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Geschichte – »eine Wissenschaft, die anders ist«

2. 4 Der Historiker als Fremder, Exilant und Mystiker

4.1 Geschichte – »eine Wissenschaft, die anders ist«

Sozialgeschichtliche Analysen

Kracauer konstatiert, dass das Genre der historischen Erzählung gegenüber analy-tischen Darstellungen an Terrain verloren hat. Den Erfolgen der Sozialgeschichte werde dabei seitens der Anthropologen und Soziologen massiv Vorschub geleistet, deren Herablassung gegenüber Historikern Kracauer indes nicht teilt. Er situiert Geschichte in struktureller Analogie zur Filmtheorie zwischen Wissenschaft und Literatur: So wie er den Film nicht als Kunst, sondern als eine »Kunst, die anders ist« begreift, ist Geschichte, wenn sie überhaupt als Wissenschaft bezeichnet

wer-den kann, »eine Wissenschaft, die anders ist«.4 Dilthey, der sich in jungen Jahren als Historiker der Geschichte Preußens hervortat, ist, wie Kracauer schreibt, an einer endgültigen Klärung der Streitfrage um die Wissenschaftlichkeit der Historie gescheitert. Er bekräftigt zwar Diltheys Leitbegriff des Verstehens, mit dem dieser die Geisteswissenschaften vom Erklären der Naturwissenschaften abgrenzt: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«5. Gleichwohl kritisiert er seine

»psychologisierende und etwas nebulöse Lebensphilosophie«. Nach Diltheys Ein-leitung in die Geisteswissenschaften (1883) kommt es auf das Erleben von Bewusst-seinstatsachen an, auf die »kongeniale« Übernahme der Innenperspektiven anderer Subjekte. Sein Verstehens-Begriff geht mit einer Vorstellung von Geschichte als Le-bensprozess einher, dessen Phänomene nur »mit unserem ganzen Sein« erfasst wer-den können, als »Zwiesprache« zwischen dem Leben, das wir sind, und diesem Pro-zess.6

Bei der Frage nach Gesetzmäßigkeiten der historischen Wirklichkeit geht es um zweierlei: um »universalgeschichtliche« Erklärungsansätze, wie sie nach Vico, Comte, Marx, Spengler oder Toynbee identifi zierten (die sogenannten »law-givers«7), oder aber um »sozialgeschichtliche« Gesetze, wie sie etwa (für Kracauer abschreckend) Charles Tilly beschreibt.8 Kracauer spricht von »Gesetzen« im al-lerweitesten Sinne, die nur von begrenzter Reichweite sind. Der Gesetzesbegriff , der in den Geschichtswissenschaften angewandt wird, unterscheidet nicht zwi-schen Gesetzen, wie sie in den Natur- oder Verhaltenswissenschaften auftauchen (Psychologie, Ökonomie, Anthropologie und Sozialwissenschaften). Historische Gesetzmäßigkeiten nähern sich naturwissenschaftlichen Gesetzen nur an, wenn sie

»invariante Ähnlichkeiten suchen und konstruieren.«9 Über die Zukunft vermö-gen sie keine Auskunft zu geben. Die umgekehrte Frage nach der Rolle der Natur im Geschichtsverlauf bzw. deren Geschichtlichkeit spielt für Kracauers Argumen-tation keine Rolle. Auch wenn eine vom Menschen »geschaff ene Natur« die ur-sprüngliche überlagert, ist die Kategorie, über welche er sich der Gesetzlichkeit im Geschichtsprozess zuwendet, die der Gesellschaft.

Gesellschaft als zweite Natur?

Kracauer greift auf das Prinzip der geistigen Ökonomie zurück, um (überraschen-derweise mit idealistischen Begriff en) zu begründen, warum sich der »Geist«, das

»Leben des Geistes« und damit die Gesellschaft in einer Trägheitszone ansiedeln, die der Dimension von Naturphänomenen angehört. Die Konzentration der

4 Kracauer, Th eorie des Films, S. 461. Ders., Geschichte, S. 38. [H., S. 129 f.]

5 Dilthey, Abhandlungen, 143 f. Vgl. Jung, Dilthey, S. 161 f.

6 Kracauer, Geschichte, S. 53. Modelle geschichtlichen Verstehens sind für Dilthey Autobiographien.

Jung, Dilthey, S. 164 f. Vgl. Jaeger, Autobiographie und Geschichte, S. 20–25.

