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Lewis Namier, der »Freud der Geschichte«

In Geschichte taucht eine weitere Figur auf, nämlich der »Arzt«, in Verbindung mit dem »Künstler«. Kunst sollte laut Kracauer stets ein Nebenprodukt der Geschichts-schreibung sein, nicht ihr Ziel. Wenn ein Historiker Kunst produziert, kommt er damit seiner ureigensten Aufgabe nach, er wird dadurch nicht zum Künstler. Der Vergleich des Historikers mit dem Arzt verweist auf Lewis Bernstein Namier (1888–1960), der den Aktionsradius beider Berufe in der sogenannten Lebenswelt ansiedelt, d. h. in dem Bereich von »menschlichen Realitäten […] die, um erkannt und behandelt zu werden, die ästhetische Sensibilität eines Diagnostikers voraussetzen.«108 Namier war ein in Polen geborener Exilant jüdischer Herkunft, der 1906 nach England emigrierte.109 Auch wenn Verweise auf ihn das gesamte Ge-schichtsbuch durchziehen, befasst sich Kracauer in »Das historische Universum«

am ausführlichsten mit dessen Ansatz. Als Gegenspieler lässt er Namiers Kollegen Herbert Butterfi eld (1900–1979) auftreten, mit dem er einen kurzen Briefwechsel führte. Sie trafen sich durch ein Umfrage-Projekt für die Bollingen Foundation 1960, 1962 und 1964 in Cambridge und London.110 Kracauer zitiert Namier erst-malig in »Natur« und erwähnt dort sogleich die Bezugnahme auf Freud. Namier war nicht nur ein Freud-Leser, er war auch mit Freud befreundet und ließ sich von Th eodor Reik analysieren. Auch als Historiker war Namier der Überzeugung, dass

108 Ebd., S. 194. [H., S. 177.]

109 Kracauer bezieht sich auf die Artikel zweier Namier-Schüler (Brooke, »Namier and Namierism«;

Talmon, »Th e Ordeal of Sir Lewis Namier«;) sowie auf den Essay des Journalisten Ved Mehta über britische Intellektuelle, der Herbert Butterfi eld, John Brooke und Alan John Parzivale Taylor inter-viewte. Mehta, »Th e Flight«.

110 Kracauer an Butterfi eld KN [72.1225; 72.7309a/23], Herbert Butterfi eld an Kracauer KN [72.3709].

»menschliches Verhalten nur in psychoanalytischen Begriff en angemessen zu inter-pretieren ist«.111

Die Verbindungen zwischen Historiographie und Psychoanalyse sind vielschich-tiger Natur.112 Wenn Kracauer auf Namiers Vergleich mit dem Arzt hindeutet, ist dies zunächst eine Variante der Detektivfi gur. Carlo Ginzburg sieht den Historiker in engem Zusammenhang mit dem am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Indizienparadigma in den Humanwissenschaften: in Kunstgeschichte, Philologie, Psychoanalyse, Kriminalistik und Medizin. Sigmund Freud, Conan Doyle und so-gar Giovanni Morelli, der das Indizienparadima in die Kunstgeschichte einführ-te, – sie alle waren ursprünglich Mediziner und setzen das Modell der medizini-schen Semiotik ins Werk, einer Wissenschaft, die Krankheiten auf der Basis von Oberfl ächensymptomen zu diagnostizieren sucht.113

Auch für Kracauers Th eoriebildung spielt das Indizienparadigma eine wichtige Rolle114, wie schon die Th ese aus »Ornament der Masse« (1927) bezeugt, wonach die Grundgehalte einer Epoche sowie deren Ort im Geschichtsverlauf aus »un-scheinbaren Oberfl ächenäußerungen« treff ender abzulesen seien als aus Äußerun-gen über diese Epoche selbst.115 Kracauer geht es nicht einfach darum, phänome-nale Erscheinungen der materialen Welt in die Analyse einzubeziehen, sondern er fordert wie schon Freud eine besondere Aufmerksamkeit für das Abseitige, für die nicht-intentionalen Äußerungsformen der Gesellschaft, die als Hieroglyphen »ih-rer Unbewußtheit wegen« das Bewusstsein in unzensierter Weise repräsentieren.116 In den Feuilletons der 20er und 30er Jahre oder in den Angestellten bedient sich Kracauer einer Indizien-basierten Untersuchungsmethode, die ihn immer wieder zur Revision ursprünglicher Intuitionen zwang, wie er an Adorno schrieb.117 Das Indizienparadigma hat für ihn dabei eine destruktive und kritische Funktion.118 So geht es nicht darum, eine von ihm als illusorisch entlarvte Totalität wiederherzu-stellen, sondern er versucht, die Oberfl ächenerscheinungen in einer Weise zu durchdringen, die einen Zugang zur Wirklichkeit überhaupt erst ermöglicht.

