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DAS MACHT DIE ERFAHRUNG UND WIE MAN FERTIG WIRD MIT IHR“. 1

5. Arbeit als schöpferische Tätigkeit

5.1. „FÜR MICH IST DAS LEBEN ´N GROßER BERG. UND DA WILL ICH RAUF.“1 Das Motiv der schöpferischen Arbeit in den Theatertexten der DDR

Peggy Mädler

„Auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse hat sich der sozialistische Charakter der Arbeit herausgebildet“, schreibt Harald Bühl 1967 in seinem Buch KULTUR DER SOZIALISTISCHEN ARBEIT.2 Dieser besondere „Charakter“ der Arbeit wird von ihm über zwei Begriffe näher bestimmt: zum einen über den Begriff des Schöpferischen und zum zweiten über den Begriff des Ästhetischen.3 Die Idee der Selbstverwirklichung in der Arbeit, die sich bei Marx vor allem auf das Gattungswesen Mensch bezieht und dem Individuum nur unter idealen Bedingungen zusteht,4 sieht Brühl zukünftig auch für den Einzelnen erfüllt.

Jede produktive Arbeit wird eine schöpferische und ästhetisch befriedigende Arbeit sein, über die sich das Individuum in all seinen Möglichkeiten entfalten kann. Das Buch beschwört für diese Zielstellung enthusiastisch die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die Rationalisierung führt in dem utopischen Gedankengang dazu, dass Gebrauchswerte mit zunehmend geringerem Arbeitsaufwand zu erzeugen sind und damit die Arbeit ihren physischen und psychischen Belastungen enthoben wird.Das Konzept der Erwerbsarbeit wird in Brühls Vision beibehalten, sie ist als nicht entfremdete Arbeit Grund-bedingung des menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Organisation.5 Auch zielt seine Idee einer schöpferischen und ästhetischen Arbeit ausschließlich auf den Bereich der produktiven Erwerbsarbeit ab, die reproduktive Arbeit ist hier nicht gemeint.

Diese utopische Konstruktion der sozialistischen Arbeit als schöpferische und ästhetische Tätigkeit, die durch die veränderten Eigentumsverhältnisse der neuen Gesellschaftsordnung, aber auch durch die Möglichkeiten der technisch-wissenschaftlichen Revolution realisiert bzw. umfassend erfahrbar werden soll, ist in vielen Gegenwartstexten der DDR zentrales Thema. Sie ist Grundlage für euphorische wie auch kritische Einlassungen. In den Texten der 60er Jahre wird die Bewusstwerdung des Schöpferischen und Ästhetischen in der Arbeit hauptsächlich über eine Verberuflichung der Arbeit und die damit einhergehende Qualifizierung vor allem von Frauenfiguren inszeniert.6 Die ökonomische Unabhängigkeit der

1 KERNDL, RAINER: Ich bin einem Mädchen begegnet. IN: Theater der Zeit 12/1970, S. 71.

2 BÜHL, HARALD: Kultur der sozialistischen Arbeit. Berlin 1967, S. 3.

3 Vgl.: BÜHL (1967), S. 3f.

4 Der Begriff der Selbstverwirklichung wird bei Marx nicht vordergründig als die Entfaltung besonderer Eigenheiten und Fähigkeiten des Individuums gedacht, sondern als die Selbstverwirklichung des Gattungswesens Mensch. Zwar lehnt Marx die strikte Unterordnung des Einzelnen unter das Allgemeine ab, seine Einheitsidee geht aber davon aus, dass die Instanz Staat so verinnerlicht werden kann, dass die Individuen aus sich selbst heraus individuelle Gemeinwesen sind. In diesem utopischen Gedankengang sind das individuelle und das Gattungsleben des Menschen nicht mehr verschieden, ein Interessenkonflikt scheint nicht mehr möglich bzw. wird verdrängt und negiert. Vgl.: LANGE, ERNST MICHAEL: Das Prinzip Arbeit. Drei metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der ‚Kritik der Politischen Ökonomie‘ von Karl Marx. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1980, S. 109 ff.

