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Marius Victorinus

Im Dokument „Muße“ und Theoria (Seite 175-200)

Obgleich in neuerer Zeit wesentliche Beiträge zur Untersuchung des Marius Vic-torinus geleistet wurden (besonders auch von Pierre Hadot1), kommen wir nicht umhin, in ihm – aufgrund der offenen Fragen – einen überhaupt noch einigermaßen unzureichend erforschten Denker zu sehen. Möchte man allerdings die erste volle Blüte der westlichen Theologie, wie sie uns in Augustinus begegnen wird, verstehen, braucht es zuvor eine Betrachtung des zwischen dem pagan-griechischen Neuplato-nismus und der christlich-lateinischen Theologie vermittelnden Denkers, der – ge-rade in der Rolle des Mittlers –2 als „Schöpfer[…] der lateinischen Philosophenspra-

1 Von ihm stammt auch, in Zusammenarbeit mit Paul Henry, die maßgebliche Textedition (Marii Victorini opera, Bd. 1: Opera theologica, ed. Paul Henry/Pierre Hadot, (Reihe: Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum; Bd. 83,1), Wien 1971). Die weiteren Studien werden an den entsprechen-den Stellen angeführt.

2 Zur Bedeutung des Marius Victorinus, vgl. beispielsweise Reinhold Schmid, Marius Victorinus Rhetor und seine Beziehungen zu Augustin, (= Dissertationsschrift, Kiel, um 1895), der noch nach-drücklich empfahl, „die Hypothese von einem entscheidenden Einfluss des Victorinus auf Augustin fallen zu lassen“, und zwar auch, weil Victorinus „mehr Neuplatoniker [war] als sich mit der Or-thodoxie eigentlich vertrug“ (S. 80). Diese Feststellung ist zunächst vor dem zeithistorischen und theologischen Hintergrund der Arbeit verständlich. Es bleibt heute schwer nachvollziehbar, wie in der Analyse der Zeit des Wirkens des Victorinus, die doch gerade erst eine Zeit des Ringens um die rechte Lehre war, in der sich alle Beteiligten um die Bestimmung dessen, was denn überhaupt als rechtgläubig zu gelten habe, bemühten, sinnvoll von einem starren Orthodoxie-Begriff Gebrauch gemacht werden kann. Allenfalls könnte einschränkend von einer ersten „nizänischen Orthodoxie“

gesprochen werden, wie etwa in Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 1: Ursprünge, aus dem Englischen übers. v. Clemens Maaß, Freiburg/Basel/Wien 1994, 288. Dennoch finden sich auch später noch, sogar bei Pierre Hadot, Urteile, die einen eher geringen Einfluss des Marius Victorinus auf Augustinus proklamieren. Vgl. etwa Franz Courth, Trinität. In der Schrift und Patristik, = Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Faszikel 1a, Basel/Wien 1988, 166 f. Kritische Urteile zu Victorinus’ theo-logischer Konzeption insgesamt sammelt Courth exemplarisch auf S. 158, Anm. 179. Ein besonders kritisches (und unzutreffendes) Urteil fällte Alfred Stuiber, „Marius Victorinus“, in: Lexikon für Theo-logie und Kirche, Bd. 7, 2. Aufl., Freiburg 1962, 90. Dort heißt es knapp: Marius Victorinus „bleibt auch als theologischer Schriftsteller neuplatonischer Philosoph, der in sehr abstrakten Darlegungen die aristotelische Logik und die neuplatonische Metaphysik der christlichen Trinitätslehre dienstbar machen möchte. Seine Theologie hat weder bei Zeitgenossen noch bei der Nachwelt sonderliche Be-achtung gefunden; auch der Einfluss auf Augustinus war […] unbedeutend.“ Zu einem nunmehr wesentlich differenzierteren und weitsichtigeren Urteil kommt Christoph Markschies, „Marius, II 21“, in: Der neue Pauly, Bd. 7, hg. v. Hubert Cancik/Helmuth Schneider, Stuttgart/Weimar 1999, 910–912, 912: „Wahrscheinlich hat Marius Victorinus durch seinen Freund Simplicianus indirekt eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines Mailänder Kreises von christlichen Neuplatonikern gespielt, dem wiederum Ambrosius und Augustinus wichtige Anregungen verdanken.“ Zuvor bemerkte noch Goulven Madec in Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. v.

