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76 Illustration: Niels Schröder 2014

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5. Lucifers Brüder

Bevor nun einzelne Repräsentationen gefallener Engel in den Blick rücken, sollen

›Lucifers Brüder‹ betrachtet werden, Menschen, die sich über die ihnen gegebenen physischen Grenzen fliegend hinwegzusetzen versucht haben und dabei zum Teil lebensbedrohlich gescheitert sind.

Der Traum vom Fliegen lässt sich vom Menschen nicht verwirklichen. Dennoch aber sind zahlreiche Versuche unternommen und geschildert worden. Viele dieser

Versuche endeten im Fall. Manchen dieser abgestürzten Flieger wurden im

Nachhinein Motive unterstellt, die mit den Motiven übereinstimmen, die Engel zu Fall bringen.

Wenn hier von Lucifers Brüdern die Rede ist, so bezieht sich das also nicht auf die Erzengel Raphael, Gabriel und Michael, die in manchen Überlieferungen als Geschwister dieses gefallenen Engels geführt werden. Hier sollen vielmehr einige menschliche Figuren in den Blick genommen werden, mythologische, deren Geschichte durch Flug und Fall geprägt ist – biblische, historisch belegbare und Kunst-Figuren. Unter den fliegenden Menschen werden hier nur die, die zwar mit technischen Hilfsmitteln, aber aus eigener Muskelkraft zu fliegen versuchten und scheiterten, und auch unter diesen nur eine Auswahl beispielhaft in den Blick

genommen. Niemand fliegt ungestraft, könnte der kleinste gemeinsame Nenner der Flüge und Flugversuche sein, die in Sturz und Fall endeten.

Natürlich unterscheidet ein Umstand Lucifer und die mit ihm gefallenen Engel

wesentlich von allen unten Genannten: Als Engel konnten sie vor ihrem Fall fliegen – die Menschen, die das Fliegen versuchten, konnten (und können) es primär nicht.

Aber dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die eine solche Betrachtung möglich machen: Das Motiv des Scheiterns der Flugversuche wird häufig in Hybris gesucht, mithin einem der wesentlichen Beweggründe, die Lucifer und andere Engel zu Fall bringen. Zudem wird den Menschen, die Flugversuche unternehmen, häufig ein Bündnis mit dem Teufel unterstellt resp. der Teufel oder eine dämonische Macht für den Absturz verantwortlich gemacht. Viele Flugopfer haben ihr Werk als

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künstlerisches verstanden; dass der Künstler oft als mit dem Teufel Verbündeter verstanden wurde, kommt hier erneut zum Tragen.

Es wird allerdings nur von Männern die Rede sein. ›Die Schwestern des Ikarus‹ – so der Titel einer Ausstellung, die das Zeppelin Museum Friedrichshafen 2004 gezeigt hat – tauchen in der Fliegerei erst mit der Ballonfahrt auf. Die bemannte Luftfahrt beginnt am 19. September 1783 – an diesem Tag lassen die Brüder Étienne und Joseph Montgolfier in Versailles erstmals einen Ballon aufsteigen, am 21. November desselben Jahres steigen mit Jean-François Pilâtre de Rozier und François

d’Arlandes zum ersten Mal zwei Menschen in einem solchen Freiballon in den

Himmel auf. Pilâtre de Rozier wird das erste Todesopfer der bemannten Luftfahrt: Als er am 15. Juni 1785 mit einem von ihm selbst entwickelten Heißluft-Gas-Hybrid-Ballon von Boulogne-sur-Mer aus in Richtung Großbritannien aufbricht, fängt der Wasserstoff nach fünf Kilometern Fahrt Feuer, die Gondel stürzt aus 900 Meter in die Tiefe. Pilâtre de Rozier und sein Mitfahrer Pierre Romain überlebten diesen Absturz nicht. Ein gutes Jahr zuvor, im Mai 1784, werden vier französische adelige Damen die ersten weiblichen Passagiere der Luftfahrtgeschichte. Elizabeth Tible war im Juni 1784 die erste Frau, die in einem Freiballon flog, und Jeanne-Geneviève Labrosse, ab 1801 verheiratete Garnerin, ist die erste Frau, die einen Ballon selbst fuhr, und auch die erste, die mit einem Fallschirm aus einem Ballon absprang. Das war am 12.

