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Die Heiligen und Huren der Produktion

DAS MACHT DIE ERFAHRUNG UND WIE MAN FERTIG WIRD MIT IHR“. 1

4. Die Heiligen und Huren der Produktion

4. Die Heiligen und Huren der Produktion

4.1. „FRAGEN, DIE WIE PFEILE SIND INS HERZ DER GEWOHNHEITEN.“1 Das Motiv der Heiligen und der gefallenen Frau in den Theatertexten der DDR Peggy Mädler

„Die Frau repräsentiert die Grenzen, Ränder oder Extreme der Norm – das extrem Gute, Reine und Hilflose oder das extrem Gefährliche, Chaotische und Verführerische. Die Heilige oder die Hure, Jungfrau Maria oder Eva. Als Außenseiterin per se kann die Frau auch für eine komplette Negation der herrschenden Norm einstehen, für jenes Element, das die Bindungen normaler Konventionen sprengt, und für den Vorgang, durch den diese Gefährdung der Norm sich artikuliert.“2

Das Motiv der Heiligen und der Hure – zwei kulturelle Denkfiguren von Weiblichkeit, die, wie Elisabeth Bronfen aufzeigt, häufig die Extreme bzw. Ränder einer Kultur ausloten – wird auch in vielen Theatertexten der DDR wiederholend aufgegriffen und variiert. Die enge Verknüpfung von Moral und Sexualität lässt sich vor allem an der Funktionslogik von Frauenfiguren innerhalb von arbeitsmoralischen Konflikten ablesen, ihr Engagement in der Arbeit wird zum Ausgangspunkt für einen weiblichen Tugendbegriff, der trotz seiner spezifischen Ausprägung innerhalb von betrieblichen Handlungsszenarien auf den literarischen Konventionen und Bildern weiblicher Empfindsamkeit des 18. und frühen 19.

Jahrhunderts beruht.3 Darüber hinaus werden anhand des Motivs unterschiedliche gesellschaftliche Idealisierungen, utopische Konzepte, aber auch Zerstörungssehnsüchte vermittelt, in denen sich widersprüchlich erscheinende Konstruktionen von Weiblichkeit gleichzeitig manifestieren.

Die sozialistische Arbeitsmoral muss in den Theatertexten der DDR häufig erst hart erkämpft werden. Inszenierungen von Lohnbetrug, von Alkoholismus und Prügeleien am Arbeitsplatz durchziehen die Dramatik der 60er Jahre und lassen die neue Moral als utopisches Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Läuterungsprozesses erscheinen. Selbst in ihrem Gelingen gleicht diese Läuterung einem Wunder und erzeugt bzw. manifestiert damit den hohen, nahezu göttlichen Anspruch dieser Moral.4 Die Konjunktur der Läuterungsdramaturgie nach

1 BAIERL, HELMUT: Johanna von Döbeln. IN: DERS.: Stücke. Berlin 1969, S. 213. (Im Folgenden gekennzeichnet als BAIERL 1969b.)

2 BRONFEN, ELISABETH: Weiblichkeit und Repräsentation – aus der Perspektive von Ästhetik, Semiotik und Psychoanalyse. IN: BUßMANN, HADUMOD; HOF, RENATE (Hg.): GENUS. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, S. 418f.

3 BRITTNACHER, HANS RICHARD: Goldenes Herz, vergiftetes Geschlecht. Verfemung und Verklärung der Hure in Kunst und Literatur. IN: BETTINGER, ELFI; EBRECHT, ANGELIKA (Hg.): Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. Stuttgart, Weimar 2000, S. 147 ff.