5 Vgl.: BÜHL (1967), S. 9.

6 Dieses Ergebnis deckt sich mit Florian Kreutzers Feststellung, dass in den 60er Jahren der Beruf das Leitbild der sozialistischen Arbeit wurde. „Bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begannen jene semantischen

arbeitenden Frauenfigur transportiert das Versprechen auf Emanzipation, aber erst der spezifische Beruf, die qualifizierte Berufsarbeit führt dazu, dass sie eine Art Liebesbeziehung zur Arbeit eingeht, sich also mit ihrer Arbeit identifiziert. Im Verständnis vom Beruf als schöpferische, aber auch ästhetische Tätigkeit wird das Moment der Menschwerdung in seiner motivischen Bearbeitung zum Moment der Individualisierung. Persönliche und gesellschaftliche Interessen verknüpfen sich auf harmonische Weise, die Berufsarbeit wird als Mittel einer individuellen Selbstentfaltung gefasst, die zwangsläufig auch der Gemeinschaft zu Gute kommen muss. Die Frauenfiguren vieler Texte vermitteln die Möglichkeit, aber auch den Anspruch, Arbeit als Form der persönlichen Entwicklung zu erleben. Die Inszenierung von unqualifizierter Arbeit nimmt dementsprechend im Verlauf der Dramatik der 60er Jahre kontinuierlich ab bzw. wird zunehmend negativ besetzt, das politische Leitbild der wissenschaftlich-technischen Revolution wird dagegen hoffnungsvoll wiederholt und bestärkt. Gleichzeitig zeigen sich in den Szenarien aber auch erste Risse, in denen das Ideal der Interessensharmonie bröckelt. In den Texten ab Ende der 70er Jahre und vor allem der 80er Jahre nimmt die Inszenierung unqualifizierter Arbeit wieder zu, anhand von Außenseiterinnen und Aussteigerinnen wird Erwerbsarbeit zunehmend als moralischer Zwang erfahrbar, dem sich das Individuum mit seinen Bedürfnissen zu unterwerfen hat. Die Frauenfiguren fungieren nun als Projektionsfläche eines Scheiterns, das Ideal der schöpferischen und ästhetischen Arbeit, die Vorstellung einer harmonischen Einheit von Arbeit und Leben, kann in den zum Teil sehr bedrückenden Szenarien vor allem der 80er nicht mehr eingelöst werden.

5.1.1. „ES GEHT IHR NICHT UM IRGENDEINE BESCHÄFTIGUNG, HANNES. IHREN BERUF WILL SIE.“7

Das Motiv der sich qualifizierenden Frau

In Franz Freitags Stück VERSCHWÖRUNG UM HANNES, das 1963 in Neustrelitz uraufgeführt wurde, wird Lisa, eine Nebenfigur des Textes, die als Saisonarbeiterin auf dem Feld der LPG arbeitet, zur Qualifizierung aufgefordert:

„HANNES: Deine Lisa zum Beispiel. Wir könnten sie im Kälberstall gebrauchen. Die Frauen haben goldene Hände, das sind Reserven.“8

und strukturellen Veränderungen, die dann in den sechziger Jahren dazu führten, daß im Kontext der Modernisierung der sozialistischen Gesellschaft die beruflich-fachliche Qualifikation zum Leitbild der Arbeit wurde, indem die technologische und wissenschaftliche Qualifikation der Arbeitskräfte ins Zentrum des Diskurses, der politischen Reformen und des sozialen Wandels rückte.“ KREUTZER, FLORIAN: Die gesellschaftliche Konstitution des Berufs. Zur Divergenz von formaler und reflexiver Modernisierung in der DDR.

Frankfurt/ Main 2001. S. 74/75.

7 MÜLLER, ARMIN: Sieben Wünsche. IN: Theater der Zeit 3/1974, S. 55. Das Stück wurde am 15.5.1974 in Weimar uraufgeführt.

8 FREITAG, FRANZ: Verschwörung um Hannes. IN: Theater der Zeit 14/1963 (Beilage), S. 8.

Hintergrund für die an Frauen gerichteten Qualifizierungsaufforderungen ist der große Arbeitskräftemangel in Industrie und Landwirtschaft. Zwar wird mit dem Mauerbau von 1961 einer weiteren Abwanderung von Arbeitskräften gewaltsam entgegengewirkt, aber der bereits entstandene Mangel an Fachkräften bestimmt lange Zeit die wirtschaftliche Situation der DDR.9 Die beginnende Automatisierung im Zeichen der technisch-wissenschaftlichen Revolution bringt einen weiteren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften mit sich, was die Frauenfiguren in vielen Stücken als Argument nutzen, um eine Berufsausbildung mit Hilfe der Partei gegen ihre Väter oder Ehemänner durchzusetzen. Auch Lisas Mann Willibald spricht sich zunächst gegen die Qualifizierung aus. Lisas Aufbegehren und schlussendliche Entscheidung, den Lehrgang zur Melkerin dennoch zu absolvieren, führen nicht nur zu ihrer größeren Unabhängigkeit innerhalb der privaten Beziehung, sondern darüber hinaus auch zu einer Bewusstwerdung von Ansprüchen an die Arbeit. Lisa wünscht sich eine sinnvolle und zugleich erfüllende Arbeit, die nur die qualifizierte Arbeit, sprich der Beruf gewährleisten kann:

„LISA: Wir werden ja sehen, wer nachgibt! Ich will einen Beruf haben! Und da gibt es Gesetze für Frauen.“10

Wie Lisa über ihre Identifikation mit dem Beruf der Melkerin die Liebe zur Arbeit entdeckt und sich als Mensch mit eigenen Bedürfnissen und besonderen Fähigkeiten entfaltet, so lernt das gesamte Dorf über die Handlungszeit des Stückes hinweg, dass die Setzung eines individuellen Anspruchs an die Arbeit nicht nur zu einer höheren Leistung und damit zu einer höheren Produktivität führt, sondern auch Spaß, Stolz und Freude, sprich die bewusste Erfahrung des Schöpferischen in der Tätigkeit des Arbeitens, damit einhergehen. Dieser Umschwung ist nicht mehr einfach als Menschwerdung über den Eintritt in das sozialistische Erwerbsleben zu beschreiben, Lisa arbeitet ja bereits als ungelernte Saisonarbeiterin in der LPG, sondern über das Moment der Qualifizierung wird Arbeit als individuelle Berufung um-gedeutet. Das Prinzip, welches dieses Dorf umkrempelt, ist sehr einfach: zunächst steht das persönliche Interesse im Vordergrund, alle arbeiten versuchsweise für eine Weile so, als würden sie es ausschließlich für sich tun. Dieses egoistische Prinzip, welches sich die Protagonistin Heidi ausgedacht hat, um den neuen Brigadier Hannes aus dem Dorf zu vertreiben, schlägt in ein von ihr unbeabsichtigtes Happy End um. Die Dorfbevölkerung lernt, dass ihre individuellen Interessen gleichsam unbeabsichtigt das Gemeinwohl befördern, also nicht im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Interessen stehen. Über ihren also nur scheinbaren Egoismus wird die Arbeit bewusst neu entdeckt und zur geliebten Tätigkeit, für die sie sich weiterbilden bzw. qualifizieren. Freiwillig beschäftigen sie sich mit neusten Methoden und Erkenntnissen in der Tierhaltung und übertragen diese auf ihre konkrete Situation in der LPG. Auf diese Weise verändert sich das Arbeitsumfeld, es wird durch die bewusste schöpferische Tätigkeit umgestaltet und ästhetisiert: Die Ställe werden gründlicher

9 Vgl.: KREUZER (2001), S. 128f.

10 FREITAG (1963), S. 10.

gesäubert, die Tiere nach wissenschaftlichen Vorgaben gefüttert und beobachtet, Alkohol und Zigaretten vom Arbeitsplatz verbannt. Das Stück endet im Kuss von Hannes und Heidi und damit auch in der glücklichen Vermählung der privaten und gesellschaftlichen Interessen. Die Bauern und Bäuerinnen sind stolz auf ihre Arbeit und entwickeln sich durch sie weiter. Diese bruchlose Inszenierung der schöpferischen Arbeit als eine das Individuum beglückende und fördernde Arbeit, die vollständig im Einklang mit den gesellschaftlichen Interessen steht, ist allerdings eher eine Ausnahme. Eine ähnliche Erfolgsdramaturgie ist so nur noch in Franz Freitags anderem Stück DIE SORGENKINDER (1964) zu finden.11

In vielen Texten der 60er Jahre geht mit dem beruflichen Aufstieg von Frauenfiguren eine Ausdifferenzierung des privaten Bereichs einher. Nicht selten folgt auf die berufliche Qualifizierung bzw. schon auf die Qualifizierungsabsicht eine Trennung von bisherigen Beziehungspartnern. Die Erfahrung des Schöpferischen in der Arbeit führt in den Texten zu deutlich erhöhten Erwartungen, die sich auf die gesamte Lebensgestaltung beziehen. Dass sich jenseits der literarischen Texte wohl ebenfalls eine Ausdifferenzierung des Privaten vollzog, verdeutlicht eine These von Wolfgang Engler:

„Sie wollten nicht nur Aufbau, sondern Aufbruch, nicht nur Freiheit von ..., sondern auch Freiheit zu ... Und sie waren die Menschen, den Anspruch auch mit Leben zu erfüllen, genauer: sie waren diese Menschen geworden. [...] Dass viele ihrer selbst sicherer, sich ihrer unverzichtbaren Stelle im Ganzen bewusster geworden waren, hing zweifellos mit der langjährigen Erfahrung, dem mehr und mehr selbstverständlichen Umgang mit Arbeitsplatzgarantie und sozialer Sicherheit zusammen. Man konnte nicht wirklich scheitern, aus der Gesellschaft herausfallen und war sich darüber im Klaren. Die Konsequenzen waren weit weniger klar. Gerade weil der Staat existenzielle Lebens-risiken dämpfte, setzte er in der Gesellschaft Energien und Aspirationen frei, die über die bloße Daseinsfürsorge hinauswiesen. [...] Gerade weil das soziale Leben abgesichert war, konnte man im persönlichen Leben mit Unsicherheit experimentieren; mit ungewohnten Gedanken; mit offeneren, spontaneren Lebensformen. Und genau das missfiel parteistaatlicherseits.“12

Der Anspruch auf eine Selbstverwirklichung im Beruf geht mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein der qualifizierten Frauen einher, die Trennungen und Scheidungen verweisen noch nicht, wie in späteren Stücken, auf eine Einsamkeit im Privaten oder auf ein individuelles Scheitern. So sieht auch Helga in Horst Kleineidams Stück MILLIONENSCHMIDT13 (1962) in den Scherben ihres Hochzeitsbildes vor allem eine neue Perspektive. Ihre Entscheidung für ein Lehramtsstudium führt zum Auseinanderbrechen ihrer

11 In dem Stück, das 1964 in Neustrelitz uraufgeführt wurde, will sich die 19-jährige Protagonistin Hella Rex zur Schweinemeisterin weiterbilden. Auch sie sieht in der qualifizierten Arbeit eine Möglichkeit für die persönliche Selbstverwirklichung. „HELLA: Meinen Beruf will ich haben. Nicht nur Arbeit! Meinen Schweinemeister. Aber er.

Wo’s grad paßt. Heute ins Gemüse, morgen Futteranbau. Sein Putzlappen bin ich! Frühstück, Mittag, Abendessen, Waschen, Stopfen, Flicken. Das ist mein Leben. Was soll daran schön sein?“ FREITAG, FRANZ:

Sorgenkinder. IN: Theater der Zeit 6/1965, S. 3.

12 ENGLER (2000), S. 61.

13 Das Stück wurde am 9.11.1962 in Leipzig uraufgeführt.

noch sehr in Traditionen verhafteten Ehe. Helga wendet sich in Folge aber nicht dem moralischen Helden der Geschichte, ihrem Schwager Walter, zu, sondern entschließt sich bewusst für das Singleleben. Sie kündigt die bisherige Arbeit im Lohnbüro einer Baustelle als auch das traditionelle, von Aufopferung gekennzeichnete Ehemodell der Schwiegermutter gleichermaßen auf:

„Helga: Eine großartige Bilanz. Dreißig Jahre lang Strümpfe stopfen, Kinder erziehen und die Hand über den Ehemann halten, damit ihn der Blitz nicht erschlägt. Ich will auch Kinder haben, ja. Aber ich will noch mehr. Zwischen Geborenwerden und Sterben muß doch etwas sein, um das es sich lohnt zu leben.“14

Ähnlich wie die Figuren aus Franz Freitags Stücken fordert Helga mit ihrem Qualifizierungsanspruch auch die Loslösung der Arbeit vom einfachen Zweck des Gelderwerbs ein. Sie sucht über die Arbeit einen persönlichen Lebenssinn. In diesem Stück zeigt sich deutlich, wie in dem Motiv der schöpferischen Arbeit gleichzeitig das Ideal der protestantischen Arbeitsethik aufgegriffen wird. Es geht nicht um das Arbeiten an sich, sondern darum, seine Berufung, einen persönlichen Lebenssinn zu finden, sprich diejenige Arbeit auszuüben, in der man sich am besten verwirklichen und damit auch am meisten leisten kann. In dieser Wechselwirkung von Selbstverwirklichung und Leistungsfähigkeit vollzieht sich eine harmonisch gedachte Einheit von individuellen und gesellschaftlichen Interessen. Im protestantischen Arbeitsethos ist es nicht anstößig, einem persönlichen Erwerbsinteresse zu folgen, sondern dieses erscheint als gottgewollt.