Oktober 1799.202

Zu ›Lucifers Brüdern‹ zählen aber nicht nur historisch belegbare Personen; auch die Mythologie kennt Flieger und Flugopfer. Ein kurzer Blick auf diese ›Vor-Boten‹ ist dem auf ihre menschlichen Brüder vorangestellt.

202 vgl. Vogel 2004.

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Vor-Boten

Die antike Mythologie kennt einige Figuren, Menschen wie Heroen, für die

Eigenschaften, die auch gefallenen Engeln zugeschrieben werden, charakteristisch sind. Einige dieser Vor-Boten sollen im folgenden dargestellt werden.

Hermes könnte als mythologischer Vor-Bote der Engel gelten; Heinrich Rombach begründet diese Nähe aus angelologischer Sicht: »Wir finden beim Engel alles, was zu den Insignien des Hermes gehört, die Flügel, den Stab, die Botenfunktion und die Aufgabe des ›Geleits‹. Der Engel ist der Führer in eine andere Welt, zugleich der Schutzgott der Eigenheit des Einzelnen.«203 Wie die Engel ist auch Hermes ein Zwischenwesen und ein Übersetzer: Hermes ist »der Bote, der von einer Welt in die andere eilt, um mit einer Botschaft wahrhaftig überzusetzen. Wenn er der Gott der Dolmetscher und Übersetzer ist, dann nur darum, weil er der Gott des

Hinübersetzens ist.«204

Unter den mythologischen Vor-Boten gefallener Engel ist Ikarus prominenteste und nächst(f)liegende. Unter dem Aspekt des Fallens und Stürzens einerseits und der dadurch in spezifischem Licht stehenden Perspektive auf künstlerische Produktion sind aber auch Prometheus, Narziss und Orpheus einer Betrachtung wert.

Prometheus

Prometheus ist kein Engel, auch kein gefallener, doch trägt er prototypische Züge der Spielart mächtiger gefallener Engel. Zum einen bringt er im Mythos den Menschen das Feuer und unterweist sie in Techniken und Künsten, in dem Bestreben, ihnen gegenüber den Götter Autonomie zu verleihen. Hierin ähnelt er den im Buch Henoch beschriebenen gefallenen Engeln. Aber er setzt nicht nur technischen Fortschritt und damit zunehmende Verselbständigung in Gang. Er bringt mit dem Feuer auch Licht zu den Menschen, das metaphorisch für das Licht der Erkenntnis, für Aufklärung stehen mag. Insofern ist auch er ein Lucifer, ein Lichtträger.

203 Rombach 1983, S. 67.

204 Rombach 1983, S. 41 (Hervorhebungen im Text).

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Zum anderen ist Prometheus’ Situation nach seiner Vertreibung aus dem Olymp der Situation der Engel nach ihrem Fall vergleichbar: Er nimmt den Kampf mit dem Olymp auf und wird mit ewigen Strafen belegt. Mit seinem Körper ist er fixiert,

festgekettet am Felsen wie die gefallenen Engel, die, bewacht vom Erzengel Michael, in der Hölle festgesetzt sind. Beweglich und ungebunden aber ist nach wie vor seine Vernunft, die dadurch eine umso größere Wirksamkeit zu erlangen scheint. Dies wiederum macht ihn wie jene attraktiv für den schöpferischen Menschen: »In die Unmöglichkeit des Heute – mit ein und demselben Blick sich Präsenz und Form denkend – müßte sich dann mit absoluter Evidenz einschreiben, dass jeder von uns nichtsdestoweniger versuchen muss, die eigene Grenzen zu überschreiten: genau darin läge unsere Verantwortung gegenüber dem, was wir in der Verwahrung haben:

die Ehre der Menschen, die heilige Sprache. Unser Körper ist an den Fels gekettet wie Prometheus, aber unser Geist wäre frei«205, schreibt Yves Bonnefoy. So werden der antike Titan, die gefallenen Engel und die modernen Menschen zu

Schicksalsverwandten.

