• Keine Ergebnisse gefunden

Menschwerdung und Emanzipation durch Arbeit

2.1. „DENN SEINE ARBEIT IST/ NICHT MEHR SEIN FEIND“1

Die Inszenierung von Arbeit als Vollzug der Menschwerdung in Theatertexten der DDR Peggy Mädler

Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Inszenierungsmustern von Arbeit in Theatertexten der DDR muss mit einer Diskussion des Begriffs der Arbeit bei Karl Marx beginnen, bildet er doch eine wichtige Grundlage für das Verständnis des Handlungsraums DDR, in dem auch das künstlerische Schaffen von DramatikerInnen eingebettet ist. Für die in dieser Untersuchung vorgestellten AutorInnen war (und ist) die Beschäftigung mit Marx’

theoretischen und politischen Schriften wichtiger Hintergrund ihrer Arbeiten2 – sie prägt die literarische Ausgestaltung einer gesellschaftlichen Utopie und die Kritik an den realsozialistischen Verhältnissen gleichermaßen.3 Die DDR wird bis zu ihrem Ende 1989/1990 gerade im Hinblick auf den Faktor Arbeit als eine neue Gesellschaftsordnung inszeniert, dabei werden bürgerliche und kapitalistische Vorstellungen und Strukturen von Arbeit entwertet, variierend besetzt, aber auch re-inszeniert. Die Idee einer Menschwerdung durch Arbeit oder ein Begriff wie die „schöpferische Arbeit“ gewinnen unter den veränderten Eigentumsverhältnissen in der DDR vor allem bei den Intellektuellen großen Zuspruch. Die Arbeit erfährt in diesen Vorstellungen eine enorme Aufladung: Ihr werden Funktionen, aber auch Möglichkeiten zugeschrieben, die weit über die materielle Sicherung der menschlichen Existenz, sprich über den Begriff der Lohnarbeit, hinausreichen.

„Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister.

Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene

auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.

Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er

1 BAIERL, HELMUT: Johanna von Döbeln. IN: BAIERL, HELMUT: Stücke. Berlin 1969, S. 204.

2 Gerade für die mittlere AutorInnengeneration, die Anfang der 60er Jahre in die Öffentlichkeit tritt und der in dieser Untersuchung viel Platz eingeräumt wird, ist es bezeichnend, dass sie die DDR als eigenständigen Staat und politische Utopie selbstverständlich anerkennt. Vgl.: WIESENER, BARBARA: Von der bleichen Prinzessin, die ein purpurrotes Pferd über den Himmel entführte – das Utopische im Werk Brigitte Reimanns. Dissertation.

Universität Potsdam 2003, S. 7. Diese AutorInnen haben den Krieg als Kinder oder Jugendliche erlebt, diese Erfahrung ist für sie ein wichtiger Zugang zum Sozialismus und zur marxistischen Theorie. Vgl.: BONNER, WITHOLD: Der Vogel mit dem bunteren Gefieder. Redevielfalt als Maskerade in der Prosa Brigitte Reimanns.

Dissertation. Universität Tampere 2001. „Und vor allen Dingen war es etwas – dann, als ich in die Partei eintrat -, von dem ich jahrelang fest überzeugt war, das war genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil.“ WOLF, CHRISTA: Auf mir bestehen. Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus. IN: Neue Deutsche Literatur 41. Jg. 1993. Heft 5. S. 21.

3 Im öffentlichen Diskurs der DDR dominiert die Theorie des Marxismus-Leninismus, eine Verbindung aus der weltanschaulichen Interpretation des Marxismus und den Kampfschriften von Lenin, die zu einem

„...dogmatischen System von Philosophie (‚Dialektischer Materialismus‘), Geschichte (‚Historischer Materialismus‘) und politischer Ökonomie“ vereint werden. HEINRICH, MICHAEL: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 2004, S. 24. Hier ist nicht der Platz, eine vergleichende Analyse zwischen Marx’ Texten und der Theorie des Marxismus-Leninismus durchzuführen, es sei aber darauf hingewiesen, dass der bewusste Rückbezug auf marxschen Texte und Begriffe auch eine Möglichkeit bot, sich vom öffentlichen Diskurs kritisch abzugrenzen.

nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck (...).“4

In diesem Zitat von Karl Marx aus dem ersten Band des KAPITALs wird der Begriff der Arbeit in zweierlei Hinsicht als eine spezifische Tätigkeit des Menschen vorgestellt. Zum einen ist in dieser Beschreibung nur der Mensch zur Arbeit fähig, da nur er sich in der Arbeit ent-äußert, sprich: einen inneren Zweck vergegenständlicht. Zum anderen vermag er sich selbst in dieser Form der Ent-Äußerung zu erkennen, er verwirklicht sich in der schöpferischen Bearbeitung der materiellen Natur und eignet sie sich dadurch an. Der Mensch bewährt sich in der Arbeit als Gattungswesen und macht die Natur zu seinem Werk und seiner Wirklichkeit. Indem er sich in der Arbeit, in der Vergegenständlichung seiner Zwecke werktätig verdoppelt, ist er in der Lage, sich selbst in einer von ihm geschaffenen Welt anzuschauen.5 Seine Fähigkeit zur Arbeit, das heißt seine Fähigkeit, innere Zwecke bewusst und produktiv zu veräußern, unterscheidet ihn nach Marx vom instinktiv handelnden Tier, die Arbeit, als zweckgerichtetes, schöpferisches Tun gedacht, wird zum Kernelement einer Definition des Menschseins an sich. Diese Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit6 ist Marx zufolge unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse aber nicht gewährleistet. Hegels Analyse des Herr-Knecht-Verhältnisses7 und seinen Begriff der Arbeit anthropologisch zuspitzend, sieht er den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft der Arbeit entfremdet, das Produkt seiner Arbeit gehört ihm nicht, seine Selbstveräußerung wird hier zum Moment der Selbstentfremdung. Arbeit muss unter den Bedingungen privater Eigentumsverhältnisse, in denen der Mensch seine Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel verkauft und dieser die Kontrolle über den Arbeitsprozess innehat, einen Zwangscharakter annehmen, nur die Momente der Nicht-Arbeit können darin noch als Freiheit erscheinen.

Über die Verstaatlichung der Produktionsmittel scheint der/die ArbeiterIn in der sozialistischen Gesellschaft dagegen in der Lage, der Arbeit ihre „ursprüngliche“ Bedeutung zurückzugeben, die sie im Kapitalismus verloren hat.8 Der arbeitende Mensch wird in der DDR zum Miteigentümer und zur politischen Kraft stilisiert, in der Hoffnung, dass dies seine alltägliche Praxis des Arbeitens ebenfalls nachhaltig zu verändern vermag.

4 MARX, KARL: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band I. (MEW Band 23.) Berlin/DDR 1962, S. 193.

5 MARX, KARL: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. (MEW Ergänzungsband, 1. Teil). Berlin/DDR 1968, S.

517. Vgl.: dazu auch die Interpretation von LANGE, ERNST MICHAEL: Das Prinzip Arbeit. Drei metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der ‚Kritik der Politischen Ökonomie‘ von Karl Marx.

Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1980, S. 56 ff.

6 Der Begriff der Selbstverwirklichung wird hier nicht, wie in der heutigen dominanten Verwendung, als die Entfaltung besonderer Eigenheiten und Fähigkeiten des Individuums gedacht, sondern auf das Gattungswesen Mensch bezogen. Lange beschreibt dieses überindividuelle Handlungssubjekt als theoretisches Problem bei Marx. Vgl.: LANGE (1980), S. 62f.

7 HEGEL, GEORG W. F.: Phänomenologie des Geistes. Neu hg. von Hans Friedrich Wessels. Hamburg 2006.

Marx billigt dem Menschen ein Schöpfertum zu, das bei Hegel dem Absoluten vorbehalten ist. Vgl. auch: LANGE (1980), S. 60.

8 Dieser Gedanke beinhaltet eine Dichotomie zwischen einer ursprünglichen, also vorgängigen Form der Arbeit und ihrer nachgängigen Deformation als entfremdete Arbeit. Mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel soll nun die Entfremdung aufgehoben werden, die Arbeit also ihren „wahren und ursprünglichen“ Charakter zurückerlangen.