4 Für diese gelingenden Läuterungen lässt sich die Formulierung eines unerwarteten Happy Ends verwenden, dieses erfolgt meist überraschend in den letzten Szenen. Diese schnellen Konfliktauflösungen, das abrupte Abbrechen oder Verharmlosen von Konfliktverläufen sind typisch für die Dramatik dieser Zeit. Georg Lukács bezeichnet solche Konfliktverläufe als banalen, verniedlichenden Happy-End-Optimismus. Vgl.: LUKÁCS, GEORG: Das Problem der Perspektive. IN: Neue Deutsche Literatur 4 (1956). Heft 3, S. 128-133. Vgl. auch:

HAMMERTHALER, RALPH: Die Positionen des Theaters in der DDR. IN: HASCHE, CHRISTA; SCHÖLLING, TRAUTE; FIEBACH, JOACHIM: Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Mit einem Essay von Ralph Hammerthaler. Berlin 1994, S. 171 ff.

dem Mauerbau 1961 geht mit einer kunsttheoretischen Debatte um die Aufgaben und Inhalte eines didaktisch-dialektischen Theaters einher, die in den späten 50er Jahren und Anfang der 60er Jahre die bisher überwiegend ästhetisch geführte Formalismusdebatte in den Hintergrund drängt.5 Die schematische Konstruktion eines positiven Helden wird über die zunehmende Thematisierung von gesellschaftlichen Widersprüchen und Konflikten aufgebrochen, aber nicht grundsätzlich aufgegeben. In den überwiegenden Handlungsszenarien der 60er Jahre wird die starre, vorbildhafte Charakterdarstellung durch entwicklungsdramaturgische Züge ersetzt:6 Der Held steht nicht mehr am Anfang der Stücke, er kommt aber am Ende, nach Bewältigung und Lösung diverser Konflikte, im geläuterten Arbeiter zum Vorschein.

In den Theatertexten der 60er Jahre wird diese moralische Läuterung des zumeist männlichen Arbeiters bzw. eines Kollektivs häufig von Frauenfiguren initiiert. Diese Frauenfiguren können als entwicklungsdramaturgischer Katalysator in der Hervorbringung des sozialistischen Helden bezeichnet werden. Sie werden als Heilige oder „Jeanne d’Arc“7 inmitten des sozialistischen Produktionsalltages platziert und bekräftigen den Erziehungsanspruch der Partei als einen notwendigen Zugriff der Erweckung. Im Gegensatz zu den männlichen Figuren, die häufig erst „erzogen“ werden müssen, kommt bei den weiblichen Heiligenfiguren ganz selbstverständlich eine sozialistische Haltung in den veränderten Produktionsverhältnissen zum Tragen, sie sind schnell empfänglich für die neue Arbeits- und Lebensmoral. In dieser Konstruktion sind die Frauenfiguren nicht nur Läuterungsanlass und Mittel der Disziplinierung für männliche Figuren, sondern über ihren Zuspruch erscheint das Staatsmodell ebenfalls als moralisch gut und folgerichtig. Die engagiert arbeitende Frau ist in vielen Texten der 60er Jahre die utopische Repräsentantin der neuen Zeit, eines neuen Lebensanfangs bzw. einer zweiten Chance. Diese Konstruktion der Heiligenfigur bleibt in unterschiedlichsten performativen Wiederholungen bis zum Ende der DDR erhalten, auch wenn sie zunehmend in einen Gegensatz zum Realsozialismus gesetzt wird. Doch selbst in ihrem innerszenischen Scheitern verliert sie nicht ihre utopischen Zuschreibungen, zum Teil verstärken sich diese sogar.

Bereits Mitte der 60er Jahre zeigt sich in den Texten eine doppelte Konnotation der

„sozialistischen Heiligen“ an, sie ist nicht mehr nur Katalysator oder Disziplinierungsmittel im Kampf um die sozialistische Arbeitsmoral, sondern wird darüber hinaus auch als Versprechen auf politische Reform und Demokratisierung inszeniert. Bis Anfang der 70er Jahre fungiert ihre stereotype Weiblichkeit auch für einen sich selbst reinigenden und vom Dogmatismus geläuterten Parteiapparat. Parallel dazu entstehen erste Theatertexte, in denen sich die Läuterungsprozesse und Disziplinierungsmaßnahmen zunehmend auf die Heiligenfiguren selbst richten. Ihre Ansprüche scheinen mittlerweile zu hoch, nicht mehr

5 Vgl.: KREUZER, HELMUT: Zur Dramaturgie im ‚östlichen‘ Deutschland (SBZ und DDR. IN: DERS.; SCHMIDT, KARL-WILHELM (Hg.): Dramaturgie in der DDR (1945-1990). Band I (1945-1969). Heidelberg 1998, S. 568.

