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Mario unter der Herrschaft der frechen Willkür

3 THOMAS MANN: MARIO UND DER ZAUBERER. EIN TRAGISCHES

3.3 R EFLEXIONEN DES F ASCHISMUS IN M ARIO UND DER Z AUBERER

3.3.3 Mario unter der Herrschaft der frechen Willkür

Sobald der Cipolla den Mario, einen jungen Kellner, auffordert, zu ihm auf die Bühne hinaufzusteigen, ahnen weder der Zauberer noch der Kellner, dass dieser Augenblick für beide weitreichende Folgen haben wird. Es ist gar nicht überraschend, dass der einfache Mario den Befehl des mächtigen Cipolla gehorsam befolgen muss.

Geschweige denn, wenn der Herr der Zauber ihm mit dem Zeigefinger zuwinkt – auf diese Art rufen ihn doch die Gäste:

55 Ebd. S. 106.

56 Ebd. S. 113.

57 Ebd. S. 119.

58 Ebd. S. 119.

„/…/ und war den Darbietungen, soviel wir gesehen hatten, aufmerksam, aber ohne viel Heiterkeit und Gott weiß mit wieviel Verständnis gefolgt. Zu guter Letzt noch zur Mittätigkeit angehalten zu werden, war ihm sichtlich nicht angenehm. Dennoch war es nur zu begreiflich, daß er dem Winken folgte. Das lag schon in seinem Beruf; und außerdem war es wohl eine seelische Unmöglichkeit, daß ein schlichter Bursche wie er dem Zeichen eines so im Erfolg thronenden Mannes, wie Cipolla es zu dieser Stunde war, hätte den Gehorsam verweigern sollen.“59

Cipolla bemüht sich zuerst darum, Mario einzureden, dass ihm dessen Misstrauen die Hypnose sehr erschwert. Mario kann sich so eine Zeitlang als starke Persönlichkeit fühlen. Unmittelbar darauf greift jedoch der Hypnotiseur Mario’s Gefühle an und überführt ihn der Liebeskummer. Angesichts dessen, dass Cipolla Recht hat, wird Mario aus der Fassung gebracht:

„»Man gewinnt zweifellos schwer dein Vertrauen. Selbst mir, ich sehe es wohl, gelingt das nicht leicht. Ich bemerke in deinem Gesicht einen Zug von Verschlossenheit, von Traurigkeit, un tratto di malinconia… Sage mir doch«, und er ergriff zuredend Mario’s Hand, »hast du Kummer?«“60

„»Du hast Kummer«, beharrte der Gaukler, diese Bestimmtheit autoritär überbietend. »Das sollte ich nicht sehen? Mach du dem Cipolla etwas weis! Selbstverständlich sind es die Mädchen, ein Mädchen ist es. Du hast Liebeskummer.«“61

Als Cipolla den Namen des Mädchens erfährt, in das sich Mario verliebt hat, himmelt er es vor ihm an, als ob er das Mädchen persönlich kennen würde. Er will hiermit Mario’s größte Leidenschaften auslösen:

„Die Silvestra aber, deine Silvestra, ja, sage einmal, das ist ein Mädchen, was?! Ein wahrer Schatz! Das Herz steht einem still, wenn man sie gehen, atmen, lachen sieht, so reizend ist sie.“62

Die wunderschönen Worte des Zauberers sind so überwältigend, dass sich Mario von ihnen hinreißen lässt. Er gerät in so eine Aufregung, dass er „scheint seine Lage und das Publikum vergessen zu haben.“ 63:

„/…/ denn das war eine Preisgabe des Innigsten, die öffentliche Ausstellung verzagter und wahnhaft beseligter Leidenschaft. Er hielt die Hände vorm Munde gefaltet, seine Schultern hoben und senkten sich in gewaltsamen Atemzügen. Gewiß traute er vor Glück seinen Augen und Ohren nicht und vergaß eben nur das eine dabei, daß er ihnen wirklich nicht trauen durfte.

