit die Proletarisie-rung der Mittelschichten noch nicht in das kollektive Bewusstsein vorgedProletarisie-rungen.

Kracauer möchte die sozialen und politischen Kräfte ins Blickfeld rücken, »die es hintertreiben möchten, daß einer hier etwas bemerkt.«156 Er interessiert sich für die Mentalität der Angestellten, die zu dieser Lage beigetragen habe – eine Th ematik, die nicht nur ihn, sondern auch Soziologen wie Th eodor Geiger oder Erich Fromm beschäftigte.157 Welche Elemente führen von den Angestellten zu dem mikrologi-schen Ansatz, den Kracauer in Geschichte propagiert?

Eine soziologische Mikrolektüre?

Die Angestellten sind keine historische, sondern eine soziologische Arbeit zu einer zeitgenössischen Problematik. Sie gründet nicht auf dem mikrologischen Umgang mit Quellenmaterial aus einer vergangenen Epoche, sondern auf soziologischer Feldforschung, die ihr Augenmerk auf die Mechanismen sozialer Interaktion und deren Th eatralisierung richtet, auf die sprachliche Verfasstheit sozialer Beziehungen

Die Angestellten sind keine historische, sondern eine soziologische Arbeit zu einer zeitgenössischen Problematik. Sie gründet nicht auf dem mikrologischen Umgang mit Quellenmaterial aus einer vergangenen Epoche, sondern auf soziologischer Feldforschung, die ihr Augenmerk auf die Mechanismen sozialer Interaktion und deren Th eatralisierung richtet, auf die sprachliche Verfasstheit sozialer Beziehungen