Reinhart Herzog, (Reihe: Handbuch der Altertumswissenschaft, Bd. 8,5; = Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5), München 1989, 355, vorsichtig: „Man weiß […] nicht, ob Augustin die theologischen Abhandlungen des Victorinus gekannt hat. Wenn ja, muss man einräumen, dass er sie wohlweislich außer acht ließ, indem er das trinitarische Denken vom hypostatischen Niveau des göttlichen νοῦς auf die psychologische Ebene der menschlichen mens zurückbringen wollte.“ Einen

che“3 allzu lange nur unzureichend gewürdigt wurde: Marius Victorinus ist ein Autor des vierten Jahrhunderts, über den wir  – trotz des Ruhms, welchen er zu seinen Lebzeiten genoss, und des Rangs, den er erreichte – leider kaum etwas Datierbares wissen.4 Dabei kann er in vielerlei Weise noch für die gegenwärtige Theologie nutzbar gemacht werden – betrachtet man sich beispielsweise die von Papst Benedikt XVI.

abermals aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Platonis-mus. Schon Steinmann wies auf das enorme integrative Potential des Victorinus im Gefüge von neuplatonischer Philosophie und christlicher Theologie hin.5 Gerade in den letzten Jahren gab es einen erfreulichen Aufschwung in der Victorinus-Forschung, der stark von den Studien einzelner gekennzeichnet ist. Nachdem Hadot mit seinen monumentalen Studien Porphyre et Victorinus und Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses œuvres die Victorinus-Forschung für unsere Zeit erst richtig ins Leben gerufen hatte und er gemeinsam mit Brenke schon 1967 eine Übersetzung der theo-logischen Schriften vorgelegt hatte, widmete man sich in den letzten Jahren stärker auch den Paulus-Brief-Kommentaren des Victorinus, welche die Hinwendung zur Paulus-Exegese im vierten Jahrhundert dokumentieren.6 In jüngster Zeit sind nun außerdem noch die vor der Konversion verfassten Commenta kritisch ediert und kommentiert wurden.7

knappen Überblick über das Verhältnis von Marius Victorinus und Augustinus bietet bspw. Nello Cipriani, “Marius Victorinus”, in: Augustine through the Ages. An encyclopedia, 533–535.

3 Anton Ziegenaus, Die Trinitarische Ausprägung der göttlichen Seinsfülle nach Marius Victorinus, (Reihe: Münchener theologische Studien, Bd. 2,41; = Dissertationsschrift, Universität München, 1972), München 1972, 339 f.

4 Zu den Datierungen und den Erwähnungen in den Werken des Augustinus, des Hieronymus etc., siehe Thomas Riesenweber, C. Marius Victorinus. ‚Commenta in Ciceronis Rhetorica‘, Bd. 1:

Prolegomena, (Reihe: Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; Bd. 120), Berlin/Boston 2015, 1–10. Weitere Literatur zu Leben und Werk, welche mit der Forschung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr in den Fokus gerückt sind, ebd., 2 (Anm. 2). Außerdem der Überblick in Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. v. Reinhart Herzog, 342–355. Siehe auch Frederick Fyvie Bruce, “Marius Victorinus and His Works”, in: The Evangelical Quarterly 18 (1946), 132–153, 133: “We can fix with practical certainty three dates in his life”. Marksteine in der Erforschung des Lebens und Werkes des Marius Victorinus setzte vor allem Pierre Hadot, Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses œuvres, Paris 1971. Zum Leben und zur Zeit, siehe u. a.

Stephen Andrew Cooper, Marius Victorinus’ Commentary on Galatians. Introduction, Translation, and Notes, Oxford/New York 2005, 17–40.

5 Vgl. Werner Steinmann, Die Seelenmetaphysik des Marius Victorinus, (Reihe: Hamburger theo-logische Studien; Bd. 2), Hamburg 1990, 2.

6 Siehe hierzu vor allem die Arbeiten von Stephen Andrew Cooper (Marius Victorinus’ Com-mentary on Galatians. Introduction, Translation, and Notes, Oxford/New York 2005; Metaphysics and Morals in Marius Victorinus’ Commentary on the Letter to the Ephesians. A Contribution to the History of Neoplatonism and Christianity, (Reihe: American University Studies, Bd. V,155; = Ph.D., University of Columbia (New York), 1991), New York/Washington, D. C. (Baltimore)/San Francisco 1995).