7 Kracauer, Geschichte, S. 46, Anm. 43. [H., S. 37.]

8 Ebd., S. 38. [H., S. 130.]

9 Ebd., S. 27. [H., S. 20.]

tigen Energien auf bestimmte Gegenstände führt dazu, dass anderen Aufmerksam-keit entzogen wird und sich Vorurteile breit machen. Kracauer überträgt dieses Prinzip von Individuen auf Gruppen. Er legt seiner Argumentation eine persön-lichkeitstheoretische Th ese zugrunde, wonach das Individuum kein homogenes Ganzes mit einer einheitlichen Geschichte sei: Die »integrierte Persönlichkeit«

zählt er zu einem der größten Aberglauben moderner Psychologie. Er zitiert Marc Bloch, der einräumte, im Liegen eine andere Meinung als im Stehen zu vertreten,

»zumal, wenn ich wenig gegessen habe und matt bin.«10

Kracauer fragt nach den Konsequenzen dieses Persönlichkeitsmodells für das Funktionieren von Gruppen. Die Trägheitszone gilt hier umso mehr, als Gruppen nur aus Persönlichkeitsfragmenten oder »reduzierten Individuen«11 bestehen, die zur Verwirklichung einer Idee in einer Gruppenindividualität aufgehen. Verglichen mit Individuen zeigen sie ein Verhalten »plumper Riesen« mit vorhersehbaren Be-wegungen.12 Diese Vorstellung formulierte Kracauer bereits 1928 in »Die Gruppe als Ideenträger«: »Nun ist aber das für sich seiende Individuum […] ein Mikrokos-mos, in dem sich mancherlei Begierden und geistige Kräfte regen, und der durch die Idee erzeugte Sinnzusammenhang füllt darum nur in den seltensten Fällen al-lein das Bewusstsein aus. Gedanken und Anschauungen, die anderen Provinzen der Seele entstammen, greifen in diesen Zusammenhang ein, lockern ihn auf und durchkreuzen ihn.«13 Die Gruppe hat eine Mittlerfunktion zwischen den Einzel-menschen und den Ideen, welche die soziale Welt bestimmen: »Wann immer eine Idee aus dem Dunkel hervorbricht und Formulierung erfährt, da erzeugt sie in den Menschen, auf die sie triff t, eine gleichmäßige Seelenlagerung, und ihre Realisie-rung beginnt, wenn diese Menschen sich zur Gruppe vereinen, um ihr die Realität zu erkämpfen.«14 Dabei wird keinesfalls das ganze Individuum vereinnahmt, es bleibt mehr als der Träger einer Idee: »Die Gruppe begreift eben statt vollausgebil-deter Individuen nur reduzierte Iche, Abstraktionen von Menschen in sich, sie ist ein pures Werkzeug der Idee.«15 Kracauer ruft in Geschichte das Bild eines Magne-ten auf, der Persönlichkeitsfragmente gleich Eisenteilchen aus einer Masse von Ma-terialien anzieht. So verschwindet das Gesamt-Individuum in der Gruppe, was Fol-gen für die Beschaff enheit der Ideen hat. Während der Einzelmensch von RegunFol-gen bestimmt wird, die sich auf komplexe Weise verbinden und beeinfl ussen, sind die

»Teil-Iche«, aus denen Gruppen bestehen, in sich homogen. Die Gruppenindividu-alität erscheint daher vergleichsweise arm, und ihre Entfaltung verläuft starr und

10 Ebd., S. 164. [H., S. 148.]

11 Ebd., S. 30. [H., S. 123.]

12 Ebd., S. 31. [H., S. 123.]

13 Kracauer, »Die Gruppe als Ideenträger«, in: Ders., Das Ornament der Masse, S. 131. Die Idee von Gesellschaft als zweiter Natur fi ndet sich auch in den Angestellten. Vgl. Ders., Die Angestellten, S. 254

14 Kracauer, »Die Gruppe als Ideenträger«, in: Ders., Das Ornament der Masse, S. 129.

15 Ebd., S. 133.

linienhaft. Ihre Grobheit kontrastiert mit der »Biegsamkeit und Zartheit«, der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse, zu denen der Einzelmensch Zugang hat.16 So lässt sich die Naturhaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen begründen.