„Nun ist natürlich die gesamte asketische Literatur fast aller Konfessionen von dem Gesichtspunkt durchtränkt, daß treue Arbeit auch bei niederen Löhnen seitens dessen, dem das Leben sonst keine Chancen zugeteilt hat, etwas Gott höchst Wohlgefälliges sei.

Darin brachte die protestantische Askese an sich keine Neuerung. Aber sie vertiefte nicht nur diesen Gesichtspunkt aufs mächtigste, sondern sie erschuf jener Norm das, worauf es ja schließlich doch für deren Wirkung allein ankam: den psychologischen Antrieb durch die Auffassung dieser Arbeit als Beruf, als vorzüglichsten, ja letztlich oft als einzigen Mittels, des Gnadenstandes sicher zu werden. Und sie legalisierte auf der anderen Seite die Ausbeutung dieser spezifischen Arbeitswilligkeit, indem sie auch den Gelderwerb des Unternehmers als ‚Beruf‘ deutete.“15

In der sozialistischen Gesellschaft gelten die Klassengegensätze, also die Trennung zwischen den herrschenden Unternehmern und der ausgebeuteten Arbeiterklasse, offiziell als aufgehoben. Die Bindung an den Beruf – als geeignetes Identifikationsobjekt und Mittel zur Steigerung der Motivation und damit der Arbeitsproduktivität – wird jedoch weiterhin angerufen. Nun soll nicht behauptet werden, dass bereits Karl Marx diese Adaption der protestantischen Arbeitsethik mit seinem Begriff der Selbstverwirklichung angedacht hat.

Vielmehr entsteht diese Verbindung in der Transformation seiner Theorie von der Arbeit als

14 KLEINEIDAM, HORST: Millionenschmidt. Verlagsexemplar. Henschelverlag. Berlin 1963, S. 11.

15 WEBER, MAX: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Erfstadt 2006, S. 157.

schöpferischer Tätigkeit in das Ideal der Berufstätigkeit, wie sie die spezifische weltanschauliche Theorie des Marxismus-Leninismus vermittelt.16

Vor diesem Hintergrund kann der Schwager Walter in MILLIONENSCHMIDT auch Helgas Sorge zerstreuen, mit ihrem Studienwunsch einem selbstverliebten Egoismus zu frönen. Er bestärkt sie in ihrem Vorhaben und sieht darin sogar eine gesellschaftliche Aufgabe.

„Walter: Ob das Leben – mit seinen Gräsern, Fröschen und Nashörnern einen Sinn hat, das weiß ich tatsächlich nicht. Das ist mir zunächst auch egal. Aber dein Leben und mein Leben kann einen Sinn haben, wenn wir ihm einen geben. ... Wir stehen in diesem Leben. Wir können mithelfen, mitformen. Das ist eine großartige Aufgabe.“17

Dieses schöpferische Verständnis von Arbeit führt unter der Wiederholung der protestantischen Berufsidee zur quasi „natürlichen“ Verschmelzung von Eigeninteresse und allgemeiner Pflicht. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass nur bestimmte individuelle Interessen derart positiv aufgeladen werden. Das Interesse von Helgas Ehemann, auf der Baustelle so wenig wie möglich zu arbeiten und dabei so viel Geld wie möglich zu verdienen, wird im Text deutlich abgestraft. Nicht nur verliert er deshalb seine Frau, er muss darüber hinaus auch mit Zwang seiner Läuterung zugeführt werden. Die Arbeit verliert in Form der Berufung nicht ihre moralische Überhöhung, im Gegenteil, diese spitzt sich sogar zu. Am „richtigen“ Arbeitsplatz – d.h. mit einer Arbeit, die dem Bedürfnis und den Fähigkeiten des Individuums entspricht – ist dieses in der Lage, produktiver zu arbeiten, noch mehr zu leisten. Die Form, in der das Individuum sein Interesse ausleben darf, wird also weiterhin durch den Rahmen des gesellschaftlichen Interesses bestimmt, passt das individuelle Bedürfnis nicht hinein, muss es entsprechend umgebogen, sprich angepasst werden. Helga fungiert hier als Prototyp für eine gelungene sozialistische Identitätsbildung, die auch „richtige“ Bedürfnisse hervorbringt und in stereotypen Rollenbildern eingebunden ist. Sie wählt sich den Erzieherinnenberuf, am Ende des Textes schreibt sie sich für ein Lehramtsstudium ein. Bei ihr halten sich der Anspruch auf die eigene Selbstverwirklichung und die gesellschaftliche Aufgabe, das Glück der anderen zu befördern, noch die Waage bzw. stehen im Einklang zueinander.

