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Literarischer Humor – Provokation und „dichterische Einbildungskraft“

Im Dokument Literatur Kultur Verstehen (Seite 139-142)

Überlegungen anhand Siegfried Lenz‘ So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten

3. Zwanzig masurische Geschichten

3.2. Literarischer Humor – Provokation und „dichterische Einbildungskraft“

Es wäre unzureichend zu behaupten, dass der Humor in den Lenz‘schen Erzäh-lungen lediglich auf Ästhetisierung von masurischen Witzen beruht, denn dieser Humor funktioniert in einigen weiteren Dimensionen. Die von Lenz angewandte karikaturistische Darstellung der Gestalten5 hat nicht nur den Zweck, die eth-nische Gruppe der Masuren von anderen abzugrenzen. Sie dient der Differen-zierung der Charaktere, der Überzeichnung von gewissen Charakterzügen. Wir haben hier solche Figuren wie z. B. Adolf Abromeit, „der Zeit seines Lebens nicht mehr gezeigt hatte als zwei große rosa Ohren“ (Lenz 1989, 6); die Vet-tern des Erzählers namens Urmoneit, die folgendermaßen aussahen: „Es waren gutgewachsene, barfüßige Herren, beide waren knapp über die Vierzig, rochen angenehm, trugen einen neuen Haarschnitt und in der Hand einen Kadickstock“

5 Vor einem anderen theoretischen Hintergrund, hier der Semantic Script Theory of Hu-mor von Raskin und der Relevance Theory von Sperber / Wilson (die mittlerweile nicht nur in der linguistischen Pragmatik, sondern auch in vielen anderen Bereichen als hermeneutisch orientierte Kommunikationstheorie Anwendung findet), erklärt Cristi-na Larkin Galiñanes diesen ästhetischen Eingriff im Sinne eines „use of caricaturiza-tion“. Durch die karikaturistische Darstellung wird in den humoristischen Texten wie bei Witzen ein kontextueller Effekt erzielt, der dem Rezipienten Zugang zum parallel vorhandenen „script“ ermöglicht (bei Texten sind das die evozierten Annahmen über die verzeichneten Züge, bei Witzen die stereotypen Merkmale), was zur Entstehung der Inkongruenz beiträgt (vgl. Larkin Galiñanes 2005, 88).

(Lenz 1989, 36); den Schuster, Karl Kuckuck „ein schweigsames kleines Herr-chen mit Trichterbrust und ungleich langen Armen“ (Lenz 1989, 68).

Wie bereits erwähnt, sind diese überzeichneten Züge keineswegs typisch ma-surisch. Ihre Funktion in den humoristischen Erzählungen ist die Herstellung einer Spannung, die Provokation eines Konflikts. In Anlehnung an Friedrich Georg Jünger begreift Theo Elm die Komik als Provozierung der bestehenden Regel: Der „Unterlegene“, „der komische »Provokateur«“ fordert den überlege-nen „Gegner“ heraus (Elm 1973, 192). Als ein plausibles Beispiel und zugleich eine paradigmatische Anwendung des obigen Prinzips erscheint hier der bereits erwähnte Karl Kuckuck, ein kleines Herrchen, der ein Wettschwimmen gegen den Dorfathleten Valentin Zoppek gewinnt (Der rasende Schuster).

Jedoch, was auf der Handlungsebene paradigmatisch ist, findet auch auf der Beschreibungsebene, bei der bildhaften Darstellung der Figuren, statt. Paradig-matisch sind hier also im Sinne der bereits erwähnten Provokation auch „die rosa Ohren des Adolf Abromeit“ (Elm 1973, 192). Solche Ohren sind das Merk-mal einer Karikatur. Was bei einem Bild auf Anhieb sichtbar ist, ist in einem Text also auch möglich. Diese Ohren „wollen wie in einer Karikatur als willkürlich nebensächliche Details die Person vertreten. Die Ohren möchten es mit dem ganzen Abromeit aufnehmen“ (ebd.). Paradigmatisch sind die Vettern Urmoneit, die zwar gut rochen, aber nichts vorzuweisen hatten als „einen neuen Haarschnitt und in der Hand einen Kadick-Stock“ (ebd.). Paradigmatisch ist schließlich auch Karl Kuckuck, aber nicht weil er den Dorfathleten Zoppek herausfordert, son-dern weil er nur aus einer „Trichterbrust“ und „ungleich langen Armen“ besteht (ebd.). Im Falle des Letzteren wird die Provokation ins Extreme getrieben, z. B.

durch die Benutzung des Vergleichs „dünn [...] wie das Garn, das er zu ver-wenden pflegte“ und schließlich in der abwertenden Beschreibung: „Plötzlich sah die Gesellschaft gewissermaßen einen Körper und ein Stück Schusterschnur durch die Luft fliegen“ (Lenz 1989, 72).