»Silvestra!« hauchte er überwältigt, aus tiefster Brust.“64

63 Ebd. S. 125. („Er schien seine Lage und das Publikum vergessen zu haben.“)

64 Ebd. S. 126.

Sobald Cipolla den verwirrten Mario im Zustand der Seligkeit sieht, befiehlt er ihm, ihn zu küssen. Der hypnotisierte junge Mann vermutet, dass vor ihm seine geliebte Silvestra steht, und in diesem Glauben gibt er dem Zauberer einen zärtlichen Kuss auf dessen Wange:

„»Küsse mich!« sagte der Bucklige. »Glaube, daß du es darfst! Ich liebe dich. Küsse mich hierher«, und er wies mit der Spitze des Zeigefingers, Hand, Arm und kleinen Finger wegspreizend, an seine Wange, nahe dem Mund. Und Mario neigte sich und küßte ihn.“65

Nach dem tief empfundenen Kuss verstummt der ganze Saal und alle starren stillschweigend und regungslos auf die Szene. Der Anblick, während dessen alle möglichen Launen wechseln, ruft sowohl Ekel vor dem hässlichen Gesicht des Verführers als auch Bedauern über den armen Jungen hervor:

„Es war recht still im Saale geworden. Der Augenblick war grotesk, ungeheuerlich und spannend, – der Augenblick von Mario’s Seligkeit.“66

„/…/ aber sogleich nach der traurigen und skurrilen Vereinigung von Mario’s Lippen mit dem abscheulichen Fleisch, das sich seiner Zärtlichkeit unterschob, /…/“67

Als die flinke Reitpeitsche Mario aus seinem Liebesrausch weckt, erleidet er einen schweren Schock. Er begreift im Nu, dass seine innerlichsten Gefühle vor der breiten Öffentlichkeit von diesem monströsen Ungeheuer missbraucht wurden und bricht an Ort und Stelle psychisch zusammen:

„/…/ während noch dies Lachen erklang, ließ der oben Geliebkoste unten, neben dem Stuhlbein, die Reitpeitsche pfeifen, und Mario, geweckt, fuhr auf und zurück. Er stand und starrte, hintübergebogenen Leibes, drückte die Hände an seine mißbrauchten Lippen, eine über der anderen, schlug sich dann mit den Knöcheln beider mehrmals gegen die Schläfen, machte kehrt und stürzte, /…/“68

Mit der schmachvollen Demütigung, die sich vor dem ganzen Torre di Venere abgespielt hat, kann sich der gefühlvolle Mario nie mehr auseinander setzen. Aus trostloser Verzweiflung nimmt er in die Hand seine kleine Pistole und bringt den grausamen Tyrannen auf der Bühne mit zwei Schüssen um. Alle Augenzeugen erstarren vor Schreck, der siegreiche Cipolla fällt zu Boden und sein toter Leib mustert drohend die erschrockenen Gesichter:

„/…/ und zwei flach schmetternde Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter.“69

65 Ebd. S. 126.

66 Ebd. S. 126.

67 Ebd. S. 126.

68 Ebd. S. 127.

69 Ebd. S. 127.

„/…/ sackte im nächsten Augenblick mit auf die Brust kugelndem Kopf auf den Sitz zurück und fiel im übernächsten seitlich davon herunter, zu Boden, wo er liegen blieb, reglos, ein durcheinandergeworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen.“70

Nach dem tragischen Ereignis verlässt die fremde Familie sofort den Saal. Die Kinder, die um keinen einzigen Zauber kommen wollen, vergewissern sich lieber noch bei ihren Eltern, ob die Vorstellung wirklich zu Ende ist. Die Eltern versichern ihnen, dass sie schon alle Zauber gesehen haben und höchste Zeit ist, nach Hause zu gehen.

Die Eltern selbst gehen schockiert, angeekelt und dennoch überraschend befreit ab:

„»War das auch das Ende?« wollten sie wissen, um sicherzugehen… »Ja, das war das Ende«, bestätigten wir ihnen. Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!“71

Cipolla’s Tod bedeutet für den Erzähler eine große Erleichterung, denn weder er noch andere Zuschauer, sondern das Böse wurde bestraft. Er glaubt, dass der schreckliche Abend nur eine dunkle Episode war, die zum Glück schon vorbei ist. Doch diese Episode war nur ein Anfang von noch gewaltigeren Schrecken, die erst kommen sollen.

70 Ebd. S. 127.

71 Ebd. S. 128.