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I NHALT UND F ORM DER E RZÄHLUNG

3 THOMAS MANN: MARIO UND DER ZAUBERER. EIN TRAGISCHES

3.2 I NHALT UND F ORM DER E RZÄHLUNG

Der Erzähler erinnert sich an den gemeinsamen Familienaufenthalt in Italien, wo zu dieser Zeit wachsende nationalistische Tendenzen offen zum Ausdruck gekommen sind. Er besucht mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern den italienischen Ferienort Torre di Venere, um dort einen längeren ruhigen Sommerurlaub zu verbringen.

Die Atmosphäre am Ort ist jedoch von Anfang an sehr gereizt, die Italiener verhalten sich gegenüber den Fremden feindlich und geben der Familie zu spüren, dass sie in ihrem Land gar nicht willkommen ist. Die Familie ist einer Reihe von diskriminierenden Angriffen ausgesetzt, die sie in Schrecken versetzen und ihren Traum von einem südländischen erholsamen Urlaub ganz verderben. Im Hotel, in dem die Familie untergekommen ist, verweigert der Hotelmanager der fremden Familie, auf einer beleuchteten Veranda zu essen, denn solche prächtigen Plätze sind angeblich ausschließlich für die „eigenen“ Gäste reserviert. Ein weiteres deutliches Zeichen der Diskriminierung lässt auf sich nicht lange warten. Nachdem sich eine Dame aus dem italienischen Hochadel bei der Hotelleitung darüber beschwert hat, dass der Sohn der Familie an einem Keuchhusten leidet, der für die Umgebung ein Risiko der Ansteckung darstellt, wird die Familie trotz einer entgegengesetzten Diagnose des Arztes aus dem Hotel unverzüglich ausquartiert. Eine stürmische Auseinandersetzung zwischen der Familie und einheimischen Bevölkerung spielt sich weiterhin am Strand ab. Die kleine Tochter ist dabei erwischt, wie sie ihren verunreinigten Badeanzug im Meer nackt spült.

Die italienischen Augenzeugen sind über so eine freche Moralverletzung tief erschrocken und verlangen unverzügliche exemplarische Bestrafung der unverschämten

Ausländer. Im Stadtamt wird die Familie von der italienischen Polizei eines groben Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung angeklagt, ohne Aussage der Gegenseite an Ort und Stelle überführt und anschließend zu einer Geldstrafe verurteilt. Trotz aller Unannehmlichkeiten entscheiden sich die Eltern, den italienischen Boden nicht zu verlassen.

Eines Tages tauchen in ganz Torre di Venere grelle Plakate, die für den Zauberkünstler namens Cipolla und seine Zauber werben. Die Kinder der fremden Familie sind von einer solchen geheimnisvollen Vorstellung hingerissen und obgleich ihre Eltern Bedenken haben, versprechen sie ihnen, gemeinsam an der spätabendlichen Darbietung teilzunehmen.

Im Saal versammeln sich sowohl die einheimischen Einwohner, unter ihnen gleichfalls der Kellner Mario, als auch ausländische Besucher. Alle Gäste schauen in gespannter Erwartung nach dem Meister aus, der lange Zeit auf dem Podium nicht erscheinen will. Sobald sich der Zauberer mit erheblicher Verspätung endlich auf der Bühne zeigt, wird das Publikum in Verlegenheit gebracht. Cavaliere Cipolla sieht als typischer Zauberkünstler gar nicht aus, sein krankes Aussehen flößt einerseits Ekel ein, andererseits erweckt es Schrecken. Einen verlegenen Eindruck auf die Zuschauer macht eine drohende Reitpeitsche, die Cipolla immer bei sich trägt.

Schon von Anfang des Programms an ist jedem objektiven Beobachter ganz klar, dass der Mann auf der Bühne kein wahrer Zauberer, sondern ein ausgezeichneter Hypnotiseur ist. Seine Darbietungen stellen sich nach außen zwar als Zauber, doch in ihrem Wesen verfolgen sie ausschließlich das Ziel, den Willen der anwesenden Menschen zu manipulieren. Einzelne Programmnummern sind vielfältig und wechseln schnell nacheinander ab. Ihre erfolgreiche Verwirklichung wird von heftigen Bewegungen der Reitpeitsche unterstützt und im Notfall erzwungen. Zunächst führt der Meister beispielsweise seine arithmetischen Fertigkeiten vor, anschließend verwandelt er einen Mann in eine Sitzbank oder lässt auf dem Podium hypnotisierte Zuhörer tanzen. Die anstrengenden Hypnosen erschöpfen seine Kräfte, wobei er sich regelmäßig mit Zigaretten und Alkohol stärkt. Kennzeichnend für Cipolla’s Nummern ist, dass sie im Laufe des merkwürdigen Abends für die Versuchspersonen immer demütigender sind. Diese „Freiwilligen“ werden vor der Öffentlichkeit zynisch lächerlich gemacht und für die Preisgabe ihrer privaten Gefühle werden sie vom Hypnotiseur sogar gelobt und ernten vom Publikum großen Applaus. Jeder Widerstandsversuch seitens der Zuschauer gegen Cipolla’s Willen wird früher oder später gebrochen. Während man im Publikum die Vorstellung bewertet, sind sowohl ablehnende Stimmen als auch

Äußerungen der Anerkennung zu hören, die Berufsfertigkeiten des Meisters preisen.