Orpheus

In der griechischen Mythologie findet Lucifer eine weitere Präfiguration bzw. einen älteren Bruder in Orpheus. Durch Erkenntnis und Hybris, durch einen Akt des Ungehorsams, überschreitet Orpheus die Grenze der »Erlaubnis«, die bzw. deren Beschränkung eine von ihm »unerhörte«206 ist. Er verliert Eurydike damit endgültig an den Hades, er verliert die Liebe an den Tod. Der Verlust der Liebe steht auch für den Verlust des menschenmöglichen Moments von Unsterblichkeit. So wird Orpheus selbst ausschließlich sterblich und kann nicht mehr zwischen Ober- und Unterwelt hin- und hergehen und vermitteln, eine Eigenschaft, die er auch durch seine

künstlerischen Fähigkeiten, seinen alle Grenzen überschreitenden Gesang erworben hatte. Hier entsteht eine Parallele von (gefallenem) Engel und Künstler, weil Orpheus beide Figuren in sich vereint. Orpheus ist der Künstler-Sänger, der zwischen Ober- und Unterwelt wandelt, so wie die Engel zwischen Himmel und Erde und die

gefallenen Engel zwischen Erde und Hölle wirken. Rainer Maria Rilkes späte

205 Bonnefoy 2006, S. 20.

206 Sloterdijk 1988/2, S. 27.

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›Sonette an Orpheus‹ zeigen, wie sich aus der Figur des Engels die des gefallenen Engels und schließlich die des Orpheus entwickelt.

Die Verbindung von Kunst, schöpferischem Menschen und gefallenem Engel hat Peter Sloterdijk in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen am Beispiel des

»griechische[n] Protopoet[en]« dargestellt. Orpheus’ Kunst ist mächtig und provoziert zugleich Selbstüberschätzung. Sloterdijk schreibt: »Dass das Leid, das ihn bewegt, auch andere zu bewegen vermag, zeigt sich an dem unglaublichen Ausgang des Unternehmens: die Hölle selbst lässt sich erbitten. Mit seiner Kunst hat Orpheus die Grenzen des Todes verschoben, er erhält die unerhörte Erlaubnis, die geliebte Tote zum Licht und zu den Lebenden zurückzuführen, unter der unerbittlichen Bedingung, dass er während des Rückwegs in die Tagwelt sich keinesfalls nach ihr umdrehen darf; solange das Reich der Schatten zu durchqueren bleibt, soll er das Objekt seines Begehrens nicht betrachten. Aber dem Orpheus diese Bedingung stellen heißt, von dem, der Unmögliches fordert, das Unmögliche fordern, denn ein Verlangen, das sich nicht vom Faktum des Todes hat einschüchtern lassen, wird sich auch an die

Vorschrift, sich nach der Geliebten nicht umzudrehen, kaum halten können.«207 Sloterdijk feiert Orpheus so als den »Dichter […], der im Unmöglichen selbst das Wirkliche sucht«: »Mit Eurydike bei den Schatten macht er die Erfahrung, die für jede Literatur, die sich aussetzt, gültig bleibt. Solange er sie kraft seines poetischen

Begehrens hinter sich tagwärts, weltwärts, sprachwärts mit sich führt, solange er sich nicht umwendet, um sie zu besitzen, solange besiegt er das, was Menschen sonst sprachlos macht und zur Unterwerfung führt, den Tod. Dadurch wird Orpheus zum ersten Zeugen der Poesie – zum Redner gegen den Tod und gegen die

Sprachlosigkeit.«208

In der Dichtung, in der Kunst selbst liegt also das Moment des Aufbegehrens. So aussichtslos das direkt Verlangte ist, so gewinnbringend ist der Umweg, auch wenn er nur Aufschub bedeutet: »[…] zwischen dem Verlorenhaben und dem erneuten Verlieren öffnet sich der Raum für ein Leben, das atmenden, sprechenden,

begehrenden Wesen entspricht. In diesem Raum leisten wir Widerstand gegen das allzu Wirkliche und lernen, Anfänger des Unmöglichen zu sein. Diesen Raum eröffnet

207 Sloterdijk 1988/2, S. 27.

208 Sloterdijk 1988/2, S. 28.

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die Poesie, indem sie sich ins Ungewisse aussetzt. Durch ihre Aussetzung beginnt sie das Unannehmbare zu umspielen. […] Aus der Unversöhnlichkeit der