6 Wolfgang Emmerich weist darauf hin, dass die Ankunftsliteratur der 60er Jahre den bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsroman wiederentdeckt und aufgreift. Vgl.: EMMERICH, WOLFGANG: Kleine Literaturgeschichte der DDR. 5., erweiterte und bearbeitete Ausgabe. Frankfurt/Main 1989, S. 124.

7 Vgl. BAIERL (1969b).

zeitgemäß, die „Jeanne D’Arc“ schießt ab den 70er Jahren über das gesellschaftliche Ziel hinaus und muss selbst normiert werden. Ihre moralischen Läuterungsbemühungen gelingen nicht mehr oder werden im Pragmatismus realsozialistischer Alltagspraxis ignoriert bzw.

abgelehnt. Doch auch in ihrem Scheitern bleibt sie die positive Identifikationsfigur. Der dogmatische und repressive Führungsstil der Partei wird in der Regel anhand von männlichen Figuren verhandelt; sie sind als Leiter, Funktionäre und Planer die Repräsentanten normierender Institutionen, so dass bis zum Ende der DDR, trotz massiver Kritik an den gesellschaftlichen Machtstrukturen, die Frau als utopische Figur für einen reinen und wahrhaftigen bzw. alternativen Sozialismus erhalten bleibt.

In vielen Texten der DDR zeigt sich parallel zum Läuterungsmotiv und der Heiligenfigur das damit kulturell eng verknüpfte Hurenmotiv. Auch in diesem Motiv werden Sexualität und eine politische bzw. arbeitsmoralische Haltung eng miteinander verwoben. Es fällt auf, dass das Hurenmotiv fast ausschließlich auf einer ideellen Ebene gefasst und vorgeführt wird, nur sehr selten wird tatsächlich das Thema Prostitution verhandelt. Die gefallene Frauenfigur lässt sich an ihrer unengagierten Arbeitshaltung als Hure an der Produktion erkennen, sie lässt sich für ihre Arbeit bezahlen, ohne diese zu lieben. Darüber hinaus werden ihr zahlreiche, unverbindliche Männerbekanntschaften angedichtet. Die Konstruktion des moralischen Geschlechts wird in diesen Inszenierungen aber aufrechterhalten: Die Geschichten der Hure erscheinen entweder als „Passionswege ‚gefallener Mädchen‘“8 oder als Geschichten von verkannten Heiligen, die sich unter dem Druck der Verhältnisse die Maske der enttäuschten Zynikerin auflegen. Damit wird auch hier die bürgerliche Konvention des 18. Jahrhunderts wiederholt, die den Typus der sensiblen Dirne bevorzugte, die entweder errettet werden kann oder als aufopferungsbereite Kurtisane schließlich ihre „wahre“ Keuschheit beweist. Die Figur der sensiblen Dirne landet unfreiwillig bzw. ohne eigenes Verschulden im sozialen Abseits und kann über die „Rückkehr zum ehrbaren Leben und im Gang zum Altar“ erlöst werden.9 In diesem Sinne können in den Theatertexten der DDR bis Anfang der 70er Jahre einige der gefallenen Frauen- oder verkannten Heiligenfiguren noch „zurückgewonnen“

werden, sie stützen in ihrem wieder erweckten Vertrauen das gesellschaftliche Reformversprechen nach dem Mauerbau. Die „heiligen Huren“ in den Texten ab Mitte der 70er und der 80er Jahre werden dagegen zunehmend als Außenseiterinnen, als Gegenbild zu den gesellschaftlichen Verhältnissen entworfen. Die Konstruktion der Tugendhaftigkeit weicht den Bildern einer archaischen, ja rebellischen Erotik. Die Außenseiterin bewahrt in ihrer Lebensweise und in den permanenten Konflikten mit ihrer Umwelt die Vision eines anderen Sozialismus und sprengt die herrschende Norm, das Korsett gesellschaftlicher Konventionen und zugewiesener Verhaltensmuster auf. Diese „gefallenen“ Frauen landen zwar immer noch ohne eigenes Verschulden im sozialen Abseits, aber sie richten sich selbstbestimmt darin ein. Sie verkörpern die Sehnsucht nach einer freiheitlich gelebten