1948 veröff entlichte Kracauer in Commentary einen Artikel über den zeitgenös-sischen Erfolg der Psychoanalyse in den USA, die sich, wie er schreibt, von einer

111 Kracauer, Geschichte, S. 28. [H., S. 20.]

112 Vgl. etwa Friedländer, History and psychoanalysis. Außerdem »Geschichte und Psychoanalyse« in:

Wehler, Historische Sozialwissenschaft, S. 79–94.

113 Ginzburg, »Spurensicherung«, S. 87. Das Interesse an Morellis Methode, sich bei der Ermittlung der Autorenschaft antiker Bilder auf Details wie Hände oder Ohrläppchen zu konzentrieren, wur-de von wur-dem Kunsthistoriker Edgar Wind neu geweckt, mit wur-dem Kracauer Kontakt pfl egte. Ebd., S. 80.

114 Agard, Le chiff onnier, S. 332 f.

115 Kracauer, »Das Ornament der Masse«, in: Ders., Das Ornament der Masse, S. 50–78, hier S. 50.

116 Ebd. Vgl. dazu Mülder-Bach, »Der Umschlag der Negativität«, S. 360.

117 Kracauer an Adorno, 25.5.1939, in: Adorno – Kracauer, Briefwechsel, S. 215.

118 Agard, Le chiff onnier, S. 61 f.

Mode unter Intellektuellen zu einem Massenphänomen entwickelte. Symptoma-tisch erscheinen ihm die psychologischen Filme Hollywoods, die seit 1944 ver-stärkt produziert wurden und in denen die Psychoanalyse weniger als Wissenschaft, denn als »überlegenes System der Magie in den Händen von wundertätigen Zau-berern« dargestellt wird.119 Kracauer stellt wie schon im Detektivroman einen Bezug zwischen dem Analytiker und dem Detektiv her: in Spellbound (1945) trägt ein Psychiater als Mörder mit seinen gesetzestreuen Kollegen einen Kampf aus, wäh-rend in Th e Dark Mirror (1946) der Psychiater den Detektiv bei der Entlarvung einer Mörderin überrundet. Der Analytiker hat also im amerikanischen Film Sherlock Holmes verdrängt, »das freie Spiel der Assoziationen den gesunden Men-schenverstand und die Couch die Pistole.«120 Allerdings, so Kracauer, fi ndet dieser Wechsel im Bereich der Fiktion statt, denn anders als in der Wirklichkeit ist die Analyse auf der Leinwand in der Lage, jedes Problem zu lösen.121 Er hegt indessen Zweifel an dieser Praxis, wie die Vorarbeiten zu Geschichte am deutlichsten zeigen.

Gegenwärtig kämen die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu kurz, was man-cherlei Arten von Aberglauben, wie etwa die Psychoanalyse befördere: »[T]he role it plays bears striking resemblance to that of astrology under the Roman Empire.«122 So ist es kaum Namiers Faible für Freud, das Kracauer interessierte, sondern sein mikroskopischer Ansatz. Beide Aspekte sind bei Namier allerdings nicht voneinan-der zu trennen.

Ideen – ein bloßes Libretto mangelhafter Qualität

Kracauer folgt – ähnlich wie im Fall Marc Blochs – auch Namiers theoretischen Prämissen nur zum Teil. So tauchen bei ihm nur die Avenues of History und das un-vollendete Hauptwerk über das britische Parlament im 18. Jahrhundert auf, dem Namier die letzten neun Jahre seines Arbeitslebens widmete.123 Seine Studien zur Genese des zweiten Weltkriegs oder über Deutschland unter dem Nationalsozialis-mus lässt Kracauer außen vor.124 Namiers erstes Interessengebiet war die politische Geschichte des britischen 18. Jahrhunderts; bekannt wurde er für seinen Angriff auf die liberale Whig-Interpretation125, bei der die politischen Parteiprogramme im

119 Kracauer, »Psychiatrie für alles und jeden«, S. 319. [Commentary, Jg.5., Nr 3., März 1948, S. 222–

228.]