„Der Begriff des Arbeitnehmers war dem DDR-Recht unbekannt. Durch die

Vergesellschaftung der Produktionsmittel sollte der Bürger nunmehr Miteigentümer der Produktionsmittel, seiner eigenen Arbeitsstätte werden. Dies wiederum sollte seinen Ausdruck in dem Begriff ‚Werktätiger‘ finden.“9

Die in den Theatertexten der DDR nicht seltene Figur eines dem Alkohol zugeneigten,

„arbeitsscheuen“ und um Lohn betrügenden, zumeist männlichen Arbeiters, der diesen neuen Status des Miteigentümers und seine Rolle als Teil der herrschenden Klasse überhaupt nicht zu bemerken scheint, wird zum wichtigen Element einer bereits sehr frühen Kritik an den sozialistischen Strukturen, verweist aber gleichzeitig auch auf die schmerzhaften Erfahrungen eines Utopieverlustes.10 In dieser Figuration werden erste Zweifel an der utopischen Kausalität deutlich, nach der eine Veränderung von Eigentumsverhältnissen zwangsläufig auch zu Bewusstseinsveränderungen führen müsse.

Wie stark dennoch diese parteipolitische, aber auch in vielen künstlerischen Diskursen wiederholte Vorstellung des sich in der Arbeit bewusst werdenden Arbeiters die Intellektuellen geprägt hat, deutet sich in den Enttäuschungen vieler Intellektueller nach 1989 an. In der Kritik, das Volk hätte in seinem Rausch nach westlichen Konsumwaren die letzte Möglichkeit auf eine demokratische Umgestaltung des Sozialismus zerstört, zeigt sich die Verinnerlichung der Inszenierung von einer sich selbst bewussten Arbeiterklasse, die nun versagt zu haben schien.11

Die Idee einer gelingenden Emanzipation und Menschwerdung durch die sozialistische Arbeit wird in den Theatertexten der 50er und 60er Jahre vor allem anhand von Frauenfiguren und ihrem Eintritt in das Erwerbsleben verdeutlicht. Ihr Zugang zur Arbeit wird als strukturelle Befreiung aus ökonomischen und privaten Abhängigkeitsverhältnissen und als eine erfolgreiche, anfangs noch mit den Interessen des Gemeinwesens in Einklang stehende Ich-Findung, inszeniert. Diese Inszenierung knüpft an die theoretische Traditionslinie der ArbeiterInnenbewegung an, der zufolge sich die Emanzipation der Frau über ihre Erwerbstätigkeit und ökonomische Unabhängigkeit vollziehen muss. Die hier angedachte Lösung der Frauenfrage ist bei August Bebel und Clara Zetkin eng an die allgemeine soziale Frage gebunden, sie kann ihrer Ansicht nach nur unter den Arbeitsbedingungen einer sozialistischen Gesellschaft gelingen12 und zeigt in ihrer Verwirklichung somit auch eine allgemeine Befreiung der Menschheit an.

9 MIDDENDORF, STEFAN: Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige. Dissertation. Berlin 2000, S. 40.

10 Vgl. vor allem Heiner Müllers Stücke DER LOHNDRÜCKER und DIE KORREKTUR (zusammen mit Inge Müller), DER BAU, aber auch den Text DIE SORGEN UND DIE MACHT von Peter Hacks oder Volker Brauns Stücke DIE KIPPER und FREUNDE.

11 Vgl. z.B.: KÖNIGSDORF, HELGA: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Reinbek bei Hamburg 1990.

12 „Unter den gegebenen Verhältnissen muß aber die Zulassung der Frauen zu allen industriellen und gewerblichen Tätigkeiten die Wirkung haben, daß der Konkurrenzkampf der Arbeitskräfte immer schärfer wird, und das Schlußergebnis ist: Herabdrückung des Einkommens für die weibliche und für die männliche Arbeitskraft, bestehe dieses in der Form von Lohn oder Gehalt.“ BEBEL, AUGUST: Die Frau und der Sozialismus. Berlin/DDR, 1973, S. 28.

„Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichheit der Geschlechter.“13

Auf Basis dieser Traditionslinie erscheint die Figur der arbeitenden Frau in vielen Theatertexten der DDR als entscheidender Gradmesser für die Bewertung der realsozialistischen Gesellschaftsordnung, an ihr wird ausgehandelt, ob eine allgemeine Befreiung des Menschen aus entfremdenden Verhältnissen gelingen kann oder nicht. Die Inszenierung einer gelungenen oder gescheiterten Menschwerdung der arbeitenden Frau wird zum wichtigen Moment für die Bestätigung oder Kritik der sozialistischen Verhältnisse, aber auch für die Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Utopie.

Die Inszenierung dieser Menschwerdung basiert dabei auf zwei wichtigen weiblichen Figurensujets: auf dem der Hausfrau, die sich am Beginn oder am Ende der Handlung für den Eintritt ins Erwerbsleben entscheidet, und auf dem der ländlichen Dienstmagd, die sich über die Verstaatlichung des Grunds und Bodens aus männlich dominierten Abhängigkeitsverhältnissen befreien kann. Die Figur der Dienstmagd knüpft an ein beliebtes Inszenierungsmuster aus den 50er Jahren an, Ende der 60er Jahre verschwindet der ländliche Raum zunehmend als Handlungsort aus den Texten.

Die Aufnahme einer Erwerbsarbeit unter den neuen Eigentumsverhältnissen wird zum wichtigen Katalysator für die persönliche Emanzipation der vormaligen Dienstmagd oder Hausfrau und führt zu einer Neustrukturierung ihrer Beziehungen. Nicht nur sie verändert sich, sondern im Zuge ihrer Bewusstwerdung stellt sie auch neue Ansprüche an ihre Umwelt.

Über die Frauenfiguren werden die Umwälzungen der sozialistischen Gesellschaftsordnung positiv besetzt. Ihre Geschichten stehen Anfang der 60er Jahre in einem emotional aufgeladenen Gegensatz zum männlichen Arbeiter, den die Verstaatlichung der Produktionsmittel wenig zu beeinflussen scheint, weil er „seine Befreiung“ nicht wahrnimmt.

2.1.1. „DIESEN SOMMER HAT MEIN LEBEN ANGEFANGEN.“14 Die Emanzipation der Dienstmagd

Für die in eine ländliche Umgebung eingebundenen Frauenfiguren hat die Arbeit zu Beginn der Stücke bzw. in den erzählten biographischen Rückblicken noch die Grundbedeutung von Mühsal, Not und Last. Helmut Sakowski, dessen Theatertexte in der Regel auf seinen Filmdrehbüchern basieren, konstruiert in seinen bekanntesten Stücken WEGE ÜBERS

13 BEBEL, AUGUST: Die Frau und der Sozialismus. Berlin/DDR, 1973, S. 30.

14 SAKOWSKI, HELMUT: Sommer in Heidkau. Volksstück. Berlin 1967, S. 56. Das Stück war ursprünglich als Fernsehspiel konzipiert und wurde 1964 erstmalig gesendet. Die Uraufführung der ersten Bühnenfassung

„Letzten Sommer in Heidkau“ erfolgte am 3.9.1965 am Friedrich-Wolf-Theater in Neustrelitz, 1967 erschien eine weitere Bühnenfassung unter dem Titel „Sommer in Heidkau“. (Diese und folgende Angaben zu den Terminen und Orten der Uraufführungen sind den Ur- und Erstaufführungsverzeichnissen in THEATER DER ZEIT, Verlagsangaben oder dem Handbuch von Lederer oder der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins entnommen. Vgl.: LEDERER, HERBERT: Handbook of East German drama: 1945–1985. New York u.a. 1991;

„Wer spielte was?“ Werkstatistik des DEUTSCHEN BÜHNENVEREINS/BUNDESVERBAND DEUTSCHER THEATER.