Trennungen erwächst der Zauber neuer Verbindungen, die das Fatum vertagen.«209

Narziss

Narziss in die Reihe der Vor-Boten gefallener Engel einzugliedern, gelingt nicht in jeder Hinsicht passgenau, fügt sich aber zum Kontext der Auseinandersetzung des Künstlers mit der Figur des gefallenen Engels. Der Narziss-Mythos trägt einige Züge, die ihn insbesondere hinsichtlich des künstlerischen Zusammenhangs in diesem Licht sehen lassen können. So mag es denn auch kein gestalterisches Versehen sein, dass die aktuelle deutsche Taschenbuchausgabe von Per Olov Enquists Roman ›Gestürzter Engel‹ als Umschlagmotiv einen Ausschnitt von Caravaggios

›Narcissus‹ (1594/96, Öl auf Leinwand, 110 x 92 cm, heute Galleria Nazionale d’Arte Antica, Rom) verwendet.

Abb. 8: Per Olov Enquist, Gestürzter Engel, Frankfurt am Main: Fischer 22010 (Cover)210

209 Sloterdijk 1988/2, S. 29.

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Narziss wird sein Selbstbezug zum Untergang. Sein Schöpfen ist kein Erschaffen mehr, sondern bleibt leer – es rinnt ihm buchstäblich durch die Hände. Narziss ist, wäre er ein gefallener Engel, keiner mehr, sondern ein leerer Engel, mithin der Engel, der dem modernen Menschen am nächsten steht. Bei beiden geht es um den Verlust des Selbst.

Per Olov Enquists gestürzter Engel ist ein zweifacher, und beide Figuren tragen narzisshafte Züge: der eine ist ein Junge, der, ohne dass sich die Motive recht

erklären ließen, zwei Kinder umgebracht hat und in psychiatrischer Verwahrung lebt:

»In der Nervenheilanstalt schrieb er kleine Zettel mit eigenartigen Aufzeichnungen:

Zuerst schrieb er, danach beschmierte er sie mit Exkrementen und warf sie auf den Fußboden. Man sammelte sie ein. Sie wurden registriert und analysiert. Sie ergaben keine Antworten. ›Gestürzter Engel‹, hatte auf einem gestanden. ›Ich bin wohl

trotzdem immer noch eine Art Mensch‹, auf einem anderen. Eine Art.«211 Dieser gestürzte Engel trägt insofern Züge des Narziss, als er Botschaften schreibt, die nur ihm selbst etwas vermitteln bzw. mitteilen, d. h. für Dritte leer sind, und auch

deswegen, weil seine Tat die Spiegelfläche der gesamten Handlung des vom Autor als »Liebesroman« qualifizierten Buches ist. Erst mit dem Tod des Jungen ist das Fallen asymptotisch an sein Ziel gekommen, der Fall näherungsweise

abgeschlossen: »Dass wir den Fall abschlossen, das war es, die Tür zumachten und weitergingen. Abschlossen, zumachten. Obwohl wir ja wussten, dass es so niemals werden würde.«212

Die zweite Narziss-Figur des Romans ist eine als körperlich doppelgesichtig beschriebene: der auch durch die Träume des Ich-Erzählers geisternde Pasqual Pinon, ein Mensch, der zwei Köpfe hat, einen männlichen und einen weiblichen. Im Roman hat er wie ein siamesischer Zwilling tatsächlich zwei Köpfe, der historische Pasqual Pinon hatte nur einen (männlichen), der zweite war eine mit einer

wächsernen Maske zum zweiten Gesicht gestaltete gutartige Wucherung. Pinon, eigentlich texanischer Bahnarbeiter, trat in einer Freak-Show als Attraktion auf, bis

210 Abb.:

http://www.amazon.de/Gest%C3%BCrzter-Engel-Per-Olov-Enquist/dp/3596157420/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1390483996&sr=8-1&keywords=enquist+engel.

211 Enquist 2010, S. 89.

212 Enquist 2010, S. 107.

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ihm der Show-Direktor eine operative Entfernung seines zweiten Gesichts bezahlte, woraufhin Pinon nach Texas zurückkehrte.