7 Hier hat sich Thomas Riesenweber mit einer umfangreichen Forschung ausgezeichnet. Neben dem bereits genannten Prolegomena-Band zu Victorinus’ Commenta in Ciceronis Rhetorica, vgl. auch Thomas Riesenweber, C. Marius Victorinus. ‚Commenta in Ciceronis Rhetorica‘, Bd. 2: Kritischer Kom-mentar und Indices, (Reihe: Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; Bd. 120,2), Berlin/

Boston 2015, sowie die entsprechende Edition C. Marius Victorinus. Commenta in Ciceronis Rhetorica, accedit incerti auctoris tractatus de attributis personae et negotio, recensuit Thomas Riesenweber, (Reihe: Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana; Bd. 2012), Berlin/Boston 2013.

Otium und negotium

Wenigstens einmal in seinem Leben sah Marius Victorinus sich selbst in einer be-stimmten Form zur Muße8 gezwungen. Nachdem er sich nämlich wahrscheinlich um 355/356 n.  Chr. taufen ließ, traf den einst weithin berühmten Rhetoriker das von Kaiser Julian am 17. Juni 3629 erlassene Verbot der Ausübung der Lehrtätigkeit durch christliche Lehrer. Augustinus berichtet später beeindruckt, dass Victorinus

„sich lieber von der Wortmacherei der Schulen als von Deinem [d. i. Gottes] Worte trennen“10 wollte. Genauerhin wähnt Augustinus den Victorinus darum im Glück, da er mit seiner Entscheidung nunmehr die Gelegheit habe, ganz für Gott frei zu sein – „quia inuenit occasionem vacandi tibi“11. Inwiefern diese unfreiwillige Freiheit von der Arbeit als Rhetoriklehrer von Victorinus selbst tatsächlich als ein otium erlebt wurde, muss allein Spekulation bleiben. Es wäre hier zu fragen, wie und womit er die ihm so zugekommene Zeit zubrachte. Indizien dafür lassen sich allenfalls im Schrift-werk des Victorinus finden. Es ist im Folgenden außerdem zu bedenken, dass die Bewertung des Victorinus nicht auf der gleichen Ebene erfolgen kann, wie jene der in der vorliegenden Studie behandelten originär philosophischen Denker, nämlich Aristoteles, Plotin, Porphyrios und Iamblich. Victorinus ist zuallererst als Lehrer der

„Rhetorik, nicht aber der Philosophie im eigentlichen Sinn“ zu bewerten, schwebt ihm doch „der philosophisch gebildete Redner nach dem Vorbilde Ciceros vor“12. Leider bietet das erhaltene Werk des Victorinus uns keine ausreichende Textgrund-lage für ein Urteil darüber, inwiefern er selbst sich am ciceronischen otium-Modell13 orientiert oder sich mit diesem auseinandergesetzt hat.

Grundsätzlich ist zu beachten, dass im teils dunklen,14 zudem wenig erhaltenen und leider dadurch noch schwerer erschließbaren Werk des Marius Victorinus zwei

8 Vgl. Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 4, der allerdings von einem „Genuss“ des otium durch Marius Victorinus spricht.

9 Das Rhetorenedikt, welches sich übrigens mit keinem Wort explizit gegen Christen richtete, ist uns wenigstens teilweise im Codex Theodosianus 13,3,5 erhalten. Zur Konsequenz für Victorinus, siehe Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 3 f.

10 Augustinus Confessiones 8,5,10.

11 Die Wiedergabe nach Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 4. Victorinus ist damit Teil jener militia philosophischer Denker aus der Schule Plotins, die Augustinus Epistula 118,5 erwähnt: „tunc plotini schola romae floruit habuit que condiscipulos multos acutissimos et sollertissimos uiros. sed aliqui eorum magicarum artium curiositate deprauati sunt, aliqui domi-num iesum christum ipsius ueritatis atque sapientiae incommutabilis, quam conabantur adtingere, cognoscentes gestare personam in eius militiam transierunt.“

12 So Goulven Madec in Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. v. Reinhart Herzog, 341, mit Bezug auf Hadot, Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses œuvres, 79.

13 Dieses klassische Modell, das sich zuvorderst als „otium cum dignitate“ (bspw. De oratore 1,1) nach verdienstvoller Amtsführung (negotium) begreifen lässt, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht entsprechend gewürdigt werden, ist aber Teil einer anderen innerhalb des Sonderforschungsbereiches entstandenen, philologischen Untersuchung.

