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Griechisch-antike Grundlagen

Im Dokument „Muße“ und Theoria (Seite 34-39)

A. Vorgeschichte: σχολή und θεωρία im Überblick

„Wir sind ein einziges Mal geboren. Zweimal geboren zu werden ist nicht möglich. Die ganze Ewigkeit werden wir nicht mehr sein. Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und verschiebst immerzu das Erfreuende. Das Leben geht mit Aufschieben dahin und jeder von uns stirbt, ohne Muße gefunden zu haben.“1

Besieht man sich die Traditionen der Beschäftigung mit der θεωρία genauer, wird man schnell erkennen, dass die Zeit der Spätantike2 in diesen Traditionen eine zen-trale Stellung einnimmt. Die Erörterung der θεωρία, das Nachdenken über ihre Bedeutung für den Menschen und darüber hinaus über ihren Ort im ganzen Gefüge des Kosmos wird in dieser Zeit vor allem von Plotin in einer geistigen Erhabenheit geführt, wie sie in der weiteren Tradition der Philosophie sonst wohl kaum zu finden ist. Ohne Zweifel hat diese geistesgeschichtliche Station allerdings ihre Wegbereiter in der vorausgehenden griechischen Philosophie – vor allem der Akademie und des Peripatos, doch auch darüber hinaus. Um diese Voraussetzungen nun wenigstens grundlegend zu würdigen, ist es notwendig, die Vorgeschichte zu Plotins spätantiker θεωρία-Konzeption exemplarisch-selektiv anzuschauen. Dies gilt ebenso für die σχολή, die zwar terminologisch im Werk des Plotin nicht in der gleichen dominanten Weise Erwähnung findet wie die θεωρία, die aber dennoch auf einem wirkmächtigen Erbe aufbaut. Um eine angemessene Auseinandersetzung mit den für diese Arbeit zentralen Konzepten der θεωρία und σχολή zu gewährleisten, ist es daher notwendig, die Autoren, die für die hier zu behandelnden Denker in besonderer Weise fun-damental waren, wenigstens kursorisch zu betrachten. Dabei muss es darum gehen, zu eruieren, welche entscheidenden Verknüpfungen und Aufladungen die Begriffe vor der hier im Anschluss näher zu behandelnden Zeit erfuhren. Dies ist umso mehr von Bedeutung, je mehr es später darum gehen wird, offenzulegen, an welche Konzepte und Traditionen sich die von uns behandelten Denker anlehnen und welche Adap-tionen und Neuerungen sie sodann vornehmen.

1 Epikur Gnomologium Vaticanum Epicureum (Sententiae Vaticanae) 14 (= Graziano Arrighetti:

Epicuro. Opere, (Reihe: Biblioteca di cultura filosofica; Bd. 41), nuova edizione riveduta e ampliata, Tu-rin 1973, 141–157): „Γεγόναμεν ἅπαξ, δὶς δὲ οὐκ ἔστι γενέσθαι· δεῖ δὲ τὸν αἰῶνα μηκέτι εἶναι· σὺ δὲ οὐκ ὢν τῆς αὔριον κύριος ἀναβάλλῃ τὸ χαῖρον· ὁ δὲ βίος μελλησμῷ παραπόλλυται καὶ εἷς ἕκαστος ἡμῶν ἀσχολούμενος ἀποθνῄσκει.“ Die Übersetzung orientiert sich an jener von Hans-Wolfgang Krautz in Epikur. Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch – Deutsch, übers. u. hg. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 1980, 83.

2 Zur geschichtswissenschaftlichen Abgrenzung, zur Geschichte und Entwicklung der Spätantike, vgl. Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian, 284–565 n. Chr., (Reihe: Handbuch der Altertumswissenschaft; Abt. 3, Teil 6), 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl., München 2007.