Auch das Problem der Spaltung von Bewegungen refl ektiert Kracauer in Ge-schichte wie bereits in dem Essay von 1928. In ihrer Auseinandersetzung mit der Realität verhalten sich Gruppen und Individuen unterschiedlich. Die Richtungs-änderungen einer Bewegung vollziehen sich nicht als konstante Anpassung an wandelte Bedingungen, wie die der Individuen. Vielmehr verfolgen Gruppen ge-radlinig eine Richtung, um ab einem bestimmten Krisenpunkt abrupt eine neue einzuschlagen.17 »Die Standpunktverschiebungen der Gruppe müssen nun immer ruck- und sprungweise erfolgen, selbst wenn die Umwelt sich allmählich wandelt.

Sind einmal irgendwelche Richtlinien für das Handeln des Gruppen-Ichs festge-legt, so bewegt sich dieses auch ihnen getreu mit einer Unerschütterlichkeit, die sich durch nichts aus der Bahn bringen lässt.«18 Zur ruckartigen Richtungsände-rung kommt es nur durch den Anstoß der Anführer oder einzelner Mitglieder, wo-bei meist mehrere Alternativen zur Auswahl stehen. Werden die Divergenzen zwi-schen einzelnen Gruppenmitgliedern so dominant, dass kein Ausgleich möglich ist, kommt es zur Spaltung. Bewegungen haben Ähnlichkeit mit natürlichen Pro-zessen.

In Geschichte defi niert Kracauer Gesellschaft nicht nur als »Arena vielfältiger kon-kurrierender Interessen«, sondern als »Entität mit spezifi schen Eigenschaften«.19 Ihre Bestandteile sind von einer Qualität, die den Geist ausschließt. Gesellschaft be-steht aus Materialien, die fest oder fl üssig sind. Kracauer unterscheidet zwischen starren Sedimenten – traditionell überlieferte Sitten, Gebräuche oder Institutionen, deren Existenz nicht hinterfragt wird – und fl üssigeren Substanzen, d. h. zirkulie-rende unbeständige Meinungen. Kracauer stellt den »Sedimenten« der Überliefe-rung ein Bild aus der Natur zur Seite, die »Brandung« und die »Flut« der Meinun-gen, die dem Wandel unterworfen sind wie das Wetter.20 Sie sind nichtsdestoweniger folgenreich, da sie sich zu Bewegungen formieren können und so auf den Ge-schichtsverlauf Einfl uss nehmen. Diese Einfl ussnahme erfolgt jedoch nicht zielge-richtet. Es ist ein »Sammelsurium aus Empfi ndungen und Abneigungen«, ein »Ge-töse verworrener Ansichten«, das historische Veränderungen provoziert.21

Kracauer unterstreicht – und bereitet hier sein antimetaphysisches Geschichts-bild vor – dass sich die Ereignisse, aus denen sich gesellschaftliche Entwicklungen ergeben, »in einer spärlich erleuchteten Gegend ereignen, wo geistige Intensität

16 Ebd., S. 134 f.

17 Kracauer, Geschichte, S. 31. [H., S. 23.]

18 Kracauer, »Die Gruppe als Ideenträger«, in: Ders., Das Ornament der Masse, S. 143 f.

19 Ebd., S. 144.

20 Ebd., S. 31 f.

21 Ebd., S. 32.

gleich null ist.«22 Ebenso wie sich die gesellschaftliche Realität alle Ideen einver-leibt und verändert, entzieht sich das Handeln der gesellschaftlichen Kräfte nicht nur der Kontrolle durch die Handelnden, sondern auch dem »Geist«. Tocqueville verglich den Lauf dieses Handelns mit dem Flug eines Drachens, der sowohl vom Wind (der Gesellschaft) getrieben als auch von einer Schnur (dem absichtsvollen Handeln) gehalten wird. »Unserem Umgang mit der physischen Wirklichkeit ent-lehnt, legen die Metaphern von Wind und Sturm nahe, der Geist habe nicht die Macht, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen.«23 Die Th ese von der Herrschaft der Natur im Bereich der Gesellschaft scheint ihre Berechtigung zu haben. Es mag daher angemessen sein, vermutete Regelmäßigkeiten sozialen Wandels auf Gesetze hin zu untersuchen.

Kracauer verweist auf quantifi zierende computergestützte Verfahren der Sozial-wissenschaften in den USA, wobei er nicht wirtschaftsgeschichtliche Analysen an-spricht, sondern Untersuchungen zu Massendynamiken. Die Frage, »wer wen mani-puliert«, die Menschen die Computer oder umgekehrt, werfe »Probleme erster Ordnung auf«.24 Darüber unterhielt sich Kracauer mit dem Philosophen Gotthard Günther (1900–1984) am 24. Juli 1962 in München.25 Ihn beschäftigte die Frage nach den Konsequenzen der Arbeit mit Computern für die Historiographie.