14 Schon Hieronymus De viris illustribus 101 (= PL 23 701A) bemerkt: „Victorinus, natione Afer, Romae sub Constantio principe rhetoricam docuit, et in extrema senectute, Christi se tradens fidei, scripsit adversus Arium libros more dialectico valde obscuros, qui nisi ab eruditis non intelliguntur,

Perioden unterschieden werden müssen. Mit der Konversion zum Christentum wen-det sich Victorinus auch in seinem Schrifttum von den klassischen paganen Themen – nicht aber von der Philosophie –15 ab und den christlichen Themenkomplexen seiner Zeit, in welcher um die grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Gott-Vater und Jesus Christus bzw. der Bestimmung von Wesen und Funktion Jesu Christi heftig gestritten wird, zu.16 Als bedeutende Vorlage für Victorinus’ Trinitätsausführungen nach der Konversion ist nicht so sehr Plotins „subordinierende Henozentrik“ aus-zumachen als vielmehr die porphyrianische Identifikation von Einem und Sein,17 welche wir oben ansprachen: „Gott umfasst die Momente des in sich ruhenden Eins-Seins, der hervorgehenden Bewegung und der erkennenden Rückkehr zu sich“18.

Gerade vor dem Hintergrund, dass Victorinus überhaupt vor allem als Vermittler des griechisch-neuplatonischen Denkens in die frühe christliche Theologie Bedeutung hat, bedarf es eines wachen Blickes für die Übernahme, die Verwendung und Adap-tion der Terminologie, denn mit ihm werden auch tradiAdap-tionsmächtige Begriffe in die lateinische Sprache eingebracht.19

Im Schrifttum des Victorinus insgesamt finden sich nun übrigens keine einschlä-gigen Belege des otium-Begriffes, otium selbst kommt insgesamt nur einmal vor,20 et Commentarios in Apostolum.“ Dieser Einschätzung folgen eine Vielzahl an modernen Autoren (Weitere Belege für diese Einschätzung finden sich in Matthias Baltes, Marius Victorinus. Zur Phi-losophie in seinen theologischen Schriften, (Reihe: Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 174), München/

Leipzig 2002, 1, Anm. 3).

15 Das betont auch Goulven Madec in Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. v. Reinhart Herzog, 342. Wie schon Hadot, Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses œuvres, 253, bezeichnet Madec Victorinus sogar als „erste[n] Metaphysiker in der Geschichte der lateinischen Literatur“, weil dieser das porphyrianische Denken für die christliche Theologie fruchtbar gemacht habe.

16 Zur Zuordnung der Werke, vgl. Bruce, “Marius Victorinus and His Works”, 138 f.

17 Vgl. dazu u. a. Werner Erdt, Marius Victorinus Afer, der erste lateinische Pauluskommentator.

Studien zu seinen Pauluskommentaren im Zusammenhang der Wiederentdeckung des Paulus in der abendländischen Theologie des 4. Jahrhunderts, (Reihe: Europäische Hochschulschriften, Bd. 23,135;

= Dissertationsschrift, Universität Hamburg, 1979), Frankfurt am Main/Bern/Cirencester (UK) 1980, 24. Zur Bedeutung von Plotin und Porphyrios für Marius Victorinus, siehe – neben den bereits benannten Werken von Pierre Hadot und Paul Henry – vor allem Mary T. Clark, “A Neoplatonic Commentary on the Christian Trinity. Marius Victorinus”, in: Neoplatonism and Christian Thought, includes Papers delivered at the Conference on ‘Neoplatonism and Christian Thought’, held October 1978 at Catholic University of America, Washington, D. C., ed. by Dominic J. O’Meara, (Reihe: Studies in Neoplatonism; Bd. 3), Albany (New York) 1982, 24–33; ebenso Mary T. Clark, “The Neoplatonism of Marius Victorinus the Christian”, in: Neoplatonism and Early Christian Thought. Essays in Honour of Arthur H. Armstrong, ed. by Henry Jacob Blumenthal/Robert Austin Markus, (Reihe: Variorum Publication; Bd. 2), London 1981, 153–159.

18 Anton Ziegenaus, „Marius Victorinus“, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. v.

Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings, 3., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2002, 487–488, 488.