LAND, STEINE IM WEG und SOMMER IN HEIDKAU die Grundsituation einer Dienstmagd, die sich durch die neue Gesellschaftsordnung bzw. ihren bewussten Eintritt in die LPG aus einem vorherigen, nahezu feudal anmutendem Arbeitsverhältnis befreien kann. In der Eingangsszene von SOMMER IN HEIDKAU (1967) scheuert die Putzfrau Hete kniend die Dielen unter den Augen des sie dabei sexuell bedrängenden Arbeitsgebers. Das Stück, dessen Handlungszeit in der Gegenwart der 60er Jahre angesiedelt ist, inszeniert ihren Weg in die LPG als Erfolgsgeschichte: Sie steigt von der unqualifizierten und abhängigen Haushaltshilfe zur selbstbewussten Traktoristin auf, die nun auch eine frei gewählte und erfüllte Beziehung zum LPG-Vorsitzenden Robert aufbauen kann. Gertrud, die Tochter eines Tagelöhners aus WEGE ÜBERS LAND (1969),15 wird von dem Gutsbesitzer, bei dem sie arbeitet, schwanger. Das Versprechen, sie zu heiraten, hält er aus Standesgründen nicht, sie treibt daraufhin das Kind ab und geht eine ökonomisch motivierte Beziehung zu einem anderen Mann ein. Die Liebe ihres Lebens erfüllt sich für Gertrud erst unter sozialistischen Verhältnissen. Nachdem sie zur Genossenschaftsvorsitzenden gewählt wird und den eigenen, ihr erst kürzlich zugesprochenen Boden wieder in die LPG einbringt, kann sie eine späte, aber glückliche Beziehung zu dem Kommunisten Willi Heyer eingehen. Lisa aus STEINE IM WEG (1962) muss ihr Kind allein aufziehen, nachdem sie von der Frau des Gutsbesitzers Alfred, der der Vaters des Kindes ist, vom Hof gejagt wurde. Über die neue Gesellschaftsordnung bekommt auch sie die Möglichkeit, selbstbewusst ihr eigenes Leben zu gestalten und eigene Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren. Als Leiterin des genossenschaftlichen Kälberstalls wird Lisa erstmalig als Mensch sichtbar und anerkannt, sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung.

„Lisa: Vielleicht hab´ ich mir manchmal Kraft geholt bei dem Gedanken, ich müsste gewissen Leuten in diesem Dorf beweisen, und schließlich auch mir selbst, dass ich keine bin, die man beiseitetreten kann, wie einen aufdringlichen Köter ..., dass ich keine bin, durch die man hindurchstarren kann, als wär´ sie Luft – ...“16

Diese metaphorische Entwicklung vom „Köter“ zum Menschen, von der nicht sichtbaren zur sichtbaren Person wird als Motiv in vielen Texten bis in die 70er Jahre hinein wiederholt.

Andere Bilder und Monologe verweisen darauf, dass mit der sozialistischen Arbeit ein neues oder zweites Leben beginnt bzw. dass nun überhaupt erst gelebt werden kann. Lisas Kampf um ihre Arbeit im Kälberstall, die im Verlauf des Stückes dem Gutsbesitzer Alfred zugesprochen werden soll, weil er für den Posten seine Herde in die Genossenschaft einbringen will, zeugt von einem gewachsenen Selbstbewusstsein. Die dramatische Gestaltung ihrer Menschwerdung in der Arbeit mündet gleichzeitig in einen Konflikt, in dem sie die geliebte Arbeit wieder zu verlieren droht. Dieser Verlust ist für sie gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer neuen Identität und Würde. Alle drei Stücke wie auch die Filme von

15 Auch dieses Stück basiert auf einer Fernsehfassung, die 1968 erstmalig gesendet wurde. Die Uraufführung der Bühnenfassung erfolgte am 3. 10. 1969 in Leipzig.

16 SAKOWSKI, HELMUT: Steine im Weg. Nach einem Fernsehspiel unter Mitarbeit von Hans Müncheberg. Berlin 1963, S. 19f. Die Fernsehfassung wurde 1960 erstmals gesendet, die Uraufführung des Theaterstücks fand am 12. Oktober 1962 am Maxim Gorki Theater in Berlin statt und wurde bis 1974 an 24 weiteren Theatern gespielt.

