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42 Illustration: Niels Schröder 2014

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3. Wie Engel fliegen

So vielfältig und vielgestaltig Engel auch sind bzw. definiert worden sind – dreierlei ist den allermeisten Thesen über sie gemeinsam: Sie sind Zwischenwesen, sie sind Boten und sie können fliegen.

Um ihren Mittler- und Botendienst zu verrichten und sich dafür zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und den Menschen zu bewegen, können Engel (meistens) fliegen, und zum Fliegen haben sie (meistens) Flügel.

Franz Werfel verwehrt sich allerdings gegen die Vorstellung, Engel hätten Flügel: In seinem ›Reiseroman‹ ›Stern der Ungeborenen‹, den er 1943 begann und am 24.

August 1945, zwei Tage vor seinem Tod, beendete, plädiert er für »mögliche Engel«:

»Ich habe Engelsflügel immer für eine menschliche Erfindung gehalten, und zwar für eine schlechte und verlogene. Entweder Arme oder Flügel. Jenes unverwendbare Schwanengefieder, das an menschenartigen Schultern festgewachsen ist und keine vernünftigen und zulänglichen Muskeln zur Verfügung hat, um in Schwung versetzt zu werden, ist nichts als eine anatomische Absurdität […] Um an Engel zu glauben – und ich möchte, dankbar für mein Erlebnis, zu diesem Glauben beitragen –, müssen wir uns mögliche Engel vorstellen, das heißt protomaterielle, ultrakörperliche

Wesenheiten, die ihre Substanz beliebig verwenden, das heißt verkleiden können, was sie auch aus ihrer tiefen Neigung für ihre gesunkenen Halbbrüder, die

Menschen, dann und wann tun.«128

Der alttestamentarische Traum Jakobs zeigt eine Alternative zum Fliegen auf: Hier nutzen die Engel eine Leiter zur Überwindung der Distanz zwischen Himmel und Erde. In der Genesis heißt es: »Und er [Jakob] nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an dem Ort schlafen. Und ihm träumte; und siehe, eine Leiter stand auf der Erde, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder;und der HERR stand

obendarauf und sprach: Ich bin der HERR, Abrahams, deines Vaters, Gott und Isaaks Gott«129. Allerdings sind die Engel auf der Himmelsleiter wiederum oft

128 Werfel 1946; zitiert nach Wolff 1991, S .18.

129 1. Mose 28,11ff. Bibelstellen werden hier und im folgenden zitiert nach der Ausgabe Luther 1912/1.

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geflügelt wiedergegeben, wie an der Fassade der Abteikirche in Bath, als benötigten sie die Flügel zur Absicherung für den Fall eines Falls, oder auch zu ihrer

Kenntlichmachung als Engel.

Abb. 2: Abteikirche Bath, England130

Nahezu alle übrigen Darstellungen und Beschreibungen aber zeigen Engel als geflügelte bzw. fliegende Wesen. Meist haben sie ein Flügelpaar, die Cherubim dagegen zwei (Gen. 3,24), die Seraphim sogar drei Flügelpaare (Jes 6,1–7). Die Fähigkeit der Engel zu fliegen ist ein, wenn nicht das wesentliche Kriterium, das Engel sowohl von Gott als auch vom Menschen unterscheidet. In der Bibel findet sich keine explizite Erwähnung der Geflügeltheit von Engeln, zumindest nicht bei

menschenähnlichen Engeln. In bildlichen Darstellungen haben Engel erst seit dem 5.

Jahrhundert Flügel: »Wenn man es recht bedenkt, konnten die christlichen Engel gar nicht umhin, sich Flügel zuzulegen. Es war ein notwendiger Evolutionsschritt in Richtung Transzendenz, der in anderen Religionen und Kulten längst vollzogen war«131, hält Karl Markus Michel fest und verweist auf Platons Darstellung der geflügelten Seele im ›Phaidros‹: »Denn ›des Gefieders Kraft ist, das Schwere nach

130 Abb.: http://www.robertmealing.com/wp-content/gallery/bath/bath14.jpg und http://www.flickr.com/photos/jacquiross/3862968215/

131 Michel 1988, S. 236.

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oben zu führen, es emporhebend dahin, wo das Geschlecht der Götter wohnt. Von allem Körperlichen hat es am meisten Teil am Göttlichen.‹ […] Entscheidend […] ist, dass die Seele Schwere, das heißt einen Körper hat. […] die Seele braucht Flügel, um sich aus dem sterblichen Leib in die Unsterblichkeit emporschwingen zu können – sonst erstirbt er. Damit wird sie dem Engel gleich«132, zitiert und kommentiert Michel.