19 Vgl. Ziegenaus, „Marius Victorinus“, 488.

20 Vgl. Marius Victorinus Ars grammatica 4,43 (= Marii Victorini Ars grammatica, introduzione, testo critico e commento, ed. Italo Mariotti, (Reihe: Serie dei classici greci e latini; Bd. 6), Florenz 1967, 78,2): „nec enim mihi superest otium, qui possim singula exsequi, nec sufficit memoria, cum vix haec quae scribo implere possim.“ Einen ersten Überblick über die Vorkommen, die Häufigkeit der Wortformen und die Verteilung im Werk bietet der Thesaurus Marii Victorini. Series A – Formae.

Enumeratio formarum, index formarum a tergo ordinatarum, index formarum graecarum, index

daneben gibt es eine adverbiale sowie eine adjektivische Form.21 Dafür lassen sich allerdings etwa 300 Belegstellen für negotium und verwandte Formen ausmachen.22 Sämtliche Vorkommen sind allerdings ante conversionem, was wohl als ein veritabler Beleg für das sich wandelnde Interesse des Victorinus infolge der Taufe gelten kann, da negotium dort ausschließlich in einem für den klassisch-paganen Rhetor relevanten Sinn gebraucht wird. Bis auf eine Erwähnung in der Ars grammatica häufen sich alle genannten Formen in Victorinus’ Kommentar zu Ciceros fragmentarischer Jugendschrift De inventione. Cicero hatte diese Schrift selbst wieder verworfen und entwickelte sein Rhetorik-Konzept in De oratore schließlich neu, was allerdings der Bedeutung von De inventione für die Nachwelt keinen Abbruch tat, da das Werk nichtsdestotrotz gern und breit bis in das Mittelalter hinein als Richtschnur für die Rhetorik verwendet wurde.23 Victorinus’ Kommentar dazu wiederum hat sich in der Überlieferung unter verschiedenen Titeln erhalten.24 Nach den einschlägigen und gründlichen Forschungen von Thomas Riesenweber werde ich es hier mit Commenta in Ciceronis Rhetorica benennen. In den bisherigen kritischen Editionen25 wurde es mit Explanationes in Ciceronis Rhetoricam überschrieben. Es wurde, wie Karl Halm und die darauf aufbauenden Editionen in den Handschriften feststellen, von einem anonymen Traktat zu „adtributis personae et negotio“26 begleitet. In diesem wird – in der Tradition Ciceros – das negotium bestimmt und es zeigt sich deutlich der juri-dische Gebrauch des Begriffes:

„Negotium factum ipsum est, unde iudicium est.“27

Übrigens bemerkt Riesenweber nach eingehender Diskussion der Handschriften und trotz der Unkenntnis über den Verfasser des angehangenen Traktates28 in Hinsicht formarum singulorum operum, index formarum secundum orthographiae normam collatarum, tabula frequentiarum, concordantia formarum curante CETEDOC, (Reihe: Corpus Christianorum.

Thesaurus patrum Latinorum), Turnhout 1993. Allerdings ist der unsichere Textbestand hier zu berücksichtigen.

21 Vgl. (1) Marius Victorinus Explanationes in Ciceronis Rhetoricam 1,3 (= LLA 564.6) sowie (2) In epistolam Pauli ad Ephesios 1,11 (= CSEL 83,2 / 18,17). Der Titel Explanationes in Ciceronis Rhetoricam ist im Weiteren – gemäß der Studie von Riesenweber – mit Commenta in Ciceronis Rhetorica wieder-gegeben.

22 Thesaurus Marii Victorini. Series A, 68.

23 Zu De inventione bei Marius Victorinus, vgl. Hadot, Marius Victorinus. Recherches sur sa vie et ses œuvres, 76 f.

24 Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 13–17.

25 Vgl. ebd., sowie Marii Victorini Explanationes in Ciceronis rhetoricam, cura et studio Antonella Ippolito, (Reihe: Corpus Christianorum. Series Latina; Bd. 132), Turnhout 2006. Riesenweber, Com-menta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, VII empfiehlt – aufgrund der „erschütternde[n]

Fehlerquote“ und Unzuverlässigkeit der Ippolito-Ausgabe  – nachdrücklich den Textgebrauch der Halm-Ausgabe. Schlussendlich wurde das Werk von Riesenweber auf Grundlage des Halm-Textes neu ediert.

26 Vgl. Rhetores Latini minores. Ex codicibus maximam partem primum adhibitis, emendabat Carolus Halm, Leipzig 1863, 153–304, und sodann 305–310. Dazu der Text in Marius Victorinus

‚Commenta in Ciceronis Rhetorica‘, ed. Riesenweber, sowie die Einführung in Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 454–456.