Obgleich die Eltern aus der fremden Familie über den Verlauf der Vorführung entsetzt sind, haben sie keine Kraft, den Saal zu verlassen. Nicht nur wegen der Bitten ihrer Kinder, die sich sehr gut amüsieren, sondern auch wegen der Tatsache, dass sie selbst auf eine weitere Entwicklung des Abends neugierig sind. Auch sie, die sich der ganzen Gefahr bewusst sind, lassen sich von der Merkwürdigkeit der Auftritte Cipolla’s verlocken und bleiben im Saal.

Als letzten Freiwilligen fordert der Zauberer Mario auf, einen jungen Kellner aus einem hiesigen Café, zu ihm auf die Bühne hinaufzusteigen. Der einfache Mario ist nicht imstande, sich gegen Cipolla’s starken Willen zu wehren, und wird in eine tiefe Hypnose versetzt. Der Zauberer täuscht unverschämt vor, das Mädchen namens Silvestra zu sein, in das Mario mit Leib und Seele verliebt ist. Sobald sich Mario im Zustand der Seligkeit befindet, ordnet Cipolla ihm an, ihn zu küssen. Da der hypnotisierte Mario vor sich Silvestra stehen sieht, küsst er seine vermeintliche Liebe auf die Wange. Nachdem ihn der Zauberer aus seinem Traum geweckt hat, wird sich Mario seiner Lage sofort bewusst und gerät in Verzweiflung. Während er von der fatalen Bühne flüchtet, erschießt er aus Ausweglosigkeit den zynischen Gaukler.

3.2.2 Zur Entstehung, Veröffentlichung und Struktur

Die Erzählung Mario und der Zauberer verfasste Thomas Mann im Jahre 1929 an der Ostsee, sie wurde 1930 in Berlin herausgegeben. Als Inspiration dienten dem Schriftsteller erschütternde Eindrücke, die er mit seiner Familie während eines Ferienaufenthaltes 1926 an der italienischen Adriaküste sammelte. Indem Mann in der Erzählung über die fremdenfeindliche Stimmung im faschistischen Italien berichtet, appelliert er an die deutsche Nation und warnt sie vor der Gefahr des sich rasch verbreitenden Nationalsozialismus.

Die Handlung wird von einem personalen Erzähler vermittelt, der Familienerinnerungen in der „Wir“-Form schildert. Was die Struktur der Erzählung angeht, lässt sie sich in zwei scheinbar heterogene Teile gliedern, die jedoch durch einen thematischen Funktionszusammenhang verbunden sind. An einen ersten Teil, in dem vor allem Natur und Milieu atmosphärisch geschildert werden, knüpft die Abendvorstellung des buckligen Zauberers und Hypnotiseurs Cipolla an, während der

sich die Handlung zuspitzt. In der Person Cipolla kommen die anfänglichen Anzeichen der Gewalt zum Ausdruck.15

In der Endphase der deutschen Weimarer Republik und zur Zeit des italienischen Faschismus Mussolinis kann der Zauberer als politische Führerfigur verstanden werden, dem es gelingt, im Interesse seiner Ideologie Massen zu verführen. Cipolla ist zwar ein hässlicher und kranker Mann, doch durch seine gewaltige Willensanstrengung und hypnotische Fähigkeiten weiß er stark zu werden. Er macht den Eindruck, von seiner Stellung in der Gesellschaft enttäuscht zu sein und sich am Leben zu rächen. 16

Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer wurde im Jahre 1994 vom österreichischen Regisseur und Schauspieler Klaus Maria Brandauer verfilmt, der die Hauptgestalt Cipolla selbst verkörperte. Die gleichnamige Verfilmung, die im südlichen Sizilien verwirklicht wurde, weist sowohl viele Gemeinsamkeiten, als auch erhebliche Unterschiede zur literarischen Vorlage auf. Besonders auffallend ist der veränderte Ausgang der ganzen Geschichte. Während im Werk Mario den diktatorischen Cipolla gegen seinen eigenen Willen küsst und ihn anschließend aus Ausweglosigkeit erschießt, ist in der Verfilmung Silvestra vom Zauberer gezwungen, ihm einen Kuss zu geben.

Aus Rache will das gedemütigte Mädchen das menschliche „Ungeheuer“ töten, doch auf der Bühne kommt es zu einer chaotischen und unübersichtlichen Situation und Silvestras Schuss trifft schließlich den hypnotisierten Mario. Diese Abschlussszene kann demjenigen, der die Vorlage kennt, ziemlich überraschend vorkommen. Obwohl beide Ausgänge gleichermaßen dramatisch sind, wirkt sich der filmische auf den Zuschauer ganz anders aus. Er kann nämlich das Filmende nicht als Befreiung empfinden, denn der gehasste Unterdrücker bleibt am Leben.