Ihren Anfang hat die konkretere philosophische Bedeutung des Begriffs θεωρία – folgt man dem Narrativ, das uns durch Cicero3 und Diogenes Laertios4 tradiert wird5 – bereits bei Pythagoras. Dieser nämlich habe das Leben mit einer (religiösen) Festversammlung verglichen,6 zu der die Menschen mit mannigfachen Absichten zu-sammenkommen. Während aber einige des Beifalls, der Ehre und des Ruhms wegen kämen und einige des Gewinnes wegen, sei das Schauen, das Betrachten und Be-greifen das ureigene Interesse nur weniger – doch gemäß des pythagoreischen Urteils sind gerade dies die Besten. Bei Herakleides Pontikos heißt es, Pythagoras

„soll, gefragt nach dem Wesen der Philosophie, die Antwort gegeben haben, dass der Mensch durch die Geburt in die Welt wie in ein Fest kommt […] und der Philosoph derjenige ist, der in der Theoria den Sinn dieses Festes begreift […]. Im Feiern des göttlichen Festes liegt der Sinn seines freien Erkennens.“7

Dem Philosophen wird sodann die ganze Wirklichkeit zum göttlichen Fest, zu dessen Schau und Begreifen er geladen ist und die er zu durchdringen sich aufschwingt. Im Weiteren wird auch durch Anaxagoras, laut Aristoteles, die θεωρία als wesentlicher Sinn menschlicher Existenz hervorgehoben. Demnach sei der Mensch nur deshalb besser geboren als nicht geboren, „um zu betrachten den Himmel und die ganze Weltordnung“8. Anaxagoras habe sodann auch den Erkenntnisapparat der θεωρία, den νοῦς, bereits als ‚Gott in uns‘ begriffen  – eine Einsicht, die schon Aristoteles unmittelbar aufgreifen wird.9 Der Wahrheitsgehalt dieser Traditionen ist kaum fest-zustellen, doch ist dieser auch nicht entscheidend. Allein die Betrachtung dessen, was uns mit diesen Erzählungen gesagt sein will, was sie uns auch heute noch sagen kön-nen, macht sie sinn- und wertvoll für den Leser. Sie können mithin als ein Narrativ wahr-genommen werden und uns über die fundamentale Bedeutung der θεωρία für

3 Cicero Tusculanae disputationes 5,3,8–9.

4 Diogenes Laertios 8,8.

5 Vgl. dazu Walter Mesch, „theôrein/theôria“, in: Wörterbuch der antiken Philosophie, hg. v.

Christoph Horn/Christof Rapp, München 2002, 436–437, 436. Auch Rausch, Theoria, 70–96, hier 71.

6 Eine Entsprechung dazu finden wir bei Aristoteles, welcher im Protreptikos die Tätigkeit des Forschers als reine Wissenschaft mit dem Schauen der θεωροί zu Olympia vergleicht. Daraus lässt sich schließen, dass diese sprachbildliche Übertragung zum βίος θεωρητικός wohl in der Akademie schon klassisch war. Vgl. Rausch, Theoria, 72; auch Werner Jaeger, „Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals“, in: Scripta minora, Bd. 2, (Reihe: Storia e letteratura; Bd. 81), Rom 1960, 355. Jaeger sieht es als erwiesen an, dass die Übertragung auf Pythagoras allein der hohen Wertschätzung der geradezu mythischen Figur zuzurechnen ist. Die Frage nach der Historizität der Erzählung führt aber gerade an dem, was sie uns sagen will, vorbei. Allein dass diese wahrscheinliche Zuschreibung als möglich gelten kann, darf uns ein Fingerzeig dafür sein, dass spätestens die Aka-demie und die folgende Tradition die Botschaft des Narrativs als wesentliche Botschaft der Philosophie von ihren Anfängen her begreift.