Sakowski waren in der DDR äußerst erfolgreich, Lisa aus STEINE IM WEG galt lange Zeit als eine der schönsten Frauenfiguren der sozialistischen Dramatik.17

Dieser dramatische Handlungsverlauf der sogenannten „Agrodramen“18 klingt auch in Heiner Müllers Text DIE UMSIEDLERIN ODER DAS LEBEN AUF DEM LANDE (1961)19 an, wenn auch in gänzlich anderer Ausgestaltung und ohne verbindliches oder beschönigendes Happy End.20 Auch hier versuchen die Frauenfiguren im Zuge der Bodenreform aus der geschlechtsspezifischen Zuspitzung des Herr-Knecht-Verhältnisses auszubrechen, sie lernen „Ich“ zu sagen. Heinz Kersten weist in seinem Aufsatz THEATER UND THEATERPOLITIK IN DER DDR auf die auffällige Dominanz von Frauenfiguren in den Landwirtschaftsstücken der 50er und frühen 60er Jahre hin. Die von den meisten Bauern abgelehnte Bodenreform und spätere Kollektivierung enthält für die Frauenfiguren durchaus positive Aspekte, insofern sie ihnen den Besitz eines eigenen Stückes Land oder die Mitarbeit in der Genossenschaft ermöglicht und damit den Weg zur ökonomischen Gleichberechtigung erleichtert.21 Dass gerade sie das im Rahmen der Bodenreform zugesprochene Land als Erste wieder in die Genossenschaft einbringen werden, wiederholt nicht nur das Stereotyp von einer ausgeprägten sozialen Verantwortungsbereitschaft der Frau, sondern leistet über den Moment der Identifikation auch Überzeugungsarbeit. Diese Frauenfiguren scheinen dem Publikum wie auch den AutorInnen selbst zu versichern, dass die Kollektivierung bzw. die Entscheidung für die LPG nicht die Zurücknahme einer erst kürzlich gewonnenen Freiheit bedeutet. Das Paradox von der Befreiung des Menschen in der gleichzeitig zwanghaften Unterwerfung unter ein neues staatliches Regelwerk scheint hier noch harmonisch aufgelöst.

Durch Heiner Müller wird diese positive Bewertung der Kollektivierung erstmalig in Frage gestellt. Die strukturellen Veränderungen im Zuge der Bodenreform führen in seinem Text DIE UMSIEDLERIN nicht zwangsläufig zu einer freiheitlichen Form von Arbeit oder zu Veränderungen im Bewusstsein der Bauern. Das Herr-Knecht-Prinzip bleibt auch unter den

17 „Lissy Tempelhof gastiert in diesem Stück als Lisa im Maxim Gorki Theater. Sie ist eine temperamentvolle

‚Schwarze‘, deren weiches Herz sich hinter einem Panzer erlittener Demütigungen verbirgt – eine der schönsten Frauengestalten unserer zeitgenössischen Dramatik.“ IN: STERN, KATJA: Steine im Weg – Ein großer Abend im Maxim Gorki Theater. Neues Deutschland 15.10.1962.

18 „Mit Vorliebe wurde der Weg einer ursprünglich von ihrem Mann unterdrückten Bauersfrau als ‚Magd ihres Mannes‘ zu einer emanzipierten Persönlichkeit unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auf dem Lande thematisiert.“ BRAUN, MATTHIAS: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ im Oktober 1961. Berlin 1995, S. 10.

19 Mitarbeit Inge Müller. BRAUN (1995), S. 11.

20 Matthias Braun betont, dass sich Müller deutlich von den Agrodramen abgrenzen wollte. So wurde im damaligen Programmheft darauf hingewiesen, dass das Stück nicht nur das Leben auf dem Lande, sondern im Lande meint. Meiner Meinung nach zeigt sich daran keine hinreichende Abgrenzung, die Agrodramen verfolgten einen ähnlichen Anspruch. Die Unterscheidung ist vielmehr in der jeweiligen Ausgestaltung der ländlichen Motive zu finden. Vgl.: BRAUN (1995), S. 11.

21 KERSTEN, HEINZ: Theater und Theaterpolitik in der DDR. IN: GRIMM, REINHOLD; JÄGGI, WILLY; OESCH,

21 KERSTEN, HEINZ: Theater und Theaterpolitik in der DDR. IN: GRIMM, REINHOLD; JÄGGI, WILLY; OESCH,