27 Marius Victorinus ‚Commenta in Ciceronis Rhetorica‘, ed. Riesenweber, 216 (bei Halm S. 307).

28 Vgl. dazu Riesenweber, Commenta in Ciceronis Rhetorica, Bd. 1: Prolegomena, 454–456.

auf die Commenta in Ciceronis Rhetorica: „Wie auch immer: man sollte keinesfalls an der Zuschreibung der ‚Commenta‘ an den Rhetor C. Marius Victorinus zweifeln. Wir können im Kritischen Kommentar oft sprachliche Parallelen aus anderen Schriften des Victorinus anführen, die die Identität des Verfassers untermauern.“29 Die Titel-einfügung Explanationes gründet auf einigen Handschriften, der Titel insgesamt ist nicht eindeutig aus den Handschriften zu entnehmen.30 In der Schrift selbst erhält der Terminus negotium ein solches Gewicht, dass er bereits im weiteren Titel einiger Handschriften Verwendung findet. Da die Schrift für sich wie bereits bemerkt ein Kommentar zur Ciceros De inventione darstellt, liegt es nahe, dass die spezifische Bedeutung des Begriffs auch aus diesem Werk abgeleitet werden kann. Das negotium ist für Cicero31 dort der „spezifische[…] Fall, den die Richter beurteilen sollen“32 und also allgemein die zu verhandelnde Angelegenheit. Diese Bestimmung erhärtet die Definition der oben zitierten Bestimmung aus dem anonymen Traktatanhang. Da sich also diese Bestimmung mit dem negotium-Begriff der Commenta deckt, erweist sich die ganze Masse der in den Commenta verwendeten negotium-Belege als für die vorliegende Untersuchung ganz und gar irrelevant und wir können sehen, dass sich aufgrund des sehr spezifischen Gebrauchs des Wortes und der Beschäftigung der Commenta in Ciceronis Rhetorica mit eben jenem einschlägigen Werk Ciceros keine für unsere Untersuchung von otium relevante Redeform oder Ableitung ergibt. Damit bleibt festzuhalten, dass es in dem uns erhaltenen Textmaterial weder signifikante Belege für eine einschlägige Rede von negotium noch für otium gibt. Doch wie steht es dann um die θεωρία?

Die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes

Lässt sich das griechische Konzept der θεωρία im lateinischen Werk des Marius Victorinus finden? Es gibt wenigstens eine Stelle, die sich mit einer Erwähnung der latinisierten Adverbformen „theoretice“ bzw. „practice“ einer Unterscheidung von Theorie und Praxis widmet. Es ist allerdings zunächst zu bedenken, dass diese Nennung in den Commenta in Ciceronis rhetorica zu finden ist und diese Schrift, wie wir sahen, vor der Konversion des Victorinus zum Christentum entstanden ist – eventuell, wie Riesenweber vermutet, im Kontext von Victorinus’ Tätigkeit als

29 Ebd., 16.

30 Vgl. ebd., 17.

31 Zum Gebrauch des Terminus negotium bei Cicero, vgl. Hugo Merguet, Lexikon zu den phi-losophischen Schriften Ciceros, Bd. 2, Hildesheim 1961 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Jena 1892), 689 f.

32 Lucia Calboli Montefusco, „Die ‚adtributa personis‘ und die ‚adtributa negotiis‘ als ‚loci‘ der Argumentation“, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, (Reihe: Rhetorik-Forschungen; Bd. 13), Tübingen 2000, 37–50, 47. Dort wird außerdem das Verhältnis von negotium und res herausgestellt: „Die Sachlichkeit des negotium im Vergleich zum philosophischen Wert von res“ sei hervorgehoben worden; „Cicero selbst aber ist nicht konsequent, und in De inventione finden wir oft, dass er res und negotium abwechselnd benutzt“ (S. 47, Anm. 30).

Rhetoriklehrer.33 Sie darf hier Aufnahme finden, da sich mit der Konversion und der Taufe im Denken des Marius Victorinus kein radikaler Bruch in Hinsicht auf das ihn leitende Denkmodell – wohl aber in Hinsicht auf die Themen, denen er sich widmet –

Rhetoriklehrer.33 Sie darf hier Aufnahme finden, da sich mit der Konversion und der Taufe im Denken des Marius Victorinus kein radikaler Bruch in Hinsicht auf das ihn leitende Denkmodell – wohl aber in Hinsicht auf die Themen, denen er sich widmet –

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