»[W]ird nicht jede bedeutende Innovation durch Träumen und Tasten angekündigt?«26 Freiheit

Kracauer stellt seine Refl exionen über Gesellschaft und Natur in einen unerwarte-ten Zusammenhang: den der christlichen Erbsünde. Alle in der Geschichte beob-achteten Regelmäßigkeiten können theologisch gesprochen auf die Tatsache

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Ebd., S. 34.

25 Kracauer dokumentierte dieses Gespräch mit Gotthard Günther, der 1933 über Italien nach Süd-afrika und 1940 in die USA emigrierte. »Regarding cybernetics, Gunther has fantastic ideas. He starts from the premise that human consciousness is predetermined by biological & genetic factors and, hence, can function, or operate only within limits set by these factors. According to him, it is now possible, at least theoretically, to build a computer which is so prestructured that it does not just answer what is put into it but commands a ›consciousness‹ of virtually unlimited range, the result being that this imagination machine, operating on an unheard off -scale, enters into ever new contacts with the changing environment and, due to its unpredictable expanding relations to the world about us, develops novel functions and stores on knowledge that may well transcend pour limited human consciousness. I objected that man can only develop because he is a social being, while the computer as an isolated creature lacks a sense of direction and hence has no goals proper.«

Günther habe über Computersoziologie gesprochen: »Altogether the diff erent computers form a veritable society«. Kracauer habe gefragt, was dann mit den Menschen geschähe: »Th e computers will become our taskmasters, Günther unsmilingly declared.« Man würde von ihnen lernen, die Umwelt in bisher ungeahnter Weise zu beeinfl ussen. Kracauer, Reisenotizen (1961–1965), KN DLM [72.3629a].

26 Kracauer, Geschichte, S. 127. [H., S. 114.]

rückgeführt werden, dass die Menschheit mit der Erbsünde belastet sei. Spuren christlicher Th eologie sieht Kracauer in Geschichtsbildern, die an der Idee der menschlichen Vervollkommnung festhalten. Paradoxerweise gehen diese stets mit der Annahme der »Blindheit oder Verdorbenheit« des Menschen einher, ihrer »ein-geborenen Gemeinheit«.27 Gleich Goethes Mephistopheles, einer »›Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schaff t‹«, setzten sie als gesellschaftlich be-stimmende Macht die als böse gedachte Natur des Menschen voraus, die »dank der Dazwischenkunft einer geheimnisvollen, über unseren Köpfen waltenden Macht«

dazu bewogen wird, »den Zielen der Humanität zu dienen.«28 Die Th esen der Den-ker des Liberalismus (Adam Smith, Bernard Mandeville), Kants regulative Idee einer providenziellen Natur oder Hegels List der Vernunft29: ihnen sei gemeinsam, dass sie negative Leidenschaften in einer Weise instrumentalisieren, die den Men-schen auf geheimnisvolle Weise zum Nutzen gereichten. Auch Ranke, Marx und Burckhardt sind von solchen Vorstellungen nicht frei: »Ob die Macht, die die Fä-den zieht, Vernunft sei oder ein anonymer, eingebauter Plan oder irgendein anderer Ersatz für die gute alte Vorsehung, macht nicht viel aus. […] Die Vorstellung von einer Macht, die unser Schicksal durch versteckte Steuerung lenkte, scheint un-verwüstlich.«30 Nicht nur die Alltagserfahrung trage zur Verbreitung dieses Denk-schemas bei, sondern vor allem die in christlicher Tradition wurzelnde Überzeu-gung von der Korruptheit des Menschen: Sie erzeuge die Notwendigkeit einer

»Agentur hinter den Kulissen […] um das Gute dem Bösen zu entreißen und so zu erlangen, was der Voraussetzung gemäß der Mensch allein nie vollenden können wird.«31 Kracauer schlussfolgert, die Annahme von der Verderbtheit des Menschen sei »identisch« mit der Vorstellung von menschlichen Angelegenheiten als Naturer-eignissen sowie mit der Idee von Geschichte als Wissenschaft. Gegen eine solche Sichtweise verwehrt er sich und notiert im Guide to history: »To the extent that his-tory is a manifestation of human nature the historical material must, at least in part, have the same qualities as nature itself. Like nature it must be amenable to an approach wresting regularities and laws from the given data. But historical reality is nature only in the degree that it relapses into it. Actually, however, history is not only nature but belongs to the realm of freedom as well. Spiritual explosions do occur.«32