Der männliche Kopf von Enquists Pinon ist der identitätsbestimmende, die Figur wird als Mann eingeführt, der den Kopf einer, später: seiner Frau mit Namen Maria

zusätzlich zu seinem eigenen trägt, wobei sie einander nur mit Hilfe eines Spiegels sehen können – im Spiegel spiegeln sie sich selbst und im Spiegelbild einander: »Er liebte es später sehr, sie zu sehen.«213 Sie werden ins Dunkle gestürzt, in eine metaphorische wie reale Grube, die Züge der Hölle als Aufenthaltsort des Teufels trägt: »Er wurde als Schutz gegen Unglücksfälle dort gefangen gehalten. Die

abergläubischen Grubenarbeiter […] stellten sich vor, dass dieses Monster ein Kind des Satans sei, und dass man auf diese Weise durch einen unglücklichen Zufall ein Kind des Satans in seiner Gewalt hätte […] Wie ein vom Himmel herabgefallener Engel wurde er als Geisel gegen das Böse selbst gehalten.« Später schließen Pinon und seine Frau sich einer satanistischen Sekte an, die »fast vollständig aus

missgestalteten Menschen« besteht, »es war eine Kirche der Monster, nichts

anderes.«214 Satan als der Verstoßene und Ausgestoßene ist die Identifikationsfigur:

»Während Gottes Sohn zum Himmel aufgestiegen war, war Satan vom Himmel hinabgestürzt worden, hinunter zu den Menschen, und dort war er geblieben. So war er der Heilige der Ausgestoßenen geworden, der Gott der Zurückgewiesenen, der Nicht-Erfolgreichen, der Verworfenen, der Nicht-Vollendeten, als des Menschen Gott.

[…] Gegen einen Glauben an den Menschen als wohlgestaltet, normal und nicht anstößig stellten sie sich selbst. Die Missgebildeten, die Ausgestoßenen wurden der Prüfstein, der Beweis dafür, auf wessen Seite man stand, und weil Gott einst Satan verstoßen hatte, verstießen die Monster nun Gott. […] Sie befanden sich an der letzten Grenze der Menschen. Dort, an der Grenze, schlugen sie ihr Lager auf«215. Befreit werden bzw. sind Pasqual und Maria, als sie ihre Liebe zueinander erkennen, über die sie selbst einander zu Erlöserfiguren werden: »Jetzt verstanden sie, dass ihr Leiden ein Opfer gewesen war für den Gott, den sie gewählt hatten, nicht den, der Satan hinabstürzte, sondern für den Menschen. Und dass der Schmerz notwendig gewesen war. […] Sie verstanden jetzt, dass diese Monster in Wirklichkeit

geschaffen waren als ein Glaubensbekenntnis an den Menschen, den heiligen

213 Enquist 2010, S. 49.

214 Enquist 2010, S. 95.

215 Enquist 2010, S. 95f.

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Menschen, unkränkbar als Prinzip und daher ständig gekränkt, einzigartig, wie deformiert seine Gestalt auch immer sein mochte.«216 Spiegel ihrer Entwicklung ist der orphisch anmutende Gesang des Frauenkopfes, Marias, den nur Pasqual Pinon hören kann und der sich in verschiedenen emotionalen Nuancen zeigt, ein insofern wiederum leeres Schöpfen, als es nicht mitteilbar, nicht außerhalb des in sich

geschlossenen Doppelsystems Pasqual-Maria wahrnehmbar ist: »Er war der einzige, der hätte vermitteln können. Er tat es nicht. War die Ursache Liebe?«217

Dädalus und Ikarus

Der wohl wichtigste mythologische Vor-Bote des gefallenen Engels ist Ikarus. Wichtig ist dabei neben dem mehrdeutigen Vater-Sohn-Verhältnis und den daraus

resultierenden Interpretationsansätzen, dass die Figur des Ikarus für viele frühe Flugpioniere zur Identifikationsfigur taugte bzw. ihnen als Attribut beigegeben wurde.