Über die Qualifizierungsbestrebungen der Frauenfiguren tritt in der überwiegenden Zahl der Stücke der 60er Jahre somit die Berufsidee deutlich an die Stelle der Versorgungs- und Erwerbsarbeit. Der Beruf wird zur sozialen Institution par excellence, er vermittelt zwischen den Egoismen der Individuen und dem Allgemeininteresse des Staates.18 Darüber hinaus zeigt sich in den Texten auch ein mögliches Verständnis von Arbeit als ästhetische Tätigkeit an, über das gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen von Arbeit und später

16 Marx verweist eher auf die Aufhebung der Arbeitsteilung in der kommunistischen Gesellschaft, in der man morgens jagen, mittags fischen, nachmittags Schafe hüten und abends Kritiken schreiben könnte. Diese Vision enthält eben gerade nicht die Setzung einer Spezialisierung aufgrund einer Berufung. Vgl.: MARX, KARL;

ENGELS, FRIEDRICH: Die deutsche Ideologie. (MEW Band 3.) Berlin/DDR 1969, S. 33.

17 KLEINEIDAM (1963), S. 49f.

18 KREUTZER (2001), S. 9.

das Ausbleiben einer technischen Modernisierung kritisch verhandelt werden. Erfahrungen der Routine, der Langeweile, der Überforderung oder aber der Plackerei an veralteten Betriebsanlagen überlagern die utopisch aufgeladene Berufsidee der frühen Stücke. Die Vorstellung einer gelingenden, individuellen Selbstverwirklichung über einen Beruf tritt zunehmend in den Hintergrund, Arbeit wird wieder stärker als notwendiger Kampf, als Opfer für eine zukünftige Gesellschaft konstruiert und diskutiert.19 In vielen Stücken wird die Idee der schöpferischen Arbeit mit Verweis auf die technisch-wissenschaftliche Revolution von der Gegenwart in die Zukunft verlagert. Gleichzeitig trifft diese Verschiebung in den Texten auf meist junge ProtagonistInnen, die genau diese asketische Aufopferung für ein zukünftiges Versprechen ablehnen und Spaß, Befriedigung und Erfüllung für ihren gegenwärtigen Arbeitsalltag einfordern. Parallel zu dieser literarischen Entwicklung wird das Recht auf freie Berufswahl in der Verfassung von 1968/74 nicht mehr ausdrücklich gewährleistet. Die planmäßige Lenkung des beruflichen Nachwuchses tritt nun vor die individuellen Neigungen und Interessen, diese werden dem gesellschaftlichen Bedarf aufgeopfert.20

5.1.2. „ABER ICH WILL NICHT NUR FÜR DIE ANDERN LEBEN ...“21 Die Kluft zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen

Ab Ende der 60er Jahre wird ein Auseinanderfallen von individuellen und gesellschaftlichen Interessen in den untersuchten Texten zunehmend deutlich. Der individuelle Anspruch auf schöpferische Arbeit, auf Selbstverwirklichung in der Arbeit beginnt an gesellschaftlichen Vorgaben und konkreten Rahmenbedingungen der Arbeit zu scheitern. Nur noch selten ist eine der Frauenfiguren darin erfolgreich, ihre Ziele und Wünsche vollständig zu realisieren.

Die persönliche Glückssuche gerät in einen häufig nicht mehr aufzuhebenden Widerspruch zu den gesellschaftlichen Interessen, eine Entfremdung durch Arbeit wird umso

Die persönliche Glückssuche gerät in einen häufig nicht mehr aufzuhebenden Widerspruch zu den gesellschaftlichen Interessen, eine Entfremdung durch Arbeit wird umso