7 Cicero Tusculanae disputationes 5,3,8, hier in der Wiedergabe von Rausch, Theoria, 71 f.

8 Aristoteles EE 1216a 13; vgl. Mesch, „theôrein/theôria“, 436.

9 Vgl. dazu Ludger Jansen, „Vernünftiger Rede fähig. Das Menschenbild des Aristoteles“, in:

Philosophische Anthropologie in der Antike, hg. v. Ludger Jansen/Christoph Jedan, (Reihe: Topics in ancient philosophy. Themen der antiken Philosophie; Bd. 5), Frankfurt/Paris/Lancaster/New Bruns-wick 2010, 157–184, 178 (Anm. 104).

die Philosophie und die bis in die früheste Zeit des philosophischen Treibens zurück-reichende Rolle des Begriffs be-lehren.10

Es ist übrigens wichtig, dass wir in jener Zeit vor Aristoteles, ja selbst noch bei Platon, keine geschlossenen Konzeptionen von θεωρία (und auch σχολή) finden können. Einzelne Zuschreibungen, wie etwa jene an Sokrates, von dem Jahrhunderte später berichtet wird, dass er die σχολή für den herrlichsten Besitz gehalten habe,11 sind daher zunächst wenig aussagekräftig. Daher ist es auch durchaus problematisch, wenn die spätere plotinische Konzeption der θεωρία – wie etwa bei Becker12 – als ganz und gar die Tradition Platons aufgreifend dargestellt wird. Wir werden sogar innerhalb der aristotelischen Werke noch eine Entwicklung feststellen können, welche sodann das Unterfangen aktueller Interpreten problematisch erscheinen lässt. Wenn diese nämlich einen Begriff der σχολή anhand der Politik erarbeiten und sodann als einen allgemein aristotelischen Begriff darstellen, heißt dies keineswegs, dass sich dieser auch vor dem Hintergrund der Nikomachischen Ethik und noch mehr der Metaphysik als allgemeingültig erweisen wird. Es ist also sowohl in Hinsicht auf die θεωρία als auch die σχολή zunächst die Abwesenheit einer eindeutigen, konsistenten und entwickelten Konzeption bei den Antezessoren und den anderen Autoren der klassisch-antiken Epoche zu beachten. Eine Gefahr in der Interpretation ergibt sich übrigens auch aus der verallgemeinernden Ableitung von Philosophemen aus einzelnen Überlieferungen. So mag Epikur, der etwa zwischen 341 v. Chr. und 270 v. Chr. lebte, mit seinem zu Beginn des Kapitels bereits vorgestellten Zitat über das da-hingehende Leben, welches ein jeder schließlich mit dem Tod beende, ohne wirklich Muße gefunden zu haben, als Entdecker einer Philosophie des „erfüllten Jetzt“ gelten, der „vielleicht als erster der großen Philosophen“ das Glück im „erlebten Augen-blick“13 verortete. Er mag dies vielleicht umso mehr sein, als er den Bedürfnissen und Sehnsüchten der heute Lebenden im atemraubenden Unruhegefüge unserer Zeit eine unverhoffte Autorität und Stimme gibt. Allein, ein solches Urteil ist angesichts der fragmentarischen Überlieferung schwerlich zu fällen.

So möchten wir nun also vor allem jene beiden Autoren näher betrachten, deren umfangreiches Werk gerade für die neuplatonische Tradition eine erhebliche und nachweisliche Bedeutung haben wird.

10 Dieser Absatz gründet auf einem von mir schon an anderer Stelle publizierten Artikel, vgl.

Kirchner, „‚Alles strebt nach Theorie.‘ Bemerkungen zu Plotins Konzept der Theoria“.

11 Diogenes Laertios 2,31,2–4: „καὶ ἐπῄνει σχολὴν ὡς κάλλιστον κτημάτων, καθὰ καὶ Ξενοφῶν ἐν Συμποσίῳ φησίν.“ – „Die Muße lobte er sich als den herrlichsten Besitz, wie auch Xenophon im Symposion sagt.“ (Übersetzung nach Apelt). Vgl. Platon Symposion 4,44.

12 Vgl. Becker, Plotin und das Problem der geistigen Aneignung.

13 So Norbert Rath, „Philosophische Konzepte des Glücks“, in: Glück – aber worin liegt es? Zu einer kritischen Theorie des Wohlbefindens, hg. v. Philipp Mayring/Norbert Rath, (Reihe: Philosophie und Psychologie im Dialog; Bd. 13), Göttingen/Bristol 2013, 9–52, 23.

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