8 BRITTNACHER (2000), S. 148.

9 BRITTNACHER (2000), S. 148.

Individualität, die von der Gemeinschaft als Gefahr empfunden und daher abgestraft und verleumdet wird. Wird die „gefallene“ Frauenfigur der 60er Jahre noch erfolgreich zur Heiligen gewendet, indem sie ihre falsche Maske schließlich ablegt und in die Gemeinschaft zurückkehrt, erscheint die Außenseiterin der 70er und 80er Jahre als das eigentlich authentische Individuum. Sie verweist als Repräsentantin einer anderen Ordnung aggressiv auf die Entfremdung des Menschen und tröstet gleichzeitig mit ihrer „Grenzen überwindenden Sexualität“10 darüber hinweg. Der weibliche Körper fungiert hier in der Aufladung mit utopischen Bildern einer Naturhaftigkeit, einer entrückten Schönheit oder einem idealisierten Eros als Mittel der Kritik an den sozialistischen Verhältnissen oder aber einer grundsätzlichen Zivilisationskritik. Einige Inszenierungen erinnern dabei an die expressionistische Variation der Hurenfiguren, die

„die Dirne, weil sie vom Verkümmerungsprozeß der gesellschaftlichen Entwicklung freigestellt geblieben war, zur anbetungswürdigen Ikone ursprünglicher Menschlichkeit befördert“.11

Die Außenseiterin wird in den Texten ab Mitte der 70er und vor allem der 80er Jahre zur neuen utopischen Figur, sie kann sich ihren Anspruch auf Schönheit und Ganzheit bewahren, weil sie diese nicht mehr in der Arbeit, sondern im Leben sucht.12 Dieser Anspruch ist in der Sinnlichkeit und in den Sehnsüchten dieser Frauenfiguren eingefangen, er zeigt sich als flüchtiger Glücksmoment in ihrem Begehren. Er ist den Verwertungs- und Rationalisierungsinteressen der Gesellschaft entgegengestellt. Die nicht in Beziehung oder Ehe eingeordnete, sondern ungebundene und ungezügelte Sexualität erscheint hier als ein von gesellschaftlichen Ansprüchen befreiter Raum. Als Brand- oder Konfliktstifterinnen negieren die Außenseiterinnen die sozialistische Arbeitsmoral und werden zur Bedrohung für die gesellschaftliche Konvention. Häufig wird eine Verwandtschaft zwischen dem Künstler und der Außenseiterin hergestellt, beide fungieren als RebellInnen und Ausgestoßene zugleich.13

10 Wiederholt wird in Volker Brauns Stück „Die Übergangsgesellschaft“ der Wunsch formuliert, über die Grenze zu gehen, bis er schließlich in der sexuellen Vereinigung zwischen dem alten Revolutionär Wilhelm Höchst und der Schauspielerin Mette für einen Moment gelingt. Vgl.: BRAUN, VOLKER: Die Übergangsgesellschaft. Komödie.

IN: Theater der Zeit 5/1988, S. 59-64.

11 Vgl.: BRITTNACHER (2000), S. 152.

12 Eine wichtige Vorlage für die Außenseiterin der 70er und 80er Jahre hat Volker Braun bereits 1965 in seinem Stück DIE KIPPER mit der Figur Marinka angelegt.

13 Auch hier gibt es Parallelen zur Entwicklungsgeschichte des Hurenmotivs im 19. Jahrhundert, das zunehmend eine Nähe zwischen Kunst und Prostitution aufweist. Vgl.: BRITTNACHER (2000), S. 155ff.