Fliegend überwinden Engel metaphorische und metaphysische Distanzen. Fliegen ist eine Bewegung, die kein Oben und Unten kennt; landen kann ein Engel sowohl auf dem Boden der irdischen Tatsachen als auch in den himmlischen bzw. englischen Sphären. Ihr Flugfähigkeit ist die unabdingbare Grundvoraussetzung dafür, dass Engel die ihnen bestimmte Aufgabe annehmen und ausführen können, nur fliegend überwinden sie die Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen.

So gesehen, haben Engel etwas Vogelhaftes: »Engel sind eigentlich Vögel«133, konstatiert Carl Gustav Jung. Sie scheinen den Vögeln in vielem ähnlich und über die Fähigkeit des Fliegens untrennbar mit ihnen verbunden: »Die Kraft des Gefieders besteht darin, das Schwere emporhebend hinaufzuführen, wo das Geschlecht der Götter wohnt«, lässt Platon Sokrates im ›Phaidros‹ konstatieren.134

Viele Engel lassen sich als »Nachfahren ehemaliger Tiergötter, Erben verschiedener Gestalten, Diener und Attributionen sakraler Mächte« sehen. Thomas Macho zählt in seiner Engführung von Angelologie und Ornithologie darunter den altägyptischen Himmelsgott Horus, der als Falke auftritt, der zugleich als heiliges Tier des

Sonnengottes Re gilt, oder auch den Adler, der Attribut des phönizischen

Himmelsgottes Baal ist und zugleich sowohl die Macht Jupiters als auch die des Zeus ins Bild setzt.

Auch im indischen, germanischen, babylonischen, semitischen und christlichen Kontext finden sich zahlreiche Vögel als Attribute einzelner Gottheiten, nicht zuletzt der Heilige Geist der christlichen Dreieinigkeit wird nahezu immer als Taube

132 Michel 1988, S. 237f.

133 Jung 2001, S. 67.

134 zitiert nach Macho 1997, S. 97.

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dargestellt.135 Engel und Vögel verbindet darüber hinaus auch die »Kompetenz für Anfang und Geburt«, also ihre »gründungsmythische Bedeutsamkeit«, und ebenso die »Zuständigkeit für Untergang und Tod«136, hält Thomas Macho in seinem

›Himmlisches Geflügel‹ überschriebenen Essay fest.

Thomas Macho weist in diesem Kontext insbesondere auf die semantische

Verwandtschaft von Engeln und Brieftauben hin: »Die Brieftaube ist also der älteste Botenengel.«137 Wie die Taube seit der Antike als Briefbote eingesetzt wird, hat Hilmar Hoffmann in seinem ›Taubenbuch‹ umfassend dargestellt.138 Aber auch wenn sie nicht als Postillion unterwegs ist, übernimmt die Taube, wie Hilmar Hoffmann belegt, vielfältige Aufgaben als Bote und Botschaft: Sie symbolisiert Liebe und Tod, den Heiligen Geist und den Frieden.

Dante bezeichnet Engel als »Gottesvögel«: »Ach Bruder, sagt’ er drauf, was hilft das Steigen? / Mich ließe ja zur Büßung doch nicht gehen / Der Gottesvogel, der dort an der Tür sitzt. / So lange muß zuvor mir außer ihr / Der Himmel kreisen, als er tat im Leben, / Weil gute Seufzer bis zum End’ ich aufhob, / Wenn früher Hilfe nicht Gebete bringen / Aus einem Herzen, das in Gnade steht; / Nutzlos sind andre, nicht erhört im Himmel.«139 Trotz mancher Verwandtschaft sind Engel von Vögeln wesentlich

unterschieden: »Flügel sind bei Vögeln zum Fliegen dienende Bewegungsorgane, die durch Umbildung der Vordergliedmaßen entstanden sind. Beim Fliegen wird mit ihnen Auftrieb und Vortrieb erzeugt«140.