120 Ebd., S. 319 f. Auch Freud verglich sein analytisches Verfahren mit »Detektivkünsten«: Freud,

»Tatbestandsdiagnose und Psychoanalyse« [1906], in: Ders., Werke aus den Jahren 1906–1909, Ge-sammelte Werke VII, S. 9. Vgl. Th ums, »Kracauer und die Detektive«, S. 393.

121 Kracauer, »Psychiatrie für alles und jeden«, S. 320.

122 Kracauer, Vorarbeiten, KN DLM.

123 Namier, Avenues of History. Ders., Th e House of Commons 1754–1790.

124 Namier, Diplomatic prelude, 1938–1939. Ders., Europe in Decay. Ders., In the Nazi era.

125 Vgl. Butterfi eld, Th e Whig Interpretation of History. Noack, »Th e Whig Interpretation«, S. 595.

Zentrum der Analyse stehen. Namier glaubt nicht an die Möglichkeit einer Beur-teilung der damaligen Parteipolitik auf Grundlage aktueller Wertmaßstäbe und sucht diese als das Ergebnis von Interessenlagen zu deuten. Kracauer betont Na-miers Ablehnung alles Ideologischen, die sich methodologisch in einer mikrosko-pischen Herangehensweise ausdrückt. Dass Namier entgegen eigener Überzeugung das Mikroskop manchmal gegen ein Teleskop eintausche und damit größere histo-rische Einheiten in eine »Perspektive seiner Wahl« stelle – gemeint ist sein »glühen-der« Zionismus – wirkt auf Kracauer wie ein innerer Widerspruch des von ihm an-sonsten so geschätzten Historikers.126

Politische Ideen, welche die Whig-Interpretation in den Mittelpunkt rückte, ha-ben für Namier eha-benso wie die dazugehörigen Parteiprogramme projektiven Cha-rakter.127 Geschichtswerke, die sich mit Ideologien befassen, hält er für zu allge-mein. Was Kracauer etwas ungenau mit »Makro-Geschichte« gleichsetzt, ist für Namier ein heikles Unternehmen, stößt man hier doch auf Gedankenmuster, die zu einer konventionellen, trügerischen Wahrnehmung von Welt führen, »[w]eil sie sich in der Aufstellung unechter Verbindungen zwischen Scheineinheiten weitge-hend anonymer Tatsachen erschöpfen.«128

Namiers Ziel war es nicht, eine Geschichte des 18. Jahrhunderts zu schreiben, ihn interessierte die Geschichte der Institution des House of Commons, vermittelt durch die Biographien ihrer Mitglieder. Er wollte über jeden einzelnen der 558 Par-lamentarier zwischen 1761–1784 alles Verfügbare herausfi nden, um ein repräsenta-tives Bild der herrschenden Klasse zu zeichnen. Er unternimmt den Versuch einer Rekonstruktion der mentalen und moralischen Atmosphäre dieses Milieus und sucht darüber die politischen Probleme jener Zeit zu erklären.129 In seinem Artikel

»Human nature in politics« warnt er davor, den Intellekt der Menschheit zu über-schätzen: Die politischen Meinungen der meisten Menschen seien nicht Ergebnis vernunftbasierter Entscheidungen, sondern von unbewussten Motiven genährt.130 Die historische Welt, wie Namier sie wahrnimmt, trägt »surrealistische« Züge, no-tiert Kracauer dazu, sie stellt sich ihm als ein »beunruhigendes Schauspiel«131 dar.

Gleich den Symptomen eines Neurotikers mag es sich bei politischen Überzeugun-gen nur um Reste traumatischer ErfahrunÜberzeugun-gen lang verganÜberzeugun-gener Zeiten handeln, welche die Bewältigung aktueller Aufgaben verhindern können. Dabei geht es Na-mier nicht wie im 19. Jahrhundert um die große historische Persönlichkeit, was

126 Kracauer, Geschichte, S. 129. [H., S. 116.] Trotz der Unvollständigkeit seiner intellektuellen Por-traits versucht Kracauer ein skizzenhaftes Bild dieser Historiker zu entwerfen. So weist er auf Na-miers Konservatismus hin, der bei Mehta anekdotenreich illustriert wird. Mehta, »Th e Flight«, S. 184. Kracauer, Geschichte, S. 124. [H., S. 111.]

127 Ebd. [H., S. 110 f.]

128 Ebd., S. 125. [H., S. 111.]

129 Brooke, »Namier and Namierism«, S. 335.

130 Namier, »Human Nature in Politics«, S. 1.

131 Kracauer, Geschichte, S. 126. [H., S. 113.]

auch kaum Kracauers Zustimmung gefunden hätte, sondern um das Leben der so-genannten kleinen Leute, bzw. um die Parlamentsmitglieder.132

Was für das Individuum zutriff t, gilt laut Namier auch für Massenbewegungen.