4.1.1. „DIE MÄNNER ALLE WERDEN REDLICH, / UND AUCH FIDORRA TUT FÜR SEINE FREUNDIN, / WAS ER NICHT FÜR DEN SOZIALISMUS TÄTE.“14

Die Frau als Wegbereiterin und Wächterin einer neuen Arbeitsmoral

Der Prolog des Stückes von Peter Hacks: DIE SORGEN UND DIE MACHT (1962) erzählt sich wie ein Märchen vor dem Hintergrund einer rußigen Fabrikkulisse. Max Fidorra, ein 30-jähriger Brikettarbeiter, wirbt um das junge Mädchen Hede Stoll aus der Glasfabrik. Hede ist zunächst nicht gut auf Max zu sprechen: die schlechte Kohle aus der Brikettfabrik zerstört die Maschinen und Anlagen der Glasfabrik, was zu häufigen Unterbrechungen des Produktionsablaufs und dementsprechend auch zu Lohnabzügen führt. Max Fidorra und seine KollegInnen aus der Brikettfabrik produzieren die Kohle nach dem Prinzip Quantität statt Qualität; auf diese Weise lässt sich die betriebliche Struktur des Leistungslohns und der Prämien am besten ausnutzen:15

„FIDORRA: Ich sage dir doch: Sozialismus ist, wenn man jeden Dreck loswird.“16

Aus Liebe zu Hede überdenkt und verändert Max im Verlauf des Stückes seine Arbeitsmoral und überzeugt mit Hilfe seiner Kolleginnen darüber hinaus auch nach und nach das Kollektiv.

Erst jetzt wird der Arbeiter zum Arbeiterhelden. Die ArbeiterInnen in der Brikettfabrik verdienen schließlich auf ehrliche Weise viel weniger Geld und die Glasfabrik blüht auf.

Bis dahin gleicht das Stück anderen Stücken der 60er Jahre, in denen Frauenfiguren zum Anlass einer Läuterung von einzelnen Arbeitern oder einem ganzen Kollektiv werden. Die erfolgreiche Läuterung wird am Ende der Texte symbolisch über einen Kuss bzw. die Ehe besiegelt, während das Scheitern häufig mit der Trennung bzw. der Wahl eines anderen Mannes verknüpft wird.17 Über diese Dramaturgie vermittelt sich gleichzeitig eine unterschwellige Disziplinierungsebene, denn nur der Arbeiterheld gewinnt die begehrte Frau oder kann sie halten.

Die Verknüpfung von Arbeit und Tugend im Heiligenmotiv verweist dabei auf einen wichtigen Konflikt der frühen DDR-Dramatik: das Problem der Arbeitsmoral und die Bewertung von Geld bzw. Eigentum. Obwohl beide deutsche Staaten nach dem Krieg einer fordistischen bzw. tayloristischen Produktionsweise folgen, sind Unterschiede in der Betriebsführung nicht zu übersehen. Die sozialistische Arbeitsproduktivität soll weniger durch ein System der

14 HACKS, PETER: Die Sorgen und die Macht. IN: DERS.: Ausgewählte Dramen 2. Berlin, Weimar 1976, S. 89.

15 Die Wettbewerbe und die Auszeichnungen der AktivistInnen basieren auf einer festgelegten Norm, diese leitet sich aus einer konkreten Stückzahl/Arbeitsleistung ab, die für einen bestimmten Zeitraum festgesetzt wird.

Überschreitungen dieser Norm werden mit Prämien belohnt. Die Prämie soll das persönliche materielle Interesse an einer hohen Arbeitsproduktivität stärken, damit werden auch in der DDR Strukturen und Mechanismen des tayloristischen Systems übernommen. Vgl.: ZIMMERMANN, HARTMUT; BUNDESMINISTERIUM FÜR INNERDEUTSCHE BEZIEHUNGEN (Hg.): DDR-Handbuch. Köln 1985, S. 847.