Kracauer unterstreicht die Möglichkeit von Brüchen im Geschichtsverlauf: »Ge-schichte ist auch das Reich von unvorhergesehenen Ereignissen und neuen Anfängen.«33 Sie haben die »zersetzende Kraft« der menschlichen Freiheit zur

27 Ebd., S. 34 f. [H., S. 126 f.]

28 Ebd., S.34. [H., S. 26.]

29 Vgl. Waszek, L’écosse des lumières ; Ders. Kant, Philosophie de l’histoire.

30 Ebd. [H., S. 126.]

31 Ebd., S. 35. [H., S. 127.]

32 Kracauer, Guide to history, KN DLM.

33 Kracauer, Geschichte, S. 39. [H., S. 31.]

raussetzung, eine Grunderfahrung, deren »Wahrheitswert« auch totalitäre Regime nicht widerlegen könnten.34 Versuchen Historiker, Ereignisse in historischen Kau-salitäten aufgehen zu lassen, stellen sie sich einer unmöglichen Aufgabe. Kracauer illustriert diese Th ese anhand Eisensteins bezeichnenderweise nie realisierter Verfi l-mung des Romans An American Tragedy (1925) von Th eodore Dreiser über die Ver-tuschung eines Mordfalls. Eisenstein wollte die Gründe für den Mord als inneren Monolog auf die Leinwand bringen und erstellte dazu eine Liste möglicher Bilder, Wortfetzen oder Gedankensplitter, durch deren Polyphonie die »Unendlichkeit«

der Motivationen zur Darstellung gebracht werden sollte. Kracauer kommentiert, Eisenstein habe zu verdeutlichen versucht, dass eine Abbildung aller den Protago-nisten motivierenden Ursachen, d. h. der Beweis des deterministischen Prinzips, eine unendliche Aufgabe sei. »Es gibt Handlungen und unerwartete Situationen, die einer Zerlegung in wiederholbare Elemente oder einer befriedigenden Erklä-rung aus vorhergehenden oder gleichzeitigen Umständen so hartnäckig widerste-hen, dass man sie besser als irreduzible Entitäten behandelt.«35 Wenn aber Ge-schichte aus irreduziblen Einheiten besteht, kann der Historiker ihr nur gerecht werden, indem er diese nicht wegrationalisiert, sondern eine »story« erzählt.36 Mit diesem Argument verteidigt sich Kracauer schon gegen Adornos Kritik an seinem Off enbach: »Wenn Interpretationen im konkreten Material eine gewisse, nicht gleichmäßig festzusetzende Schwelle überschreiten, hören sie auf zu funktionieren, nehmen den Charakter subjektiver Willkür an und erlangen allenfalls den proble-matischen Reiz ästhetischer Kuriositäten. Dort, wo diese Schwelle bei mir liegt, geht die Konstruktion in Erzählung über.«37

Historische Gesetze oder das »Hirngespinst der Universalgeschichte«

Wenn Kracauer in »Natur« von dem hybriden Genre der Geschichtsschreibung als Wissenschaft spricht, die – da auf Erzählung angewiesen – anders ist, merkt er zu Recht an, dass letztere Tatsache nicht hinreicht, um sie von den Wissenschaften zu unterscheiden. Denn auch diese bedienen sich der Erzählung, wie etwa Darwins Evolutionstheorie zeigt. Allerdings handelt es sich bei dem »erzählerischen Modus«

eben nur um einen der Darstellung, wohingegen auf inhaltlicher Ebene angestrebt wird, »universale Gesetze« auszumachen. Kracauer wendet sich daher »Längs-schnitt-Gesetzen« zu, die erklären sollen, »warum das, was geschah, geschehen musste.«38 Wiederholbarkeit und andauernde Gültigkeit sind Kriterien für die

34 Ebd., S. 35 f. [H., S. 27.]

35 Ebd., S. 37 f. [H., S. 29.]

36 Ebd., S. 40 f. [H., S. 32.]

37 Kracauer an Adorno, 25.5.1937, in: Adorno – Kracauer, Briefwechsel, S. 364.

38 Kracauer, Geschichte, S. 42. [H., S. 33.]

setzmäßigkeit der »stories« im Bereich der Natur. Kracauer fragt, inwiefern sie auch für die Geschichte der Menschheit angenommen werden können. Dazu erzählt er seine Version der Geschichte der Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Ge-schichte.