Der Versuch, Massenbewegungen anhand der proklamierten Absichten ihrer An-führer deuten zu wollen, sei naiv.133 Ideen seien nur ein »mangelhaftes Libretto« ge-genüber der »Musik der Emotionen«: [O]nce the emotions have ebbed, the ideas, established high and dry, become doctrine, or at best innocuous clichés.«134 Seine Bemerkungen über die Verhärtung von Ideen erinnern an Kracauers Angst vor al-lem Fixierten, die er mit seinem Portrait des Erasmus zum Ausdruck bringt.135 Er nimmt bei Namier aber auch eine ästhetische Sensibilität wahr, die er teilt und die seine eigenen Refl exionen über Geschichte bestimmt. Kracauer fi ndet Gefallen an Namiers Stil, seine Arbeiten wirken auf ihn wie Verwandte von Werken moderner Künstler, die sich die Destruktion traditioneller Wahrnehmungsweisen zum Ziel setzten.136 Hartnäckig habe sich Namier der kontinuierlichen Schilderung von Er-eignissen oder Zusammenhängen verweigert.137 Seine Darstellungsweise bewirke ihrerseits eine Veränderung und Anpassung bestehender Wahrnehmungsmodi »an das, was von dem Netzwerk abgenutzter Konventionen übrig bleibt, sobald es ein-mal zerstört ist.«138

Kracauer fesselt Namiers Interesse für das scheinbar Abseitige, weil es ihn an sei-ne eigesei-ne frühe Essayistik erinsei-nert, er schätzt die Aufmerksamkeit für die »Abfälle«

der Geschichte. Namier suche immerzu nach dem Belanglosen und habe sein gan-zes Leben auf Nebenwegen zugebracht.139 Sein Schüler Brooke berichtet über miers Eigenart, seine Bücher nie zu Ende zu schreiben: Eines Tages studierten Na-mier und er auf einem Landsitz Dokumente; er selbst, Brooke, habe seine Kästen drei Mal so schnell durchgesehen wie Namier. Während ihm dabei sehr wenig ent-gangen sei, sei Namier nichts entent-gangen. Er wollte einfach jedes auffi ndbare Detail in Betracht ziehen.140 Namiers Wahrnehmungsmodus ist freilich auf Spezifi sches gerichtet: »Der Gott den er verehrt, steckt nicht bloß im Detail, sondern im bio-graphischen Detail« schreibt Kracauer in Anlehnung an Aby Warburg.141 Dass man

132 Kracauers Beziehung zur Biographie ist komplex. In den Vorarbeiten fi nden sich Notizen zu dieser Th ematik, die nicht in die Endfassung von Geschichte eingegangen sind. Vgl. Kracauer, Guide to History, S. 8, KN DLM. Vgl. außerdem Kracauer, »Die Biographie als neubürgerliche Kunst-form«, in: Aufsätze 1927–1931, S. 195–199, hier S. 197. [FZ, 29.6.1930]

133 Namier, »Human Nature in Politics«, S. 2.

134 Ebd., S. 4 f.

135 Kracauer, Geschichte, S. 17. [H., S. 10.]

136 Ebd., S. 126. [H., S. 112.]

137 Ebd., S. 203. [H., S. 186.]

138 Ebd., S. 126. [H., S. 112.]

139 Ebd., S. 88. [H., S. 77.]

140 Mehta, »Th e Flight«, S. 187.

141 Ebd., S. 127. Zu Warburgs Insistieren auf dem »Detail« vgl. Wuttke, »Warburgs Kulturwissen-schaft«, S. 13 f.

mit Hilfe der Untersuchung der psychologischen Verfassung von Individuen tat-sächlich tiefsten Grund erreichen könne, erscheint Kracauer nach wie vor fragwür-dig, hält er diese »vorgeblich kleinste historische Einheit« des Individuums doch für einen »unerschöpfl iche[n] Makrokosmos« in sich selbst.142