Anders also als Vögel, deren vordere Extremitäten zu Flügeln ausgebildet sind, sind Engelsflügel zwar auch am Rücken angebracht, aber Engel haben in den meisten Darstellungen und Beschreibungen nicht nur (zumindest) ein Paar Flügel und Beine, sondern auch Arme. So zeigt Paul Klees Zeichnung ›Mehr Vogel (als Engel)‹ von 1939 ein menschengesichtiges, zweibeiniges, geflügeltes, aber eben armloses Wesen, weil es der Beschriftung des Zeichners zufolge eben mehr ein Vogel als ein Engel ist.

135 Macho 1997, S. 86f.

136 Macho 1997, S. 88f.

137 Macho 1997, S. 95f.

138 vgl. Hoffmann 1982, S. 103–135.

139 Dante Alighieri 1916, S. 162.

140 http://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCgel_%28Vogel%29

47 Abb. 3: Paul Klee, Mehr Vogel (als Engel), 1939, Bleistift auf Papier auf Karton, heute Zentrum Paul Klee, Bern141

Engel ähneln in ihrer Anatomie also eher Insekten, die seit dem Karbon Flügel und mehrere, allerdings drei statt zwei Extremitäten- bzw. Beinpaare aufweisen. Die stärkste anatomische Ähnlichkeit weisen Engel jedoch zu einem Fabelwesen, zum Drachen auf; interessant dabei ist in diesem Zusammenhang die symbolische Nähe der Drachen zum Teufel als dem gefallenen Engel überhaupt – so wird in zahlreichen Berichten über gelungene Exorzismen beschrieben, dass kleine geflügelte Drachen aus dem Mund des oder der Besessenen ausfahren.

Welche Bedeutung den Armen des Engels zukommt, soll hier nicht ausführlich untersucht werden; augenfällig ist jedoch, dass die Arme eines Engels in den meisten Darstellungen und Beschreibungen gebende sind; selten oder nie üben sie die reziproke Funktion des Nehmens aus.

Oft ist das, was der Engel mit seinen Armen bzw. Händen gibt, ein Symbol seiner Botschaft, etwa die Lilie, die Gabriel – der übrigens einzige Engel der christlichen Überlieferung, der als definitiv weiblich bezeichnet wird, wohingegen heute das Attribut eines Engels umgangssprachlich kaum noch männlich, sondern vor allem

141 Abb.: http://www.museum-folkwang.de/uploads/pics/Klee__Mehr_Vogel_525px.jpg.

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kindlich oder weiblich konnotiert ist – Maria reicht, als er ihr die Geburt des

Gottessohnes verkündet, oder die zahlreichen Instrumente, die die musizierenden Engel in Armen und Händen halten, um ihrem Gotteslob lautstark Nachdruck zu verleihen.

Abb. 4: Raffael, Mariä Verkündigung (Studie), 1503, Feder und Pinsel, laviert, Konturen mit Feder nachgezogen, über schwarzem Stift, auf Papier, 28,4 x 42,1 cm, heute Musée du Louvre, Paris142

Dass Engel fliegen können, macht sie auch zu Traum und Ideal des Menschen.

Fliegen zu können ist nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Engel ihren Dienst tun können. Flugfähigkeit ist für den vom Menschen ein bis heute unerreichtes Ideal. Thomas Macho hat nachdrücklich darauf hingewiesen: »So viele Programme zur Optimierung des Menschengeschlechts wurden inzwischen

erfolgreich abgeschlossen: Träume von beinah unbegrenztem Wissen, von beispielloser Macht, Träume vom verlängerten Leben, von der Möglichkeit einer radikalen Verjüngung, vom ›Schlaraffenland‹ und einer stets reichhaltig gedeckten Tafel, Träume von Schönheit, von kriegerischer Stärke, von märchenhaften

Bauwerken, die über Nacht errichtet werden können, Träume von Gesundheit, von gesteigerten Sinnes- und Körperleistungen, ja selbst von der genetischen Korrektur

142 Abb.: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/2270038a.jpg.

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aller potentiellen Krankheiten und Defizite […] Einzig und allein unser Flugtraum ist bis heute unerfüllt geblieben. Trotz Hubschraubern, Düsenjets oder Raketen hat sich die Sehnsucht erhalten, mit wenigen Flügelschlägen die platonische Definition des Menschen als des ›zweibeinigen ungefiederten Tiers‹ zu widerlegen. Wer fliegen will, träumt ebenso wenig von einem Airbus wie ein Taucher von einem Unterseeboot […]