Vico, Comte, Marx

Kracauer wendet sich Vicos »Neuer Wissenschaft« (1725) zu, da es bei seiner Be-schäftigung mit Universalgesetzen nicht um solche der metaphysisch inspirierten Geschichtsphilosophie geht, sondern um Ansätze, die mit mehr oder weniger »wis-senschaftlichem« Anspruch auftreten. Vicos Naturgesetz der Völker, mit dem die-ser sich gegen die aufklärerische Vorstellung von einem linearen Fortschritt der Menschheit richtet (und von zeitgenössischen Denkern kaum rezipiert wurde, für Kracauer aber gerade wegen dieser chronologischen Exterritorialität Anlass zur Würdigung gibt), nimmt eine besondere Stellung ein: Es markiert den Übergang von theologischen hin zu säkular inspirierten Geschichtsmodellen. Kracauer sieht Vicos Werk als einen Versuch, »die transzendentale Herrschaft der Vorsehung mit der immanenten Notwendigkeit des gesamten historischen Prozesses zu ver-söhnen.«39 In seiner Konstruktion einer 3-Stadien Lehre, die strukturell auf ein Modell von Herodot zurückgeht, kennt jede Nation ein göttliches, heroisches und menschliches Zeitalter, die einander ablösen. Die als notwendige Abfolge vorge-stellte Entwicklung führt in den unterschiedlichen Weltteilen zur Degeneration und einem neuen Zyklus: dem Ablauf (corso) folgt eine Art Wiederkehr (ricorso).40 Für Kracauer ist entscheidend: Das von Vico als universell vorgestellte »Naturge-setz der Nationen«41 hat seinen Ursprung noch in der göttlichen Vorsehung, welche die Bewahrung der Menschheit vor einem Rückfall in die Barbarei zum Ziel hat.

Die Vorstellung von dieser Gesetzmäßigkeit des Geschichtsprozesses wurzelt im christlichen Glauben – ein Begründungszusammenhang, der Comte oder Marx fremd ist. Auch ihnen geht es bei der Formulierung von Gesetzen um die Verbin-dung eines wissenschaftlichen Anspruchs mit der Frage nach dem Sinn der Ge-schichte, auf die ich im letzten Kapitel eingehen werde. Kracauer kritisiert diese Ansätze: Die »Aufwärtsbewegung zum Jenseits« religiösen Denkens wurde »in die horizontale Ebene projiziert« und die eschatologischen Erwartungen durch die Vorstellung einer Evolution hin zum Besseren in der Welt ersetzt. In Comtes und

39 Ebd., S. 43. [H., S. 34.]

40 Das göttliche Zeitalter ist eines, in dem die Menschen »›meinten, alles sei ein Gott bzw. von einem Gott geschaff en‹«; im heroischen Zeitalter war das Recht mit der Macht identisch, während das dritte Zeitalter das der Vernunft, der Zivilisation, der gesteigerten Abstraktionsfähigkeit ist, die um den Preis des Imaginativen erkauft wurde. Vicos Haltung ist »semi-relativistisch«, d. h. auch wenn er die Universalität bestimmter Sitten behauptet, lässt sich keine Hierarchie der Zeitalter erstellen.

Burke, Vico, S. 68 f.

41 Den Völkern aller Zeiten ist gemeinsam, dass sie eine Religion besitzen, Ehen schließen und ihre Toten bestatten. Vico, Die Neue Wissenschaft, S. 142.

Marx’ Fall wurden sie mit politischen Zielen aufgeladen, sie erhielten die Funktion von »Aktionsprogrammen«.42

Auf Kracauers Kritik stößt besonders die Annahme, es handle sich bei dieser Art von Gesetzen um »Naturgesetze«. Mit Dilthey weist er auf ihre »unangemessene Abstraktheit« hin, eine Konsequenz ihrer Distanz gegenüber den historischen Fak-ten, die zu Verzerrungen führe.43 Er kritisiert den Determinismus von Comte und Marx, die mit überholtem Fortschrittsdenken eine Verbindung eingehen sowie ihre

Auf Kracauers Kritik stößt besonders die Annahme, es handle sich bei dieser Art von Gesetzen um »Naturgesetze«. Mit Dilthey weist er auf ihre »unangemessene Abstraktheit« hin, eine Konsequenz ihrer Distanz gegenüber den historischen Fak-ten, die zu Verzerrungen führe.43 Er kritisiert den Determinismus von Comte und Marx, die mit überholtem Fortschrittsdenken eine Verbindung eingehen sowie ihre