Die meisten obigen Beispiele (Elm 1973, 192f.), aufgefasst als „Unlogik der Provokation“ bzw. „pervertierte Logik“ (Wagener 1979, 108), lassen sich als der

„Gegensatz von Schein und Sein“ darstellen, was in manchen poetologischen Auffassungen die Quintessenz des Humors ausmacht (Preisendanz 1976, 143).

Am deutlichsten wird dieses Prinzip bei Lenz durch die Tante Arafa veranschau-licht, vom Erzähler „Tantchen“ genannt, vom Besitzer des Gasthauses „die vor-nehme Dame“ tituliert. Ihr Äußeres wird folgendermaßen dargestellt: „Sie hatte ein großes, nickendes Gesicht, fleischige Kapitänshände und sanft gebogene Schultern. Während die Vettern versuchten, Tante Arafa herabzuziehen, knall-te sie einmal unwillig mit der Peitsche, warf die Lippen auf und sagknall-te mit der Stimme eines defekten Blasebalgs [...]“ (Lenz 1989, 36). Nicht anders verhält es sich, wenn die barfüßigen Plew und Jegelka mit dem höflichen „Herr“

angere-det werden (Lenz 1989, 50). Das gleiche Prinzip wird verfolgt, wenn Stanislaw Griegull als „ein ernsthafter Mensch mit langen, dünnen Beinen“ charakterisiert wird (Lenz 1989, 55).

Bevor man zum nächsten Aspekt des masurischen Humors, d. h. zu der spe-zifischen Sprache, übergeht, ist es lohnend, einen Exkurs über den Humor in der deutschen literarischen Tradition zu wagen. Zur Affinität gerade mit dieser Tradition bekennt sich Lenz selbst. Die Interpretation der Geschichten von Lenz aus der Perspektive dieser Tradition kann somit zu einem besseren Verständnis beitragen. Preisendanz betrachtet zahlreiche Beispiele der Prosa im 19. Jahrhun-dert unter dem Blickwinkel des Humors. Er lehnt dabei die Behauptung ab, dass die Literatur eine Form der Anwendung des Humors ist, der Gegenstand anderer Disziplinen sein sollte, hier z. B. der Philosophie. Nach seiner Auffassung ist der Humor nicht nur eine Substanz („ein Substrat“), sondern ein „plastisches Gesetz“, dem die „dichterische Einbildungskraft“ zugrunde liegt (Preisendanz 1976, 7).

Zu Recht bemerkt Theo Elm, dass Lenz den bereits von Jean Paul bevorzug-ten auktorialen Erzählstil verwendet, in dem sich der Erzähler unmittelbar an den Leser wendet.6 Bei Jean Paul, der als Meister des humoristischen Erzählens angesehen wird, klingt das folgendermaßen:

Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schanktisch mit dem Trinkwasser an unsere Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grande monde über der Gasse drüben und ans palais royal muß keiner von uns denken, bloß weil ich die ruhige Geschichte des vergnüg-ten Schulmeisterlein erzähle ... (Elm 1973, 201)

Ähnlich ist bei Lenz (wenn auch nicht so anachronistisch-blumenreich) die Art und Weise, sich an den Leser zu wenden. Dies kommt in zahlreichen rhetori-schen Fragen (an den fiktiven Leser) sowie in der Berücksichtigung der potenti-ellen Reaktionen des Lesers zum Ausdruck, z. B. „Wer da vorne saß“, „Muß ich noch viel mehr erzählen“, “man wird es schon gemerkt haben“, „wenn es erlaubt ist zu sagen“, „gleich wird gesagt, wann“.

Elm vertritt die Ansicht, dass es sich nicht um eine spezifische Erzähltra-dition handelt, sondern um ein Bündnis des Erzählers und des Lesers, um ein

„behaglich-warmherziges Schutzbündnis gegen die inhumane Außenwelt“

(ebd.), das eine versöhnlich-humane, dafür aber sozial-unkritische7 Dimension des schriftstellerischen Schaffens von Lenz widerspiegelt.

6 Paradoxerweise ist in dieser Erzähltechnik auch die „Manier des russischen Skaz“

erkennbar (Żytyniec 2007, 93).

7 So führt z. B. Theo Elm in einem anderen Aufsatz aus, dass für diese Schaffensphase von Lenz (nach dem Krieg bis zum Ende der 50er Jahre) generell eine Flucht vor der

3.3. Lachen im Dickicht der masurischen Mundart. Übersetzung als

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