Fliegen sollte […] stets, selbst um den Preis des möglichen Absturzes, bedeuten:

den Geist der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Erotik und einer (nicht immer frommen) Spiritualität. Wer fliegt, entflieht – und rebelliert gegen den Zwang zum Horizont, zur Schwerkraft, zur Erniedrigung, zum Boden.«143

Berühmt sind die Gedanken, die sich Leonardo da Vinci über das Fliegen und die menschlichen Möglichkeiten dazu gemacht hat. Mit ihm ist der Beginn einer weniger experimentellen als vielmehr wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Frage gemacht. Rund 160 Manuskriptseiten mit Notizen und Skizzen Leonardos zu Flug und Fliegen sind erhalten – abgeschrieben in Spiegelschrift, um den Verfasser vor der Inquisition zu schützen.

Abb. 5: Leonardo da Vinci, Entwurf einer Flugmaschine, um 1488, Feder und Tusche auf Papier 144

143 Macho 1997, S. 83f.

144 Abb.: http://www.drawingsofleonardo.org/images/fly3.jpg.

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Aus Leonardos umfassenden Untersuchungen und Überlegungen sind allerdings keine praktischen Versuche hervorgegangen. Paul Karlson formuliert 1937 in zeit- und ideologieentsprechendem Pathos über Leonardo als creator ex nihilo der Fluggeschichte: »Urplötzlich, aus dem Nebelmeer unbestimmten Dämmerns, tastender, phantastischer Vorstöße zu den Grenzgebieten zwischen Wissen und Hoffen und Traum, urplötzlich und ohne Vorläufer, erscheint klar und hart umrissen die Gestalt des großen italienischen Meisters. Mit einem Schlag, ohne das geringste Präludium, beginnt die Geschichte des Menschenflugs.«145 Das Vorwort zu Karlsons Buch verfasste übrigens Ernst Udet, Generalluftzeugmeister der Wehrmacht und Vorbild für Carl Zuckmayers General Harras, der Hauptfigur von ›Des Teufels General‹.

Leonardos zoologisches Studienobjekt bei seinen zeichnerischen Flugexperimenten waren wohlweislich nicht etwa Vögel, sondern Fledermäuse, die – während sie z. B.

in China für Glück und Gewinn stehen – im abendländischen Kontext häufig mit dem Teufel in Verbindung gebracht werden. Die Flügel teuflischer Wesen ähneln in bildkünstlerischen Darstellungen oft den Schwingen der Fledermäuse, während Engel eher vogelartige Flügel haben.146

Cees Nooteboom hat sich anhand einer vorgestellten Verkündigungsszenerie eingehend Gedanken darüber gemacht, von welchen akustischen Phänomenen der Engelflug begleitet sein könnte: »Stell dir nur einen Augenblick lang vor, du seist Maria. Mach aus dem bleischweren Marmor [der Flügel von Engelstatuen] getrost wieder Federn, auch dann ist es noch schlimm genug. Du sitzt ruhig in deinem Zimmer, nichts ahnend, das Magnifikat hat noch nicht begonnen, niemand hat dir etwas erzählt, und genau das wird dieser Engel jetzt tun, er ist der himmlische Bote, die Stratosphäre ist für ihn nicht mehr als eine Schwelle. Plötzlich hörst du das

Geräusch dieser Flügel, als setzte ein prähistorischer Vogel zur Landung an. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie das klingen muss? Man hört es schon, wenn eine Taube vorbeifliegt, und erst recht, wenn der Flügel hundertmal so groß ist.«147

145 Karlson 1937, S. 27; zitiert nach Adamowsky 2010, S. 201f.

146 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Fledermaus.

147 Nooteboom 2004, S. 21f.

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Flügel zu haben und fliegen zu können, können auch zwei voneinander getrennte Eigenschaften bzw. Fähigkeiten sein, auch für Engel. Inwieweit die Flügel per se die Engel zum Fliegen befähigen, hat Peter Härtling zugleich in Frage gestellt und

beantwortet: »Haben alle Engel Flügel? / frage ich / meinen Engel. / Ja, antwortet er.

/ Doch nicht alle / können fliegen. / Und wieso nicht, / frage ich. / Denk, dass ich / fliege, / bittet er.«148

148 Härtling/Rainer 1992, S. 23.

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