16 HACKS (1976), S. 99.

17 Vgl. z.B.: SAKOWSKI, HELMUT: Steine im Weg. Berlin 1963; FREITAG, FRANZ: Verschwörung um Hannes.

IN: Theater der Zeit 14/1963 (Beilage), S. 1-18; DERS.: Der Egoist. IN: Theater der Zeit 24/1968, S. 1-12;

KERNDL, RAINER: Seine Kinder (1963). IN: DERS. (1972), S. 58-121; STOLPER, ARMIN: Klara und der Gänserich. IN: Theater der Zeit 10/1973, S. 40-64; KLEINEIDAM, HORST: Millionenschmidt. Verlagsexemplar Henschelverlag. Berlin 1963; DERS.: Von Riesen und Menschen. Verlagsexemplar Henschelverlag. Berlin 1967;

GOZELL, ROLF: Aufstieg von Edith Eiserbeck. Probenfassung. IN: Theater der Zeit 10/1970, S. 68-80.

Überwachung und finanziellen Anreize gewährleistet werden, auch wenn das System der Stechuhren, Prämien und Akkordlöhne beibehalten wird, sondern vielmehr durch ein psychologisch fundiertes Motivierungsverfahren.18 Die politische Philosophie wirkt hier tief in die betriebliche Struktur hinein, die ArbeiterInnen sollen sich als EigentümerInnen fühlen und sich über dieses Bewusstsein selbst zu Bestleistungen aktivieren. Ihre Arbeitsmoral wird in den 60er Jahren zum Hauptinstrument im Kampf um eine höhere Arbeitsproduktivität, mit der die Überlegenheit des Sozialismus auch nach außen hin sichtbar werden soll:

„Nur so kann die Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung sichtbar, für alle fühlbar, nur so kann der Sieg des Sozialismus endgültig gesichert und der Frieden bewahrt werden. Die Arbeitsproduktivität ist nicht nur eine Frage der Organisation technischer Prozesse. Sie ist vor allem eine Frage der Menschen, ihres Verantwortungsbewußtseins, ihrer Moral. Das aber betrifft den Wirkungsbereich der Kunst.“19

Die KünstlerInnen bekommen im Zuge der Bitterfelder Konferenz von 1959 den Auftrag, über eine lösungsorientierte Gestaltung zeitgenössischer Konflikte bewusstseinsbildend zu wirken und die erwünschte Motivation und Moral der ArbeiterInnen zu stärken.20 An dieser kulturpolitischen Forderung wird deutlich, dass die Erwartung der 50er Jahre, die neuen Produktionsverhältnisse würden zwangsläufig auch entsprechende (arbeits-)moralische Werte hervorbringen, bereits ernüchtert ist. Diese Ernüchterung führt in der Parteipolitik, aber auch bei vielen KünstlerInnen zu einem Umdenken. Das „richtige“ moralische Verhalten wird in den 60er Jahren nicht mehr als Resultat einer folgerichtigen Selbsterkenntnis aufgrund veränderter Strukturen, sondern als Ergebnis eines politischen Erziehungsprozesses gefasst.21

Rückblickend erscheint die Zeit von 1960 bis 1965 als eine „Ankunft im Alltag“22 – die revolutionäre „Verheißungsperspektive“ weicht zunehmend einer „Alltagsperspektive“.23 Der

18 Frederick Winslow Taylor ging davon aus, dass die ArbeiterInnen bewusst verlangsamt arbeiten, damit der Arbeitgeber nicht erkennt, welche Zeit tatsächlich für eine Arbeit nötig ist. Diesem „Betrug“ der ArbeiterInnen galt es in der fordistischen Fabrik mit den Mitteln der Kontrolle und der Arbeitsteilung entgegenzusteuern. Vgl.: RUF, ANJA: Frauenarbeit und Fordismus-Theorie. Frankfurt/Main 1990. In der DDR ist das heroische Bild des sozialistischen Arbeiters bzw. der sozialistischen Arbeiterin Ausgangspunkt einer psychologischen Arbeits- und Betriebsphilosophie, in der die ArbeiterInnen sich mit ihrem Arbeitsplatz identifizieren sollen und ihre Motivation als wichtige Ressource im Produktionsprozess gefasst wird. Dieser Ansatz ähnelt in einigen Zügen einer heutigen postfordistischen Unternehmensphilosophie bzw. Angestelltenkultur. Vgl.: SIEMONS, MARK: Jenseits des Aktenkoffers. Vom Wesen des neuen Angestellten. München 1997.