Manchmal ist sie dabei so positiv gewendet, dass sie zum ideologischen Vorbild wird, wie es Gerhard Wissmann in seiner ›Geschichte der Luftfahrt von Ikarus bis zur Gegenwart‹ schreibt, der der sozialistisch fundierten Luftfahrt so ihr antikes

Fundament gibt: »In allen Generationen ist sie [die Ikarus-Sage] verbreitet worden und trug dazu bei, den Fluggedanken wachzuhalten; sie hat immer wieder mutige Menschen zu eigenem Handeln angeregt.«218

Zugleich kommen in der Figur des Ikarus der Künstler, der gefallene Engel und der gescheiterte Held zusammen. Die Sonne, deren Wärme Ikarus’ Flügel schmelzen und ihn abstürzen lässt, ist, formuliert Joseph Leo Koerner, zugleich die »Quelle der Inspiration, die mit dem Vater wetteifert […] Ikarus ist, als Allegorie der Kämpfe in der literarischen Tradition, der späte Dichter, der mit der beschränkten Sprache des Vorgängers die höhere Vollendung anstrebt: mit den Flügeln des Vaters fliegt er über des Vaters Flug hinaus. Diese Sprache des Vorgängers muss, damit Neues

entstehe, umgekehrt, sie muss gebrochen werden, und was schließlich an Neuem entsteht, entpuppt sich für Ikarus als die vollendete unendliche Leere […] Sein

216 Enquist 2010, S. 100.

217 Enquist 2010, S. 55.

218 Wissmann 1982, S. 30.

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Streben nach höherer Vollkommenheit endet im Verlust der Stärke und im Sturz«.219 Die Sonne steht somit für die Überwindung des Überkommenen, für das Streben nach Fortschritt, dessen Preis bitterer Verlust sein kann, Absturz und Existenzende.

Der Mythos von Dädalus und Ikarus ist vielfach erzählt und bildkünstlerisch ausgestaltet worden – bei Homer und Hesiod finden sich erste Anspielungen.

Bekannt ist sie mindestens seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. Die älteste überlieferte Darstellung findet sich auf einem attischen Trinkbecher von ca. 600 v. Chr., sie zeigt Dädalus bei der Herstellung der Flügel, die ihm und seinem Sohn Ikarus – der hier allerdings nicht abgebildet ist – die Flucht aus dem Labyrinth auf Kreta ermöglichen sollten, das Dädalus als Architekt einst selbst gebaut hatte und in dem König Minos ihn später gefangen hielt.

Literarische Gestaltungen gibt es erst in römischer Zeit, etwa in Ovids

›Metamorphosen‹. Im Zusammenhang dieser Untersuchung sind zwei Umstände von besonderer Wichtigkeit: Zum einen, dass es Dädalus gelingt, mit selbstgebauten Flügeln zu fliegen und zu fliehen, während sein Sohn Ikarus, der die väterlichen Anweisungen ignoriert und so nah zur Sonne fliegt, dass das Wachs, mit dem die Federn zu Flügeln zusammengefügt sind, schmilzt, ins Meer stürzt und stirbt. Zum zweiten ist bedeutend, dass Dädalus nicht nur Vater des Ikarus und Flügelbauer ist, sondern sich vor allem als Erfinder, Techniker, Baumeister und Künstler einen berühmten und großen Namen gemacht hat. Seine figürlichen Skulpturen sollen lebensecht gewesen sein.

Diese beiden Elemente rücken im Zusammenhang dieser Arbeit zunächst Dädalus ins Zentrum des Interesses; denn Ikarus’ Vergehen besteht ja ausschließlich in der Ignoranz gegenüber der Weisung seines Vaters, die in den meisten Ausgestaltungen mit jugendlichem Leichtsinn motiviert wird: »Dabei liegt der Akzent auf dem Kontrast von Alter und Weisheit hier, Jugend und Unerfahrenheit dort; dies prägt die

Diese beiden Elemente rücken im Zusammenhang dieser Arbeit zunächst Dädalus ins Zentrum des Interesses; denn Ikarus’ Vergehen besteht ja ausschließlich in der Ignoranz gegenüber der Weisung seines Vaters, die in den meisten Ausgestaltungen mit jugendlichem Leichtsinn motiviert wird: »Dabei liegt der Akzent auf dem Kontrast von Alter und Weisheit hier, Jugend und Unerfahrenheit dort; dies prägt die