Gleichwohl räumt er ein, Namier sei ebenso wenig ein orthodoxer Freudianer, wie er auch nicht als orthodoxer Marxist bezeichnet werden könne. Dem Universal-historiker Arnold Toynbee gegenüber erläuterte Namier seine Methode in Begriff en der Perspektive: »Ich erforsche die Blätter, Sie den Baum. Die übrigen Historiker er-forschen die Büschel der Zweige, und beide denken wir, sie irren sich.« Kracauer fügt dem Zitat in Klammern hinzu: »(er schien höfl ich genug gewesen zu sein, Toynbee nicht zu sagen, was er von der Erforschung des ganzen Baumes hielt.)«143 Wie zu zeigen sein wird, ist Kracauer der Erforschung des gesamtes Baumes nicht grundsätzlich abgeneigt: seiner Vorstellung nach sind Elemente geschichtlicher Wirklichkeit auch in der Makro-Dimension zu fi nden. Stattdessen wendet er gegen Namier ein, dass nicht alle Ideen auf »Derivate psychologischer Prozesse« reduziert werden könnten. Die Vergangenheit habe Ideen »kommen und gehen sehen«, die ungeachtet ihrer Richtigkeit mindestens ebenso sehr Teil der Lebensrealität waren, wie ein persönlicher Konfl ikt. Ideen verfügen, so Kracauer an dieser Stelle erstaun-licherweise, über eine unreduzierbare Substanz, die ein Eigenleben besitzt.144

Damit teilt er, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, die Kritik, gegen wel-che sich Namier in dem programmatiswel-chen Artikel »Human nature in politics« zu wehren suchte. Ihm wurde häufi g zum Vorwurf gemacht, er entlasse den Geist aus der Geschichte, sehe in Menschen stets nur Eigeninteresse oder Ehrgeiz, nicht aber politische Prinzipien und abstrakte Ideale, für die sie sich einsetzten, um die Wirk-lichkeit ihnen anzupassen. Geschichte, so Namiers Kritiker, werde jedoch von der Natur und von dem menschlichen Geist bestimmt. Namier wandte dagegen ein, der Geist sei nicht von der Rationalität, die man ihm einst zugeschrieben habe. Lo-gische Schlüsse auf unzureichender Tatsachenbasis zu ziehen, sei gefährlich, die dem Historiker zur Verfügung stehenden Daten im Bereich der Politik notgedrun-gen fragmentarisch. Je weniger der Mensch das freie Spiel des Geistes mit Doktri-nen und Dogmen belaste, desto besser für sein Denken. Zwar sei das Irrationale nicht notwendigerweise unvernünftig, es könne jedoch falsch interpretiert wer-den.145 Auch weniger grausame politische Ideologien als die Diktatur des Proletari-ats oder der Nationalsozialismus, die Namier in einem Atemzug nennt, hätten dem menschlichen Wohlergehen Schaden zugefügt. »Th ere is a fi xity in them that makes

142 Kracauer, Geschichte, S. 129. [H., S. 116.] In den Vorarbeiten formuliert Kracauer: »Are the half-conscious or unhalf-conscious events prompting individuals, groups, or masses into action really the smallest units or indeed accessible at all? Th e microcosmos is, itself, a macrocosmos, and Namier may well chase phantoms.« Kracauer, Vorarbeiten, KN DLM.

143 Kracauer, Geschichte, S. 123 f. [H., S. 110.]

144 Ebd., S. 128. [H., S. 115.]

145 Namier, »Human Nature in Politics«, S. 5.

them outlive even the few factors to which they were originally correlated; which is the reason why radicals who rely on systems so often produce mere junk.«146 Na-mier schließt seinen Text mit der Hoff nung, dass man noch lange von den Arbeiten zur politischen Philosophie verschont bleiben möge, deren Fehlen manche seiner Kollegen beklagten.147

Kracauer sucht Namiers Ansatz zu nuancieren, vor allem mit Blick auf den Un-tersuchungsgegenstand, d. h. auf die jeweilige Epoche, gibt es doch Zeiträume,

»die von authentischen, politischen Ideen bewegt waren«148 wie etwa die puri-tanische Revolution unter Oliver Cromwell. »Sie widersetzt sich allem Weg-psychologisieren.«149 Herbert Butterfi eld verabscheue Namier aus Motiven, die er selbst, Kracauer, nicht teile, denn dessen Th eorien stünden im Widerspruch zu Butterfi elds christlichem Glauben und seiner Überzeugung von der Existenz eines übernatürlichen Planers in der Geschichte. Wenn Namiers Mikroanalyse der einzig legitime Ansatz sein solle, so Butterfi elds Befürchtung, werde Geschichte zu einer bedeutungslosen »Abfolge von Chancen und Konjunkturen«.150 Dieses religiöse Argument hält Kracauer jedoch laut seiner Vorarbeiten schlechterdings für

»irrelevant«.151