19 JOHN, HANS-RAINER: Im Gespräch über neue Theaterstücke. IN: Theater der Zeit 7/1962, S. 3.

20 Auf der Konferenz wird von einer Planbarkeit der Bildung des Menschen durch die Kunst gesprochen. „Wir werden also auf unserer Konferenz einige Fragen unserer Literatur und unseres literarischen Lebens auf eine ähnliche Weise behandeln müssen, wie es unsere Wirtschaftsplaner in ihrem Aufgabengebiet tun...“ KURELLA, ALFRED: Vom neuen Lebensstil. Referat vor Schriftstellern, Brigaden der sozialistischen Arbeit und Kulturschaffenden in Bitterfeld am 24. April 1959. IN: Zur sozialistischen Kulturrevolution. Dokumente. Band II.

1957-1959. Berlin 1960, S. 478. Der Traum vom Künstler als „Ingenieur der Seele“, von Stalin formuliert und auf dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 in Moskau in eine Theorie des Sozialistischen Realismus überführt, wird auf der Bitterfelder Konferenz in einen konkreten Gesellschaftsplan eingebunden. Siehe:

SCHMITT, HANS-JÜRGEN; SCHRAMM, GODEHARD: Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. Frankfurt/Main 1974.

21 Vgl.: ZIMMERMANN (1985), S. 220f.

22 Der Begriff „Ankunft im Alltag“ wurde dem gleichnamigen Roman von Brigitte Reimann entlehnt, der 1961 erschien. EMMERICH (1989), S. 127f.

23 „Er [der Versuch der Bitterfelder Konferenz] förderte in den sechziger Jahren in Teilen der DDR-Literatur einen Perspektivwechsel vom Wir zum Ich, von der großen revolutionären Verheißungsperspektive zur kleineren

Auftrag an die KünstlerInnen, sich in die Betriebe und landwirtschaftlichen Genossenschaften zu begeben, um den Alltag des „sozialistischen Arbeiters“ in ihren Werken gestaltend aufgreifen zu können, führt bei einigen Autor-Innen, die diesem Auftrag nachgehen, zu einer sicher nicht geplanten Enttäuschung.24

Der Wechsel in die Alltagsperspektive kann über die Inszenierung von Heiligenfiguren vorerst noch optimistisch ausgestaltet werden. Statt eines vorbildlichen, aber statischen Helden-Seins wird eine Entwicklung zum Helden vorgeführt. Über dieses Läuterungsprinzip gelingen in den Texten bis Ende der 60er Jahre trotz formulierter Zweifel noch Happy-Ends.

Die sozialistische Moral erscheint in diesen Konstruktionen, aber auch in den von Walter Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED verkündeten „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ wie eine performative Wiederholung des christlichen Wertekanons. Die Moralgesetze orientieren sich formal und inhaltlich am Wortlaut der zehn christlichen Gebote, spitzen diese aber arbeitsmoralisch zu. 1963 werden sie in das Parteistatut aufgenommen. Im Mittelpunkt steht nicht der Mensch, sondern der/die Werktätige. Die Punkte vier bis sieben der Gebote lauten:

„4: ‚Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.‘ / 5: ‚Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv und seine Kritik beherzigen.‘ / 6: ‚Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.‘ / 7: ‚Du sollst stets nach Verbesserungen Deiner Leistungen

„4: ‚Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.‘ / 5: ‚Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv und seine Kritik beherzigen.‘ / 6: ‚Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.‘ / 7: ‚Du sollst stets nach Verbesserungen Deiner Leistungen